The Project Gutenberg EBook of Menschliches, Allzumenschliches
by Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Title: Menschliches, Allzumenschliches

Author: Friedrich Wilhelm Nietzsche

Release Date: January, 2005  [EBook #7207]
[This file was first posted on March 26, 2003]

Edition: 10

Language: German

Character set encoding: ISO Latin-1

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, MENSCHLICHES, ALLZUMENSCHLICHES ***




This text has been derived from HTML files at "Projekt Gutenberg - DE"
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Menschliches, Allzumenschliches

Ein Buch f�r freie Geister

Friedrich Nietzsche




Inhalt

    An Stelle einer Vorrede
    Von den ersten und letzten Dingen
    Zur Geschichte der moralischen Empfindungen
    Das religi�se Leben
    Aus der Seele der K�nstler und Schriftsteller
    Anzeichen h�herer und niederer Cultur
    Der Mensch im Verkehr
    Weib und Kind
    Ein Blick auf den Staat
    Der Mensch mit sich allein
    Ein Nachspiel




Menschliches, Allzumenschliches.

Ein Buch f�r freie Geister

Erster Band




An Stelle einer Vorrede.

- eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Besch�ftigungen, denen
sich die Menschen in diesem Leben �berlassen und machte den Versuch,
die beste von ihnen auszuw�hlen. Aber es thut nicht noth, hier zu
erz�hlen, auf was f�r Gedanken ich dabei kam: genug, dass f�r meinen
Theil mir Nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem
Vorhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens
darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der
Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte,
nachzugehen. Denn die Fr�chte, welche ich auf diesem Wege schon
gekostet hatte, waren der Art, dass nach meinem Urtheile in diesem
Leben nichts Angenehmeres, nichts Unschuldigeres gefunden werden kann;
zudem liess mich jeder Tag, seit ich jene Art der Betrachtung zu
H�lfe nahm, etwas Neues entdecken, das immer von einigem Gewichte und
durchaus nicht allgemein bekannt war. Da wurde endlich meine Seele so
voll von Freudigkeit, dass alle �brigen Dinge ihr Nichts mehr anthun
konnten.

Aus dem Lateinischen des Cartesius.




Vorrede.

1.

Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedr�ckt
worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen
Schriften g�be, von der "Geburt der Trag�die" an bis zum letzthin
ver�ffentlichten "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie
enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze
f�r unvorsichtige V�gel und beinahe eine best�ndige unvermerkte
Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthsch�tzungen und gesch�tzter
Gewohnheiten. Wie? Alles nur - menschlich-allzumenschlich? Mit diesem
Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art
Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht �bel versucht
und ermuthigt, einmal den F�rsprecher der schlimmsten Dinge zu machen:
wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat
meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der
Verachtung, gl�cklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit.
In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals jemand mit einem
gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als
gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch
zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den
Folgen err�th, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den
Fr�sten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte
Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird
auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum
zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte - in
irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder
Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was
ich brauchte, es mir k�nstlich erzwingen, zurecht f�lschen, zurecht
dichten musste (- und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu
w�re alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am
n�thigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das
war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, -
ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und
Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit
zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergr�nden,
Oberfl�chen, Nahem, N�chstem, an Allem, was Farbe, Haut und
Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte
mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschm�nzerei vorr�cken
k�nnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die Augen vor
Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht h�tte, zu einer
Zeit, wo ich �ber Moral schon hellsichtig genug war; insgleichen dass
ich mich �ber Richard Wagner's unheilbare Romantik betrogen h�tte, wie
als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen �ber die
Griechen, insgleichen �ber die Deutschen und ihre Zukunft - und es
g�be vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen?
- gesetzt aber, dies Alles w�re wahr und mit gutem Grunde mir
vorger�ckt, was wisst ihr davon, was k�nntet ihr davon wissen, wie
viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und h�here Obhut
in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, - und wie viel Falschheit
mir noch noth hut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner
Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das Leben
ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will T�uschung, es
lebt von der T�uschung... aber nicht wahr? da beginne ich bereits
wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und
Vogelsteller - und rede unmoralisch, aussermoralisch, "jenseits von
Gut und B�se"? -


2.

- So habe ich denn einstmals, als ich es n�thig hatte, mir auch die
"freien Geister" erfunden, denen dieses schwerm�thig-muthige Buch mit
dem Titel "Menschliches, Allzumenschliches" gewidmet ist: dergleichen
"freie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, - aber ich hatte sie
damals, wie gesagt, zur Gesellschaft n�thig, um guter Dinge zu bleiben
inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia,
Unth�tigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man
schw�tzt und lacht, wenn man Lust hat zu schw�tzen und zu lachen, und
die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, - als ein
Schadenersatz f�r mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister
einmal geben k�nnte, dass unser Europa unter seinen S�hnen von Morgen
und Uebermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird,
leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als
Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran m�chte ich am wenigsten
zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und
vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich
zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf
welchen Wegen ich sie kommen sehe? -


3.

Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus "freier Geist"
einmal bis zur Vollkommenheit reif und s�ss werden soll, sein
entscheidendes Ereigniss in einer grossen Losl�sung gehabt hat, und
dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und f�r immer an
seine Ecke und S�ule gefesselt schien. Was bindet am festesten? welche
Stricke sind beinahe unzerreissbar? Bei Menschen einer hohen und
ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie
der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und
W�rdigen, jene Dankbarkeit f�r den Boden, aus dem sie wuchsen, f�r
die Hand, die sie f�hrte, f�r das Heiligthum, wo sie anbeten lernten,
- ihre h�chsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden,
am dauerndsten verpflichten. Die grosse Losl�sung kommt f�r
solchermaassen Gebundene pl�tzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele
wird mit Einem Male ersch�ttert, losgerissen, herausgerissen, - sie
selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang
waltet und wird �ber sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch
erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige
gef�hrliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert
in allen ihren Sinnen. "Lieber sterben als hier leben" - so klingt die
gebieterische Stimme und Verf�hrung: und dies "hier", dies "zu Hause"
ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein pl�tzlicher Schrecken
und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen
Das, was ihr "Pflicht" hiess, ein aufr�hrerisches, willk�rliches,
vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde,
Entfremdung, Erk�ltung, Ern�chterung, Vereisung, ein Hass auf die
Liebe, vielleicht ein tempelsch�nderischer Griff und Blick r�ckw�rts,
dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth
der Scham �ber Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich,
dass sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern,
in dem sich ein Sieg verr�th - ein Sieg? �ber was? �ber wen? ein
r�thselhafter fragenreicher fragw�rdiger Sieg, aber der erste Sieg
immerhin: - dergleichen Schlimmes und Schmerzliches geh�rt zur
Geschichte der grossen Losl�sung. Sie ist eine Krankheit zugleich,
die den Menschen zerst�ren kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und
Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum
freien Willen: und wie viel Krankheit dr�ckt sich an den wilden
Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgel�ste
sich nunmehr seine Herrschaft �ber die Dinge zu beweisen sucht! Er
schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten L�sternheit; was er
erbeutet, muss die gef�hrliche Spannung seines Stolzes abb�ssen; er
zerreisst, was ihn reizt. Mit einem b�sen Lachen dreht er um, was er
verh�llt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie
diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt. Es ist Willk�r und Lust an
der Willk�r darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet,
was bisher in schlechtem Rufe stand, - wenn er neugierig und
versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines
Treibens und Schweifens - denn er ist unruhig und ziellos unterwegs
wie in einer W�ste - steht das Fragezeichen einer immer gef�hrlicheren
Neugierde. "Kann man nicht alle Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht
B�se? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels? Ist Alles
vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind
wir nicht eben dadurch auch Betr�ger? m�ssen wir nicht auch Betr�ger
sein?" - solche Gedanken f�hren und verf�hren ihn, immer weiter fort,
immer weiter ab. Die Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer
drohender, w�rgender, herzzuschn�render, jene furchtbare G�ttin und
mater saeva cupidinum - aber wer weiss es heute, was Einsamkeit
ist?...


4.

Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der W�ste solcher
Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren
�berstr�menden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit
selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der
Erkenntniss, bis zu jener reifen Freiheit des Geistes, welche
ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege
zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt -, bis zu jener
inneren Umf�nglichkeit und Verw�hnung des Ueberreichthums, welche die
Gefahr ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen
Wege verl�re und verliebte und in irgend einem Winkel berauscht
sitzen bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, ausheilenden,
nachbildenden und wiederherstellenden Kr�ften, welcher eben das
Zeichen der grossen Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien
Geiste das gef�hrliche Vorrecht giebt, auf den Versuch hin leben und
sich dem Abenteuer anbieten zu d�rfen: das Meisterschafts-Vorrecht
des freien Geistes! Dazwischen m�gen lange Jahre der Genesung
liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen,
beherrscht und am Z�gel gef�hrt durch einen z�hen Willen zur
Gesundheit, der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu
verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein
Mensch solchen Schicksals sp�ter nicht ohne R�hrung eingedenk ist: ein
blasses feines Licht und Sonnengl�ck ist ihm zu eigen, ein Gef�hl von
Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes, in dem
sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein "freier Geist"
- dies k�hle Wort thut in jenem Zustande wohl, es w�rmt beinahe. Man
lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne ja, ohne
Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschl�pfend,
ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor fliegend; man ist
verw�hnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei unter sich
gesehn hat, - und man ward zum Gegenst�ck Derer, welche sich um Dinge
bek�mmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen
nunmehr lauter Dinge an - und wie viele Dinge! - welche ihn nicht mehr
bek�mmern...


5.

Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist n�hert
sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widersp�nstig, fast
misstrauisch. Es wird wieder w�rmer um ihn, gelber gleichsam; Gef�hl
und Mitgef�hl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen �ber ihn weg.
Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen f�r das Nahe
aufgiengen. Er ist verwundert und sitzt stille: wo war er doch?
Diese nahen und n�chsten Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt!
welchen Flaum und Zauber haben sie inzwischen bekommen! Er blickt
dankbar zur�ck, - dankbar seiner Wanderschaft, seiner H�rte und
Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und Vogelfl�gen in kalte H�hen.
Wie gut, dass er nicht wie ein z�rtlicher dumpfer Eckensteher immer
"zu Hause", immer "bei sich" geblieben ist! er war ausser sich: es
ist kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst -, und welche
Ueberraschungen findet er dabei! Welche unerprobten Schauder! Welches
Gl�ck noch in der M�digkeit, der alten Krankheit, den R�ckf�llen des
Genesenden! Wie es ihm gef�llt, leidend stillzusitzen, Geduld zu
spinnen, in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich ihm auf
das Gl�ck im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer! Es sind die
dankbarsten Thiere von der Welt, auch die bescheidensten, diese dem
Leben wieder halb zugewendeten Genesenden und Eidechsen: - es giebt
solche unter ihnen, die keinen Tag von sich lassen, ohne ihm ein
kleines Loblied an den nachschleppenden Saum zu h�ngen. Und ernstlich
geredet: es ist eine gr�ndliche Kur gegen allen Pessimismus (den
Krebsschaden alter Idealisten und L�genbolde, wie bekannt -) auf die
Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank
zu bleiben und dann, noch l�nger, noch l�nger, gesund, ich meine
"ges�nder" zu werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die
Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen.


6.

Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den pl�tzlichen Lichtern
einer noch ungest�men, noch wechselnden Gesundheit, dass dem freien,
immer freieren Geiste sich das R�thsel jener grossen Losl�sung zu
entschleiern beginnt, welches bis dahin dunkel, fragw�rdig, fast
unber�hrbar in seinem Ged�chtniss gewartet hatte. Wenn er sich lange
kaum zu fragen wagte "warum so abseits? so allein? Allem entsagend,
was ich verehrte? der Verehrung selbst entsagend? warum diese H�rte,
dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden?" - jetzt wagt
und fragt er es laut und h�rt auch schon etwas wie Antwort darauf. "Du
solltest Herr �ber dich werden, Herr auch �ber die eigenen Tugenden.
Fr�her waren sie deine Herren; aber sie d�rfen nur deine Werkzeuge
neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt �ber dein F�r
und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder
einzuh�ngen, je nach deinem h�heren Zwecke. Du solltest das
Perspektivische in jeder Werthsch�tzung begreifen lernen - die
Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und
was Alles zum Perspektivischen geh�rt; auch das St�ck Dummheit in
Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle
Einbusse, mit der sich jedes F�r, jedes Wider bezahlt macht. Du
solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem F�r und Wider
begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unabl�sbar vom Leben,
das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine
Ungerechtigkeit. Du solltest vor Allem mit Augen sehn, wo die
Ungerechtigkeit immer am gr�ssten ist: dort n�mlich, wo das Leben am
kleinsten, engsten, d�rftigsten, anf�nglichsten entwickelt ist und
dennoch nicht umhin kann, sich als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen
und seiner Erhaltung zu Liebe das H�here, Gr�ssere, Reichere heimlich
und kleinlich und unabl�ssig anzubr�ckeln und in Frage zu stellen, -
du solltest das Problem der Rangordnung mit Augen sehn und wie Macht
und Recht und Umf�nglichkeit der Perspektive mit einander in die H�he
wachsen. Du solltest" - genug, der freie Geist weiss nunmehr, welchem
"du sollst" er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er jetzt
erst - darf...


7.

Dergestalt giebt der freie Geist sich in Bezug auf jenes R�thsel
von Losl�sung Antwort und endet damit, indem er seinen Fall
verallgemeinert, sich �ber sein Erlebniss also zu entscheiden. "Wie es
mir ergieng, sagt er sich, muss es jedem ergehn, in dem eine Aufgabe
leibhaft werden und `zur Welt kommen` will." Die heimliche Gewalt
und Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen einzelnen
Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, - lange,
bevor er diese Aufgabe selbst in's Auge gefasst hat und ihren Namen
weiss. Unsre Bestimmung verf�gt �ber uns, auch wenn wir sie noch nicht
kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt. Gesetzt,
dass es das Problem der Rangordnung ist, von dem wir sagen d�rfen,
dass es unser Problem ist, wir freien Geister: jetzt, in dem Mittage
unsres Lebens, verstehn wir es erst, was f�r Vorbereitungen, Umwege,
Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem n�thig hatte, ehe
es vor uns aufsteigen durfte, und wie wir erst die vielfachsten und
widersprechendsten Noth- und Gl�cksst�nde an Seele und Leib erfahren
mussten, als Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die
"Mensch" heisst, als Ausmesser jedes "H�her" und "Uebereinander", das
gleichfalls "Mensch" heisst - �berallhin dringend, fast ohne Furcht,
nichts verschm�hend, nichts verlierend, alles auskostend, alles vom
Zuf�lligen reinigend und gleichsam aussiebend - bis wir endlich sagen
durften, wir freien Geister: "Hier - ein neues Problem! Hier eine
lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen
sind, - die wir selbst irgend wann gewesen sind! Hier ein H�her, ein
Tiefer, ein Unter-uns, eine ungeheure lange Ordnung, eine Rangordnung,
die wir sehen hier - unser Problem!" -


8.

- Es wird keinem Psychologen und Zeichendeuter einen Augenblick
verborgen bleiben, an welche Stelle der eben geschilderten Entwicklung
das vorliegende Buch geh�rt (oder gestellt ist -). Aber wo giebt es
heute Psychologen? In Frankreich, gewiss; vielleicht in Russland;
sicherlich nicht in Deutschland. Es fehlt nicht an Gr�nden, weshalb
sich dies die heutigen Deutschen sogar noch zur Ehre anrechnen
k�nnten: schlimm genug f�r Einen, der in diesem St�cke undeutsch
geartet und gerathen ist! Dies deutsche Buch, welches in einem weiten
Umkreis von L�ndern und V�lkern seine Leser zu finden gewusst hat - es
ist ungef�hr zehn Jahr unterwegs - und sich auf irgend welche Musik
und Fl�tenkunst verstehn muss, durch die auch spr�de Ausl�nder-Ohren
zum Horchen verf�hrt werden, - gerade in Deutschland ist dies Buch am
nachl�ssigsten gelesen, am schlechtesten geh�rt worden: woran liegt
das? - "Es verlangt zu viel, hat man mir geantwortet, es wendet sich
an Menschen ohne die Drangsal grober Pflichten, es will feine und
verw�hnte Sinne, es hat Ueberfluss n�thig, Ueberfluss an Zeit, an
Helligkeit des Himmels und Herzens, an otium im verwegensten Sinne: -
lauter gute Dinge, die wir Deutschen von Heute nicht haben und also
auch nicht geben k�nnen." - Nach einer so artigen Antwort r�th mir
meine Philosophie, zu schweigen und nicht mehr weiter zu fragen; zumal
man in gewissen F�llen, wie das Spr�chwort andeutet, nur dadurch
Philosoph bleibt, dass man - schweigt.

Nizza, im Fr�hling 1886.




Erstes Hauptst�ck.

Von den ersten und letzten Dingen.

1.

Chemie der Begriffe und Empfindungen. - Die Philosophischen Probleme
nehmen jetzt wieder fast in allen St�cken dieselbe Form der Frage
an, wie vor zweitausend Jahren.- wie kann Etwas aus seinem Gegensatz
entstehen, zum Beispiel Vern�nftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes
aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus
begehrlichem Wollen, Leben f�r Andere aus Egoismus, Wahrheit aus
Irrth�mern? Die metaphysische Philosophie half sich bisher �ber diese
Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus
dem Andern leugnete und f�r die h�her gewertheten Dinge einen
Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des "Dinges
an sich" heraus. Die historische Philosophie dagegen, welche gar
nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist, die
allerj�ngste aller philosophischen Methoden, ermittelte in einzelnen
F�llen (und vermuthlich wird diess in allen ihr Ergebniss sein), dass
es keine Gegens�tze sind, ausser in der gewohnten Uebertreibung der
popul�ren oder metaphysischen Auffassung und dass ein Irrthum der
Vernunft dieser Gegen�berstellung zu Grunde liegt: nach ihrer
Erkl�rung giebt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln,
noch ein v�llig interesseloses Anschauen, es sind beides nur
Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast verfl�chtigt erscheint
und nur noch f�r die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist.
- Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenw�rtigen H�he der
einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der
moralischen, religi�sen, �sthetischen Vorstellungen und Empfindungen,
ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der
Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben: wie,
wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschl�sse, dass auch auf diesem
Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen
gewonnen sind? Werden Viele Lust haben, solchen Untersuchungen zu
folgen? Die Menschheit liebt es, die Fragen �ber Herkunft und Anf�nge
sich aus dem Sinn zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um
den entgegengesetzten Hang in sich zu sp�ren? -


2.

Erbfehler der Philosophen. - Alle Philosophen haben den gemeinsamen
Fehler an sich, dass sie vom gegenw�rtigen Menschen ausgehen und durch
eine Analyse desselben an's Ziel zu kommen meinen. Unwillk�rlich
schwebt ihnen "der Mensch" als eine aeterna veritas, als ein
Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge
vor. Alles, was der Philosoph �ber den Menschen aussagt, ist aber
im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss �ber den Menschen eines sehr
beschr�nkten Zeitraumes. Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler
aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerj�ngste
Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter
Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als
die feste Form, von der man ausgehen m�sse. Sie wollen nicht lernen,
dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissverm�gen
geworden ist; w�hrend Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus
diesem Erkenntnissverm�gen sich herausspinnen lassen. - Nun ist
alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich
gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungef�hr
kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr ver�ndert haben.
Da sieht aber der Philosoph "Instincte" am gegenw�rtigen Menschen und
nimmt an, dass diese zu den unver�nderlichen Thatsachen des Menschen
geh�ren und insofern einen Sch�ssel zum Verst�ndniss der Welt
�berhaupt abgeben k�nnen; die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass
man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem ewigen
redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine
nat�rliche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es giebt keine
ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. -
Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab n�thig und mit
ihm die Tugend der Bescheidung.


3.

Sch�tzung der unscheinbaren Wahrheiten. - Es ist das Merkmal einer
h�hern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit
strenger Methode gefunden wurden, h�her zu sch�tzen, als die
begl�ckenden und blendenden Irrth�mer, welche metaphysischen und
k�nstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen. Zun�chst hat man
gegen erstere den Hohn auf den Lippen, als k�nne hier gar nichts
Gleichberechtigtes gegen einander stehen: so bescheiden, schlicht,
n�chtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese, so sch�n, prunkend,
berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber das m�hsam
Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb f�r jede weitere Erkenntniss
noch Folgenreiche ist doch das H�here, zu ihm sich zu halten ist
m�nnlich und zeigt Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit an.
Allm�hlich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte
Menschheit zu dieser M�nnlichkeit emporgehoben werden, wenn sie
sich endlich an die h�here Sch�tzung der haltbaren, dauerhaften
Erkenntnisse gew�hnt und allen Glauben an Inspiration und
wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat. - Die Verehrer
der Formen freilich, mit ihrem Maassstabe des Sch�nen und Erhabenen,
werden zun�chst gute Gr�nde zu spotten haben, sobald die Sch�tzung der
unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche Geist anf�ngt zur
Herrschaft zu kommen: aber nur weil entweder ihr Auge sich noch nicht
dem Reiz der schlichtesten Form erschlossen hat oder weil die in jenem
Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht v�llig und innerlich von
ihm durchdrungen sind, so dass sie immer noch gedankenlos alte Formen
nachmachen (und diess schlecht genug, wie es jemand thut, dem nicht
mehr viel an einer Sache liegt). Ehemals war der Geist nicht durch
strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen
von Symbolen und Formen. Das hat sich ver�ndert; jener Ernst des
Symbolischen ist zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden; wie
unsere K�nste selber immer intellectualer, unsere Sinne geistiger
werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders dar�ber urtheilt,
was sinnlich wohlt�nend ist, als vor hundert Jahren: so werden auch
die Formen unseres Lebens immer geistiger, f�r das Auge �lterer Zeiten
vielleicht h�sslicher, aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das
Reich der inneren, geistigen Sch�nheit sich fortw�hrend vertieft und
erweitert und in wie fern uns Allen der geistreiche Blick jetzt mehr
gelten darf, als der sch�nste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk.


4.

Astrologie und Verwandtes. - Es ist wahrscheinlich, dass die Objecte
des religi�sen, moralischen und �sthetischen Empfindens ebenfalls nur
zur Oberfl�che der Dinge geh�ren, w�hrend der Mensch gerne glaubt,
dass er hier wenigstens an das Herz der Welt r�hre; er t�uscht sich,
weil jene Dinge ihn so tief beseligen und so tief ungl�cklich machen,
und zeigt also hier denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese
meint, der Sternenhimmel drehte sich um das Loos des Menschen; der
moralische Mensch aber setzt voraus, Das, was ihm wesentlich am Herzen
liege, m�sse auch Wesen und Herz der Dinge sein.


5.

Missverst�ndniss des Traumes. - Im Traume glaubte der Mensch in den
Zeitaltern roher uranf�nglicher Cultur eine zweite reale Welt kennen
zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum
h�tte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch
die Zerlegung in Seele und Leib h�ngt mit der �ltesten Auffassung des
Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes, also
die Herkunft alles Geisterglaubens, und wahrscheinlich auch des
G�tterglaubens. "Der Todte lebt fort; denn er erscheint dem Lebenden
im Traume": so schloss man ehedem, durch viele Jahrtausende hindurch.


6.

Der Geist der Wissenschaft im Theil, nicht im Ganzen m�chtig. - Die
abgetrennten kleinsten Gebiete der Wissenschaft werden rein sachlich
behandelt: die allgemeinen grossen Wissenschaften dagegen legen, als
Ganzes betrachtet, die Frage - eine recht unsachliche Frage freilich
- auf die Lippen: wozu? zu welchem Nutzen? Wegen dieser R�cksicht auf
den Nutzen werden sie, als Ganzes, weniger unpers�nlich, als in ihren
Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei der Spitze
der gesammten Wissenspyramide, wird unwillk�rlich die Frage nach dem
Nutzen der Erkenntniss �berhaupt aufgeworfen, und jede Philosophie hat
unbewusst die Absicht, ihr den h�chsten Nutzen zuzuschreiben. Desshalb
giebt es in allen Philosophien so viel hochfliegende Metaphysik und
eine solche Scheu vor den unbedeutend erscheinenden L�sungen der
Physik; denn die Bedeutsamkeit der Erkenntniss f�r das Leben soll
so gross als m�glich erscheinen. Hier ist der Antagonismus zwischen
den wissenschaftlichen Einzelgebieten und der Philosophie. Letztere
will, was die Kunst will, dem Leben und Handeln m�glichste Tiefe und
Bedeutung geben; in ersteren sucht man Erkenntniss und Nichts weiter,
- was dabei auch herauskomme. Es hat bis jetzt noch keinen Philosophen
gegeben, unter dessen H�nden die Philosophie nicht zu einer Apologie
der Erkenntniss geworden w�re; in diesem Puncte wenigstens ist ein
jeder Optimist, dass dieser die h�chste N�tzlichkeit zugesprochen
werden m�sse. Sie alle werden von der Logik tyrannisirt: und diese ist
ihrem Wesen nach Optimismus.


7.

Der St�renfried in der Wissenschaft. Die Philosophie schied sich von
der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: welches ist diejenige
Erkenntniss der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am
gl�cklichsten lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen:
durch den Gesichtspunct des Gl�cks unterband man die Blutadern der
wissenschaftlichen Forschung - und thut es heute noch.


8.

Pneumatische Erkl�rung der Natur. - Die Metaphysik erkl�rt die Schrift
der Natur gleichsam pneumatisch, wie die Kirche und ihre Gelehrten es
ehemals mit der Bibel thaten. Es geh�rt sehr viel Verstand dazu, um
auf die Natur die selbe Art der strengeren Erkl�rungskunst anzuwenden,
wie jetzt die -Philologen sie f�r alle B�cher geschaffen haben: mit
der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber
nicht einen doppelten Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen. Wie aber
selbst in Betreff der B�cher die schlechte Erkl�rungskunst keineswegs
v�llig �berwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft
noch fortw�hrend auf Ueberreste allegorischer und mystischer
Ausdeutung st�sst: so steht es auch in Betreff der Natur - ja noch
viel schlimmer.


9.

Metaphysische Welt. - Es ist wahr, es k�nnte eine metaphysische Welt
geben; die absolute M�glichkeit davon ist kaum zu bek�mpfen. Wir sehen
alle Dinge durch den Menschenkopf an und k�nnen diesen Kopf nicht
abschneiden; w�hrend doch die Frage �brig bleibt, was von der Welt
noch da w�re, wenn man ihn doch abgeschnitten h�tte. Diess ist ein
rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen
Sorgen zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen
werthvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat,
ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten
Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben
lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen
Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt.
Dann bleibt immer noch jene M�glichkeit �brig; aber mit ihr kann man
gar Nichts anfangen, geschweige denn, dass man Gl�ck, Heil und Leben
von den Spinnenf�den einer solchen M�glichkeit abh�ngen lassen d�rfte.
- Denn man k�nnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als
ein Anderssein, ein uns unzug�ngliches, unbegreifliches Anderssein; es
w�re ein Ding mit negativen Eigenschaften. - W�re die Existenz einer
solchen Welt noch so gut bewiesen, so st�nde doch fest, dass die
gleichg�ltigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss w�re: noch
gleichg�ltiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von
der chemischen Analysis des Wassers sein muss.


10.

Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zukunft. - Sobald die Religion,
Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man
sie vollst�ndig sich erkl�ren kann, ohne zur Annahme metaphysischer
Eingriffe am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu nehmen,
h�rt das st�rkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom
"Ding an sich" und der "Erscheinung" auf. Denn wie es hier auch stehe:
mit Religion, Kunst und Moral r�hren wir nicht an das "Wesen der Welt
an sich"; wir sind im Bereiche der Vorstellung, keine "Ahnung" kann
uns weitertragen. Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser
Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt
unterscheiden k�nne, der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte
der Organismen und Begriffe �berlassen.


11.

Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft. - Die Bedeutung der
Sprache f�r die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der
Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen
er f�r so fest hielt, um von ihm aus die �brige Welt aus den Angeln
zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch
an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch
lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz
angeeignet, mit dem er sich �ber das Thier erhob: er meinte wirklich
in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner
war nicht so bescheiden, zu glauben, dass er den Dingen eben nur
Bezeichnungen gebe, er dr�ckte vielmehr, wie er w�hnte, das h�chste
Wissen �ber die Dinge mit den Worten aus; in der That ist die Sprache
die erste Stufe der Bem�hung um die Wissenschaft. Der Glaube an
die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die m�chtigsten
Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachtr�glich -jetzt erst - d�mmert
es den Menschen auf, dass sie einen ungeheuren Irrthum in ihrem
Glauben an die Sprache propagirt haben. Gl�cklicherweise ist es zu
sp�t, als dass es die Entwickelung der Vernunft, die auf jenem Glauben
beruht, wieder r�ckg�ngig machen k�nnte. - Auch die Logik beruht auf
Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht,
z.B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identit�t
des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit: aber jene
Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es
dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es
mit der Mathematik, welche gewiss nicht entstanden w�re, wenn man
von Anfang an gewusst h�tte, dass es in der Natur keine exact gerade
Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Gr�ssenmaass gebe.


12.

Traum und Cultur.- Die Gehirnfunction, welche durch den Schlaf am
meisten beeintr�chtigt wird, ist das Ged�chtniss: nicht dass es
ganz pausirte, - aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit
zur�ckgebracht, wie es in Urzeiten der Menschheit bei jedermann am
Tage und im Wachen gewesen sein mag. Willk�rlich und verworren, wie es
ist, verwechselt es fortw�hrend die Dinge auf Grund der fl�chtigsten
Aehnlichkeiten: aber mit der selben Willk�r und Verworrenheit
dichteten die V�lker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende
zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit neigt, wie
sein Geist nach kurzer Anspannung des Ged�chtnisses hin und her zu
taumeln beginnt und er, aus blosser Erschlaffung, L�gen und Unsinn
hervorbringt. Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden; das
schlechte Wiedererkennen und irrth�mliche Gleichsetzen ist der Grund
des schlechten Schliessens, dessen wir uns im Traume schuldig machen:
so dass wir, bei deutlicher Vergegenw�rtigung eines Traumes, vor
uns erschrecken, weil wir so viel Narrheit in uns bergen. - Die
vollkommene Deutlichkeit aller Traum-Vorstellungen, welche den
unbedingten Glauben an ihre Realit�t zur Voraussetzung hat, erinnert
uns wieder an Zust�nde fr�herer Menschheit, in der die Hallucination
ausserordentlich h�ufig war und mitunter ganze Gemeinden, ganze V�lker
gleichzeitig ergriff. Also: im Schlaf und Traum machen wir das Pensum
fr�heren Menschenthums noch einmal durch.


13.

Logik des Traumes. - Im Schlafe ist fortw�hrend unser Nervensystem
durch mannichfache innere Anl�sse in Erregung, fast alle Organe
secerniren und sind in Th�tigkeit, das Blut macht seinen ungest�men
Kreislauf, die Lage des Schlafenden dr�ckt einzelne Glieder, seine
Decken beeinflussen die Empfindung verschiedenartig, der Magen verdaut
und beunruhigt mit seinen Bewegungen andere Organe, die Ged�rme winden
sich, die Stellung des Kopfes bringt ungew�hnliche Muskellagen mit
sich, die F�sse, unbeschuht, nicht mit den Sohlen den Boden dr�ckend,
verursachen das Gef�hl des Ungew�hnlichen ebenso wie die andersartige
Bekleidung des ganzen K�rpers, - alles diess nach seinem t�glichen
Wechsel und Grade erregt durch seine Aussergew�hnlichkeit das gesammte
System bis in die Gehirnfunction hinein: und so giebt es hundert
Anl�sse f�r den Geist, um sich zu verwundern und nach Gr�nden dieser
Erregung zu suchen: der Traum aber ist das Suchen und Vorstellen der
Ursachen f�r jene erregten Empfindungen, das heisst der vermeintlichen
Ursachen. Wer zum Beispiel seine F�sse mit zwei Riemen umg�rtet,
tr�umt wohl, dass zwei Schlangen seine F�sse umringeln: diess ist
zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleitenden
bildlichen Vorstellung und Ausdichtung: "diese Schlangen m�ssen die
causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende, habe", -
so urtheilt der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene n�chste
Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart. So
weiss jeder aus Erfahrung, wie schnell der Tr�umende einen starken
an ihn dringenden Ton, zum Beispiel Glockenl�uten, Kanonensch�sse in
seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm hinterdrein erkl�rt, so
dass er zuerst die veranlassenden Umst�nde, dann jenen Ton zu erleben
meint. - Wie kommt es aber, dass der Geist des Tr�umenden immer so
fehl greift, w�hrend der selbe Geist im Wachen so n�chtern, behutsam
und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt? so dass ihm
die erste beste Hypothese zur Erkl�rung eines Gef�hls gen�gt, um
sofort an ihre Wahrheit zu glauben? (denn wir glauben im Traume an den
Traum, als sei er Realit�t, das heisst wir halten unsre Hypothese f�r
v�llig erwiesen). - Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume
schliesst, so schloss die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende
hindurch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas,
das der Erkl�rung bedurfte, zu erkl�ren, gen�gte ihm und galt als
Wahrheit. (So verfahren nach den Erz�hlungen der Reisenden die Wilden
heute noch.) Im Traum �bt sich dieses uralte St�ck Menschenthum in
uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die h�here Vernunft sich
entwickelte und in jedem Menschen sich noch entwickelt: der Traum
bringt uns in ferne Zust�nde der menschlichen Cultur wieder zur�ck und
giebt ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen. Das Traumdenken
wird uns jetzt so leicht, weil wir in ungeheuren Entwickelungsstrecken
der Menschheit gerade auf diese Form des phantastischen und wohlfeilen
Erkl�rens aus dem ersten beliebigen Einfalle heraus so gut eingedrillt
worden sind. Insofern ist der Traum eine Erholung f�r das Gehirn,
welches am Tage den strengeren Anforderungen an das Denken zu
gen�gen hat, wie sie von der h�heren Cultur gestellt werden. - Einen
verwandten Vorgang k�nnen wir geradezu als Pforte und Vorhalle des
Traumes noch bei wachem Verstande in Augenschein nehmen. Schliessen
wir die Augen, so producirt das Gehirn eine Menge von Lichteindr�cken
und Farben, wahrscheinlich als eine Art Nachspiel und Echo aller
jener Lichtwirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen. Nun
verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im Bunde) diese an
sich formlosen Farbenspiele sofort zu bestimmten Figuren, Gestalten,
Landschaften, belebten Gruppen. Der eigentliche Vorgang dabei ist
wiederum eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache; indem
der Geist fragt: woher diese Lichteindr�cke und Farben, supponirt
er als Ursachen jene Figuren, Gestalten: sie gelten ihm als die
Veranlassungen jener Farben und Lichter, weil er, am Tage, bei
offenen Augen, gewohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindrucke eine
veranlassende Ursache zu finden. Hier also schiebt ihm die Phantasie
fortw�hrend Bilder vor, indem sie an die Gesichtseindr�cke des
Tages sich in ihrer Production anlehnt, und gerade so macht es die
Traumphantasie: - das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der
Wirkung erschlossen und nach der Wirkung vorgestellt: alles diess mit
ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler
eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich
wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander
ausnehmen kann. - Wir k�nnen aus diesen Vorg�ngen entnehmen, wie
sp�t das sch�rfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache
und Wirkung, entwickelt worden ist, wenn unsere Vernunft- und
Verstandesfunctionen jetzt noch unwillk�rlich nach jenen primitiven
Formen des Schliessens zur�ckgreifen und wir ziemlich die H�lfte
unseres Lebens in diesem Zustande leben. - Auch der Dichter, der
K�nstler schiebt seinen Stimmungen und Zust�nden Ursachen unter,
welche durchaus nicht die wahren sind; er erinnert insofern an �lteres
Menschenthum und kann uns zum Verst�ndnisse desselben verhelfen.


14.

Miterklingen. - Alle st�rkeren Stimmungen bringen ein Miterklingen
verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie w�hlen gleichsam
das Ged�chtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird
sich �hnlicher Zust�nde und deren Herkunft bewusst. So bilden sich
angew�hnte rasche Verbindungen von Gef�hlen und Gedanken, welche
zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal
mehr als Complexe, sondern als Einheiten empfunden werden. In diesem
Sinne redet man vom moralischen Gef�hle, vom religi�sen Gef�hle, wie
als ob diess lauter Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Str�me mit
hundert Quellen und Zufl�ssen. Auch hier, wie so oft, verb�rgt die
Einheit des Wortes Nichts f�r die Einheit der Sache.


15.

Kein Innen und Aussen in der Welt. - Wie Demokrit die Begriffe Oben
und Unten auf den unendlichen Raum �bertrug, wo sie keinen Sinn haben,
so die Philosophen �berhaupt den Begriff "Innen und Aussen" auf Wesen
und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit tiefen Gef�hlen komme man
tief in's Innere, nahe man sich dem Herzen der Natur. Aber diese
Gef�hle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse
complicirte Gedankengruppen regelm�ssig erregt werden, welche wir tief
nennen; ein Gef�hl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken f�r
tief halten. Aber der tiefe Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr
fern sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom
tiefen Gef�hle die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das
starke Gef�hl �brig, und dieses verb�rgt Nichts f�r die Erkenntniss,
als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine St�rke, nicht
die Wahrheit des Geglaubten beweist.


16.

Erscheinung und Ding an sich. - Die Philosophen pflegen sich vor das
Leben und die Erfahrung - vor Das, was sie die Welt der Erscheinung
nennen - wie vor ein Gem�lde hinzustellen, das ein f�r alle Mal
entrollt ist und unver�nderlich fest den selben Vorgang zeigt: diesen
Vorgang, meinen sie, m�sse man richtig ausdeuten, um damit einen
Schluss auf das Wesen zu machen, welches das Gem�lde hervorgebracht
habe: also auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund
der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen haben
strengere Logiker, nachdem sie den Begriff des Metaphysischen scharf
als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt
hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der
metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede gestellt:
so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich
erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von
beiden Seiten ist aber die M�glichkeit �bersehen, dass jenes Gem�lde
- Das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst - allm�hlich
geworden ist, ja noch v�llig im Werden ist und desshalb nicht als
feste Gr�sse betrachtet werden soll, von welcher aus man einen Schluss
�ber den Urheber (den zureichenden Grund) machen oder auch nur
ablehnen d�rfte. Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden mit moralischen,
�sthetischen, religi�sen Anspr�chen, mit blinder Neigung, Leidenschaft
oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten des
unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt
allm�hlich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll
geworden, sie hat Farbe bekommen, - aber wir sind die Coloristen
gewesen: der menschliche Intellect hat die Erscheinung erscheinen
lassen und seine irrth�mlichen Grundauffassungen in die Dinge
hineingetragen. Sp�t, sehr sp�t - besinnt er sich: und jetzt scheinen
ihm die Welt der Erfahrung und das Ding an sich so ausserordentlich
verschieden und getrennt, dass er den Schluss von jener auf dieses
ablehnt - oder auf eine schauerlich geheimnissvolle Weise zum Aufgeben
unsers Intellectes, unsers pers�nlichen Willens auffordert: um dadurch
zum Wesenhaften zu kommen, dass man wesenhaft werde. Wiederum haben
Andere alle charakteristischen Z�ge unserer Welt der Erscheinung - das
heisst der aus intellectuellen Irrth�mern herausgesponnenen und uns
angeerbten Vorstellung von der Welt - zusammengelesen und anstatt den
Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache
dieses thats�chlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt
und die Erl�sung vom Sein gepredigt. - Mit all diesen Auffassungen
wird der stetige und m�hsame Process der Wissenschaft, welcher zuletzt
einmal in einer Entstehungsgeschichte des Denkens seinen h�chsten
Triumph feiert, in entscheidender Weise fertig werden, dessen Resultat
vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen d�rfte: Das, was wir jetzt
die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrth�mern und
Phantasien, welche in der gesammten Entwickelung der organischen Wesen
allm�hlich entstanden, in einander verwachsen [sind] und uns jetzt als
aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, - als
Schatz: denn der Werth unseres Menschenthums ruht darauf. Von dieser
Welt der Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thats�chlich
nur in geringem Maasse zu l�sen - wie es auch gar nicht zu w�nschen
ist -, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung
nicht wesentlich zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der
Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allm�hlich und schrittweise
aufhellen - und uns wenigstens f�r Augenblicke �ber den ganzen Vorgang
hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines
homerischen Gel�chters werth ist: dass es so viel, ja Alles schien und
eigentlich leer, n�mlich bedeutungsleer ist.


17.

Metaphysische Erkl�rungen. - Der junge Mensch sch�tzt metaphysische
Erkl�rungen, weil sie ihm in Dingen, welche er unangenehm oder
ver�chtlich fand, etwas h�chst Bedeutungsvolles aufweisen: und ist er
mit sich unzufrieden, so erleichtert sich diess Gef�hl, wenn er das
innerste Weltr�thsel oder Weltelend in dem wiedererkennt, was er so
sehr an sich missbilligt. Sich unverantwortlicher f�hlen und die
Dinge zugleich interessanter finden - das gilt ihm als die doppelte
Wohlthat, welche er der Metaphysik verdankt. Sp�ter freilich bekommt
er Misstrauen gegen die ganze metaphysische Erkl�rungsart, dann sieht
er vielleicht ein, dass jene Wirkungen auf einem anderen Wege eben
so gut und wissenschaftlicher zu erreichen sind: dass physische und
historische Erkl�rungen mindestens ebenso sehr jenes Gef�hl der
Unverantwortlichkeit herbeif�hren, und dass jenes Interesse am Leben
und seinen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird.


18.

Grundfragen der Metaphysik. - Wenn einmal die Entstehungsgeschichte
des denkens geschrieben ist, so wird auch der folgende Satz eines
ausgezeichneten Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen:
"Das urspr�ngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects
besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in
seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also
selbstexistirenden und im Grunde stets gleichbleibenden und
unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen." Auch dieses
Gesetz, welches hier "urspr�nglich" genannt wird, ist geworden:
es wird einmal gezeigt werden, wie allm�hlich, in den niederen
Organismen, dieser Hang entsteht, wie die bl�den Maulwurfsaugen dieser
Organisationen zuerst Nichts als immer das Gleiche sehen, wie dann,
wenn die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerkbarer
werden, allm�hlich verschiedene Substanzen unterschieden werden, aber
jede mit Einem Attribut, das heisst einer einzigen Beziehung zu einem
solchen Organismus. - Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil;
dessen Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker, im
Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die Empfindung des Angenehmen
oder Schmerzhaften in Bezug auf das empfindende Subject. Eine neue
dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen
Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form. - Uns
organische Wesen interessirt urspr�nglich Nichts an jedem Dinge, als
sein Verh�ltniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. Zwischen den
Momenten, in welchen wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den
Zust�nden des Empfindens, liegen solche der Ruhe, des Nichtempfindens:
da ist die Welt und jedes Ding f�r uns interesselos, wir bemerken
keine Ver�nderung an ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter
nicht merkt, dass jemand an ihm vorbeigeht). F�r die Pflanze sind
gew�hnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus
der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube
vererbt, dass es gleiche Dinge giebt (erst die durch h�chste
Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der
Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass
die ganze �brige Welt Eins und unbewegt ist. - Am fernsten liegt f�r
jene Urstufe des Logischen der Gedanke an Causalit�t: ja jetzt noch
meinen wir im Grunde, alle Empfindungen und Handlungen seien Acte des
freien Willens; wenn das f�hlende Individuum sich selbst betrachtet,
so h�lt es jede Empfindung, jede Ver�nderung f�r etwas Isolirtes, das
heisst Unbedingtes, Zusammenhangloses: es taucht aus uns auf, ohne
Verbindung mit Fr�herem oder Sp�terem. Wir haben Hunger, aber meinen
urspr�nglich nicht, dass der Organismus erhalten werden will, sondern
jenes Gef�hl scheint sich ohne Grund und Zweck geltend zu machen, es
isolirt sich und h�lt sich f�r willk�rlich. Also: der Glaube an die
Freiheit des Willens ist ein urspr�nglicher Irrthum alles Organischen,
so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existiren; der Glaube
an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein
urspr�nglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber
alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens
abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche
von den Grundirrth�mern des Menschen handelt, doch so, als w�ren es
Grundwahrheiten.


19.

Die Zahl. - Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des
urspr�nglich schon herrschenden Irrthums gemacht, dass es mehrere
gleiche Dinge gebe (aber thats�chlich giebt es nichts Gleiches),
mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein "Ding"). Die Annahme
der Vielheit setzt immer voraus, dass es Etwas gebe, das vielfach
vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrthum, schon da fingiren
wir Wesen, Einheiten, die es nicht giebt. - Unsere Empfindungen von
Raum und Zeit sind falsch, denn sie f�hren, consequent gepr�ft, auf
logische Widerspr�che. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen
rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Gr�ssen: aber
weil diese Gr�ssen wenigstens constant sind, wie zum Beispiel unsere
Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft
doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange
mit einander; man kann auf ihnen fortbauen - bis an jenes letzte
Ende, wo die irrth�mliche Grundannahme, jene constanten Fehler,
in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der
Atomenlehre. Da f�hlen wir uns immer noch zur Annahme eines "Dinges"
oder stofflichen "Substrats", das bewegt wird, gezwungen, w�hrend die
ganze wissenschaftliche Procedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles
Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzul�sen: wir scheiden auch
hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen
aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem
Wesen von Alters her verknotet ist. - Wenn Kant sagt "der Verstand
sch�pft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser
vor", so ist diess in Hinsicht auf den Begriff der Natur v�llig wahr,
welchen wir gen�thigt sind, mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als
Vorstellung, das heisst als Irrthum), welcher aber die Aufsummirung
einer Menge von Irrth�mern des Verstandes ist. - Auf eine Welt, welche
nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen g�nzlich
unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt.


20.

Einige Sprossen zur�ck. - Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung
ist erreicht, wenn der Mensch �ber abergl�ubische und religi�se
Begriffe und Aengste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die
lieben Englein oder die Erbs�nde glaubt, auch vom Heil der Seelen zu
reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er
auch noch mit h�chster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik
zu �berwinden. Dann aber ist eine r�ckl�ufige Bewegung n�thig: er muss
die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen
Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die gr�sste F�rderung
der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine
solche r�ckl�ufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen
Menschheit berauben w�rde. - In Betreff der philosophischen Metaphysik
sehe ich jetzt immer Mehrere, welche an das negative Ziel (dass jede
positive Metaphysik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch Wenige,
welche einige Sprossen r�ckw�rts steigen; man soll n�mlich �ber die
letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr
stehen wollen. Die Aufgekl�rtesten bringen es nur so weit, sich
von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie
zur�ckzusehen: w�hrend es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut,
um das Ende der Bahn herumzubiegen.


21.

Muthmaasslicher Sieg der Skepsis. - Man lasse einmal den skeptischen
Ausgangspunct gelten: gesetzt, es g�be keine andere, metaphysische
Welt und alle aus der Metaphysik genommenen Erkl�rungen der uns einzig
bekannten Welt w�ren unbrauchbar f�r uns, mit welchem Blick w�rden
wir dann auf Menschen und Dinge sehen? Diess kann man sich ausdenken,
es ist n�tzlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches
wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal
abgelehnt w�rde. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit,
sehr gut m�glich, dass die Menschen einmal in dieser Beziehung im
Ganzen und Allgemeinen skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie
wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer
solchen Gesinnung, gestalten? Vielleicht ist der wissenschaftliche
Beweis irgend einer metaphysischen Welt schon so schwierig, dass die
Menschheit ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man
gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt es im Ganzen und Grossen
die selben Folgen, wie wenn sie direct widerlegt w�re und man nicht
mehr an sie glauben d�rfte. Die historische Frage in Betreff einer
unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden F�llen die
selbe.


22.

Unglaube an das "monumentum aere perennius". - Ein wesentlicher
Nachtheil, welchen das Aufh�ren metaphysischer Ansichten mit sich
bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze
Lebenszeit in's Auge fasst und keine st�rkeren Antriebe empf�ngt,
an dauerhaften, f�r Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen;
es will die Frucht selbst vom Baume pfl�cken, den es pflanzt,
und desshalb mag es jene B�ume nicht mehr pflanzen, welche eine
Jahrhundert lange gleichm�ssige Pflege erfordern und welche lange
Reihenfolgen von Geschlechtern zu �berschatten bestimmt sind. Denn
metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte
endg�ltige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle
Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen gen�thigt sei;
der Einzelne f�rdert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein
Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der
Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der
Seele. - Kann die Wissenschaft auch solchen Glauben an ihre Resultate
erwecken? In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen als
treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der
unantastbaren, das heisst alle St�rme der Skepsis, alle Zersetzungen
�berdauernden Wahrheiten so gross werden (zum Beispiel in der Di�tetik
der Gesundheit), dass man sich daraufhin entschliesst, "ewige" Werke
zu gr�nden. Einstweilen wirkt der Contrast unseres aufgeregten
Ephemeren-Daseins gegen die langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter
noch zu stark, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der
einzelne Mensch selber durchl�uft jetzt zu viele innere und �ussere
Entwickelungen, als dass er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich
dauerhaft und ein f�r alle Mal einzurichten wagt. Ein ganz moderner
Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein
Gef�hl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern
wolle.


23.

Zeitalter der Vergleichung. - je weniger die Menschen durch das
Herkommen gebunden sind, um so gr�sser wird die innere Bewegung der
Motive, um so gr�sser wiederum, dem entsprechend, die �ussere Unruhe,
das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen.
F�r wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich
und seine Nachkommen anzubinden? F�r wen giebt es �berhaupt noch
etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der K�nste neben einander
nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralit�t, der
Sitten, der Culturen. - Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung
dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten,
Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden k�nnen; was
fr�her, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht
m�glich war, entsprechend der Gebundenheit aller k�nstlerischen
Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des �sthetischen
Gef�hls endg�ltig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden
Formen entscheiden: sie wird die meisten, - n�mlich alle, welche durch
dasselbe abgewiesen werden, - absterben lassen. Ebenso findet jetzt
ein Ausw�hlen in den Formen und Gewohnheiten der h�heren Sittlichkeit
statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren
Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das
ist sein Stolz, - aber billigerweise auch sein Leiden. F�rchten wir
uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche
das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur verm�gen: so
wird uns die Nachwelt darob segnen, - eine Nachwelt, die ebenso sich
�ber die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als
�ber die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als
auf verehrungsw�rdige Alterth�mer mit Dankbarkeit zur�ckblickt.


24.

M�glichkeit des Fortschritts. - Wenn ein Gelehrter der alten Cultur
es verschw�rt, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den
Fortschritt glauben, so hat er Recht. Denn die alte Cultur hat ihre
Gr�sse und G�te hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen,
zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein
unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schw�rmerei
n�thig, um diess zu leugnen. Aber die Menschen k�nnen mit Bewusstsein
beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, w�hrend
sie sich fr�her unbewusst und zuf�llig entwickelten: sie k�nnen jetzt
bessere Bedingungen f�r die Entstehung der Menschen, ihre Ern�hrung,
Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes �konomisch
verwalten, die Kr�fte der Menschen �berhaupt gegen einander abw�gen
und einsetzen. Diese neue bewusste Cultur t�dtet die alte, welche, als
Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben gef�hrt
hat; sie t�dtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, -er ist
m�glich. Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu
glauben, dass der Fortschritt nothwendig erfolgen m�sse; aber wie
k�nnte man leugnen, dass er m�glich sei? Dagegen ist ein Fortschritt
im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur nicht einmal denkbar. Wenn
romantische Phantastik immerhin auch das Wort "Fortschritt" von ihren
Zielen (z.B. abgeschlossenen originalen Volks-Culturen) gebraucht:
jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr
Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalit�t.


25.

Privat- und Welt-Moral. - Seitdem der Glaube aufgeh�rt hat, dass
ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite und, trotz aller
anscheinenden Kr�mmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich
hinausf�hre, m�ssen die Menschen selber sich �kumenische, die ganze
Erde umspannende Ziele stellen. Die �ltere Moral, namentlich die
Kant's, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen
Menschen w�nscht: das war eine sch�ne naive Sache; als ob ein jeder
ohne Weiteres w�sste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der
Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen �berhaupt w�nschenswerth
seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend,
dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des
Besserwerdens von selbst ergeben m�sse. Vielleicht l�sst es ein
zuk�nftiger Ueberblick �ber die Bed�rfnisse der Menschheit durchaus
nicht w�nschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln,
vielmehr d�rften im Interesse �kumenischer Ziele f�r ganze Strecken
der Menschheit specielle, vielleicht unter Umst�nden sogar b�se
Aufgaben zu stellen sein. - Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich
nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten
soll, vorher eine alle bisherigen Grade �bersteigende Kenntniss
der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab f�r
�kumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe
der grossen Geister des n�chsten Jahrhunderts.


26.

Die Reaction als Fortschritt. - Mitunter erscheinen schroffe,
gewaltsame und fortreissende, aber trotzdem zur�ckgebliebene
Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal
heraufbeschw�ren: sie dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen,
welchen sie entgegenwirken, noch nicht kr�ftig genug sind, dass Etwas
an ihnen fehlt: sonst w�rden sie jenen Beschw�rern besseren Widerpart
halten. So zeugt zum Beispiel Luther's Reformation daf�r, dass in
seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch
unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht
ihr Haupt erheben. Ja, die gesammte Renaissance erscheint wie ein
erster Fr�hling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in
unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer's Metaphysik, dass auch
jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kr�ftig genug ist: so
konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und
Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauer's Lehre, trotz der
l�ngst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine
Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein,
aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte
"metaphysische Bed�rfniss". Es ist gewiss einer der gr�ssten und ganz
unsch�tzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er
unsere Empfindung zeitweilig in �ltere, m�chtige Betrachtungsarten der
Welt und Menschen zur�ckzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein
Pfad f�hren w�rde. Der Gewinn f�r die Historie und die Gerechtigkeit
ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen
m�chte, ohne Schopenhauer's Beih�lfe dem Christenthum und seinen
asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was
namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christenthums aus unm�glich
ist. Erst nach diesem grossen Erfolge der Gerechtigkeit, erst nachdem
wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufkl�rung
mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben,
d�rfen wir die Fahne der Aufkl�rung - die Fahne mit den drei Namen:
Petrarca, Erasmus, Voltaire - von Neuem weiter tragen. Wir haben aus
der Reaction einen Fortschritt gemacht.


27.

Ersatz der Religion. - Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes
nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion f�r das Volk
hinstellt. In der That bedarf es in der geistigen Oekonomie
gelegentlich �berleitender Gedankenkreise; so ist der Uebergang
aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer,
gef�hrlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. Insofern hat
man mit jener Anempfehlung Recht. Aber endlich sollte man doch auch
lernen, dass die Bed�rfnisse, welche die Religion befriedigt hat und
nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese
selbst kann man schw�chen und ausrotten. Man denke zum Beispiel an die
christliche Seelennoth, das Seufzen �ber die innere Verderbtheit, die
Sorge um das Heil, - alles Vorstellungen, welche nur aus Irrth�mern
der Vernunft herr�hren und gar keine Befriedigung, sondern Vernichtung
verdienen. Eine Philosophie kann entweder so n�tzen, dass sie jene
Bed�rfnisse auch befriedigt oder dass sie dieselben beseitigt; denn
es sind angelernte, zeitlich begr�nzte Bed�rfnisse, welche auf
Voraussetzungen beruhen, die denen der Wissenschaft widersprechen.
Hier ist, um einen Uebergang zu machen, die Kunst viel eher zu
benutzen, um das mit Empfindungen �berladene Gem�th zu erleichtern;
denn durch sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten, als
durch eine metaphysische Philosophie. Von der Kunst aus kann man dann
leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft
�bergehen.


28.

Verrufene Worte. - Weg mit den bis zum Ueberdruss verbrauchten W�rtern
Optimismus und Pessimismus! Denn der Anlass, sie zu gebrauchen, fehlt
von Tag zu Tage mehr: nur die Schw�tzer haben sie jetzt noch so
unumg�nglich n�thig. Denn wesshalb in aller Welt sollte jemand
Optimist sein wollen, wenn er nicht einen Gott zu vertheidigen hat,
welcher die beste der Welten geschaffen haben muss, falls er selber
das Gute und Vollkommene ist, - welcher Denkende hat aber die
Hypothese eines Gottes noch n�thig? - Es fehlt aber auch jeder Anlass
zu einem pessimistischen Glaubensbekenntniss, wenn man nicht ein
Interesse daran hat, den Advocaten Gottes, den Theologen oder
den theologisirenden Philosophen �rgerlich zu werden und die
Gegenbehauptung kr�ftig aufzustellen: dass das B�se regiere, dass die
Unlust gr�sser sei, als die Lust, dass die Welt ein Machwerk, die
Erscheinung eines b�sen Willens zum Leben sei. Wer aber k�mmert sich
jetzt noch um die Theologen - ausser den Theologen? - Abgesehen von
aller Theologie und ihrer Bek�mpfung liegt es auf der Hand, dass die
Welt nicht gut und nicht b�se, geschweige denn die beste oder die
schlechteste ist, und dass diese Begriffe "gut" und "b�se" nur in
Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der
Weise, wie sie gew�hnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der
schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung m�ssen wir uns in
jedem Falle entschlagen.


29.

Vom Dufte der Bl�then berauscht. - Das Schiff der Menschheit, meint
man, hat einen immer st�rkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man
glaubt, je tiefer der Mensch denkt, je zarter er f�hlt, je h�her er
sich sch�tzt, je weiter seine Entfernung von den anderen Thieren wird,
- je mehr er als das Genie unter den Thieren erscheint, - um so n�her
werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen:
diess thut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er meint
diess noch mehr durch seine Religionen und K�nste zu thun. Diese sind
zwar eine Bl�the der Welt, aber durchaus nicht der Wurzel der Welt
n�her, als der Stengel ist: man kann aus ihnen das Wesen der Dinge
gerade gar nicht besser verstehen, obschon diess fast jedermann
glaubt. Der Irrthum hat den Menschen so tief, zart, erfinderisch
gemacht, eine solche Bl�the, wie Religionen und K�nste,
herauszutreiben. Das reine Erkennen w�re dazu ausser Stande
gewesen. Wer uns das Wesen der Welt enth�llte, w�rde uns Allen die
unangenehmste Entt�uschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich,
sondern die Welt als Vorstellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich,
tief, wundervoll, Gl�ck und Ungl�ck im Schoosse tragend. Diess
Resultat f�hrt zu einer Philosophie der logischen Weltverneinung:
welche �brigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie
mit deren Gegentheile vereinigen l�sst.


30.

Schlechte Gewohnheiten im Schliessen. - Die gew�hnlichsten Irrschl�sse
der Menschen sind diese: eine Sache existirt, also hat sie ein Recht.
Hier wird aus der Lebensf�higkeit auf die Zweckm�ssigkeit, aus der
Zweckm�ssigkeit auf die Rechtm�ssigkeit geschlossen. Sodann: eine
Meinung begl�ckt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also
ist sie selber gut und wahr. Hier legt man der Wirkung das Pr�dicat
begl�ckend, gut, im Sinne des N�tzlichen, bei und versieht nun
die Ursache mit dem selben Pr�dicat gut, aber hier im Sinne des
Logisch-G�ltigen. Die Umkehrung der S�tze lautet: eine Sache kann sich
nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie unrecht; eine Meinung qu�lt,
regt auf, also ist sie falsch. Der Freigeist, der das Fehlerhafte
dieser Art zu schliessen nur allzu h�ufig kennen lernt und an
ihren Folgen zu leiden hat, unterliegt oft der Verf�hrung, die
entgegengesetzten Schl�sse zu machen, welche im Allgemeinen nat�rlich
ebenso sehr Irrschl�sse sind: eine Sache kann sich nicht durchsetzen,
also ist sie gut; eine Meinung macht Noth, beunruhigt, also ist sie
wahr.


31.

Das Unlogische nothwendig. - Zu den Dingen, welche einen Denker
in Verzweifelung bringen k�nnen, geh�rt die Erkenntniss, dass das
Unlogische f�r den Menschen n�thig ist, und dass aus dem Unlogischen
vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der
Sprache, in der Kunst, in der Religion und �berhaupt in Allem, was dem
Leben Werth verleiht, dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit
diese sch�nen Dinge heillos zu besch�digen. Es sind nur die allzu
naiven Menschen, welche glauben k�nnen, dass die Natur des Menschen
in eine rein logische verwandelt werden k�nne; wenn es aber Grade der
Ann�herung an dieses Ziel geben sollte, was w�rde da nicht Alles auf
diesem Wege verloren gehen m�ssen! Auch der vern�nftigste Mensch
bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heisst seiner
unlogischen Grundstellung zu allen Dingen.


32.

Ungerechtsein nothwendig. - Alle Urtheile �ber den Werth des Lebens
sind unlogisch entwickelt und desshalb ungerecht. Die Unreinheit des
Urtheils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, n�mlich
sehr unvollst�ndig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet
wird, und drittens darin, dass jedes einzelne St�ck des Materials
wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar diess mit voller
Nothwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel �ber einen Menschen,
st�nde er uns auch noch so nah, kann vollst�ndig sein, so dass wir ein
logisches Recht zu einer Gesammtabsch�tzung desselben h�tten; alle
Sch�tzungen sind voreilig und m�ssen es sein. Endlich ist das Maass,
womit wir messen, unser Wesen, keine unab�nderliche Gr�sse, wir haben
Stimmungen und Schwankungen, und doch m�ssten wir uns selbst als ein
festes Maass kennen, um das Verh�ltniss irgend einer Sache zu uns
gerecht abzusch�tzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man
gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur leben k�nnte, ohne
abzusch�tzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! - denn alles
Abgeneigtsein h�ngt mit einer Sch�tzung zusammen, ebenso alles
Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gef�hl
davon, dass man das F�rderliche wolle, dem Sch�dlichen ausweiche,
ein Trieb ohne eine Art von erkennender Absch�tzung �ber den Werth
des Zieles, existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein
unlogische und daher ungerechte Wesen, und k�nnen diess erkennen:
diess ist eine der gr�ssten und unaufl�sbarsten Disharmonien des
Daseins.


33.

Der Irrthum �ber das Leben zum Leben nothwendig. - Jeder Glaube an
Werth und W�rdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist
allein dadurch m�glich, dass das Mitgef�hl f�r das allgemeine Leben
und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist.
Auch die seltneren Menschen, welche �berhaupt �ber sich hinaus denken,
fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegr�nzte Theile
desselben in's Auge. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich
auf Ausnahmen, ich meine auf die hohen Begabungen und die reinen
Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen
Weltentwickelung und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den
Werth des Lebens glauben, weil man n�mlich die anderen Menschen dabei
�bersieht: also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen
in's Auge fasst, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die
weniger egoistischen, gelten l�sst und sie in Betreff der anderen
Triebe entschuldigt: dann kann man wiederum von der Menschheit im
Ganzen Etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben: also
auch in diesem Falle durch Unreinheit des Denkens. Mag man sich aber
so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine Ausnahme unter
den Menschen. Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen
das Leben, ohne erheblich zu murren, und glauben somit an den Werth
des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich jeder allein will und
behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles
Ausserpers�nliche ist ihnen gar nicht oder h�chstens als ein schwacher
Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens f�r
den gew�hnlichen, allt�glichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt,
als die Welt. Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht,
dass er sich nicht in andere Wesen hineinf�hlen kann und daher so
wenig als m�glich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt. Wer dagegen
wirklich daran theilnehmen k�nnte, m�sste am Werthe des Lebens
verzweifeln; gel�nge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in
sich zu fassen und zu empfinden, er w�rde mit einem Fluche gegen das
Dasein zusammenbrechen, - denn die Menschheit hat im Ganzen keine
Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes,
nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweifelung.
Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit
der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den
Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als
Individuum) ebenso vergeudet zu f�hlen, wie wir die einzelne Bl�the
von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gef�hl �ber alle Gef�hle. - Wer
ist aber desselben f�hig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen
sich immer zu tr�sten.


34.

Zur Beruhigung.- Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Trag�die?
Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage
scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu
wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben k�nne? oder, wenn
man diess m�sse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen
giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja
durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion. Die
Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden
bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne f�r
Wahrheit auseinandersetzen? Auch sie ber�hren sich ja mit Irrth�mern
(insofern, wie gesagt, Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten
Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen). Das ganze
menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der Einzelne
kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner
Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine
gegenw�rtigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu finden und den
Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Gl�ck in derselben
hindr�ngen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. Ist es wahr, bliebe
einzig noch eine Denkweise �brig, welche als pers�nliches Ergebniss
die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerst�rung
nach sich z�ge? - Ich glaube, die Entscheidung �ber die Nachwirkung
der Erkenntniss wird durch das Temperament eines Menschen gegeben:
ich k�nnte mir eben so gut, wie jene geschilderte und bei einzelnen
Naturen m�gliche Nachwirkung, eine andere denken, verm�ge deren ein
viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entst�nde, als das
jetzige ist: so dass zuerst zwar die alten Motive des heftigeren
Begehrens noch Kraft h�tten, aus alter vererbter Gew�hnung her,
allm�hlich aber unter dem Einflusse der reinigenden Erkenntniss
schw�cher w�rden. Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich
wie in der Natur, ohne Lob, Vorw�rfe, Ereiferung, an Vielem sich wie
an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu f�rchten
hatte. Man w�re die Emphasis los und w�rde die Anstachelung des
Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht
weiter empfinden. Freilich geh�rte hierzu, wie gesagt, ein gutes
Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele,
eine Stimmung, welche nicht vor T�cken und pl�tzlichen Ausbr�chen auf
der Hut zu sein brauchte und in ihren Aeusserungen Nichts von dem
knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich tr�ge, - jenen bekannten
l�stigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der
Kette gelegen haben. Vielmehr muss ein Mensch, von dem in solchem
Maasse die gew�hnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dass er
nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf Vieles, ja
fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid
und Verdruss verzichten k�nnen, ihm muss als der w�nschenswertheste
Zustand jenes freie, furchtlose Schweben �ber Menschen, Sitten,
Gesetzen und den herk�mmlichen Sch�tzungen der Dinge gen�gen. Die
Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit und er hat vielleicht
nichts Anderes mitzutheilen, - worin freilich eine Entbehrung, eine
Entsagung mehr liegt. Will man aber trotzdem mehr von ihm, so wird
er mit wohlwollendem Kopfsch�tteln auf seinen Bruder hinweisen,
den freien Menschen der That, und vielleicht ein Wenig Spott nicht
verhehlen: denn mit dessen "Freiheit" hat es eine eigene Bewandtniss.




Zweites Hauptst�ck.

Zur Geschichte der moralischen Empfindungen.

35.

Vortheile der psychologischen Beobachtung. - Dass das Nachdenken �ber
Menschliches, Allzumenschliches - oder wie der gelehrtere Ausdruck
lautet: die psychologische Beobachtung - zu den Mitteln geh�re,
verm�ge deren man sich die Last des Lebens erleichtern k�nne, dass
die Uebung in dieser Kunst Geistesgegenwart in schwierigen Lagen und
Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass
man den dornenvollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen
Lebens Sentenzen abpfl�cken und sich dabei ein Wenig wohler f�hlen
k�nne: das glaubte man, wusste man - in fr�heren Jahrhunderten. Warum
vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in Deutschland, ja
in Europa, die Armuth an psychologischer Beobachtung durch viele
Zeichen sich zu erkennen giebt? Nicht gerade in Roman, Novelle
und philosophischer Betrachtung, - diese sind das Werk von
Ausnahmemenschen; schon mehr in der Beurtheilung �ffentlicher
Ereignisse und Pers�nlichkeiten: vor Allem aber fehlt die Kunst der
psychologischen Zergliederung und Zusammenrechnung in der Gesellschaft
aller St�nde, in der man wohl viel �ber Menschen, aber gar nicht �ber
den Menschen spricht. Warum doch l�sst man sich den reichsten und
harmlosesten Stoff der Unterhaltung entgehen? Warum liest man nicht
einmal die grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? - denn,
ohne jede Uebertreibung gesprochen: der Gebildete in Europa, der La
Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten gelesen hat, ist
selten zu finden; und noch viel seltener Der, welcher sie kennt und
sie nicht schm�ht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser ungew�hnliche
Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener K�nstler
ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht verm�gend,
die Kunst der Sentenzen-Schleiferei geb�hrend zu w�rdigen, wenn er
nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat. Man nimmt,
ohne solche practische Belehrung, dieses Schaffen und Formen f�r
leichter als es ist, man f�hlt das Gelungene und Reizvolle nicht
scharf genug heraus. Desshalb haben die jetzigen Leser von Sentenzen
ein verh�ltnissm�ssig unbedeutendes Vergn�gen an ihnen, ja kaum einen
Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht, wie den
gew�hnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil sie nicht
lieben k�nnen und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber
noch, fortzulaufen.


36.

Einwand.- Oder sollte es gegen jenen Satz, dass die psychologische
Beobachtung zu den Reiz-, Heil- und Erleichterungsmitteln des Daseins
geh�re, eine Gegenrechnung geben? Sollte man sich genug von den
unangenehmen Folgen dieser Kunst �berzeugt haben, um jetzt mit
Absichtlichkeit den Blick der sich Bildenden von ihr abzulenken? In
der That, ein gewisser blinder Glaube an die G�te der menschlichen
Natur, ein eingepflanzter Widerwille vor der Zerlegung menschlicher
Handlungen, eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf die Nacktheit
der Seele m�gen wirklich f�r das gesammte Gl�ck eines Menschen
w�nschenswerthere Dinge sein, als jene, in einzelnen F�llen hilfreiche
Eigenschaft der psychologischen Scharfsichtigkeit; und vielleicht hat
der Glaube an das Gute, an tugendhafte Menschen und Handlungen, an
eine F�lle des unpers�nlichen Wohlwollens in der Welt die Menschen
besser gemacht, insofern er dieselben weniger misstrauisch machte.
Wenn man die Helden Plutarch's mit Begeisterung nachahmt, und einen
Abscheu davor empfindet, den Motiven ihres Handelns anzweifelnd
nachzusp�ren, so hat zwar nicht die Wahrheit, aber die Wohlfahrt der
menschlichen Gesellschaft ihren Nutzen dabei: der psychologische
Irrthum und �berhaupt die Dumpfheit auf diesem Gebiete hilft der
Menschlichkeit vorw�rts, w�hrend die Erkenntniss der Wahrheit
vielleicht durch die anregende Kraft einer Hypothese mehr gewinnt, wie
sie La Rochefoucauld der ersten Ausgabe seiner "Sentences et maximes
morales" vorangestellt hat: "Ce que le monde nomme vertu n'est
d'ordinaire qu'un fant�ame form� par nos passions, � qui on donne un
nom honn�te pour faire impun�ment ce qu'on veut." La Rochefoucauld
und jene anderen franz�sischen Meister der Seelenpr�fung (denen sich
neuerdings auch ein Deutscher, der Verfasser der "Psychologischen
Beobachtungen" zugesellt hat) gleichen scharf zielenden Sch�tzen,
welche immer und immer wieder in's Schwarze treffen, - aber in's
Schwarze der menschlichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen,
aber endlich verw�nscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der
Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine
Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verd�chtigung in die
Seelen der Menschen zu pflanzen scheint.


37.

Trotzdem.- Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte: in
dem gegenw�rtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist
die Auferweckung der moralischen Beobachtung n�thig geworden, und der
grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer
und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Denn hier
gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der
sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten
die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu l�sen
hat: - die �ltere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und
ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der moralischen
Empfindungen unter d�rftigen Ausfl�chten immer aus dem Wege gegangen.
Mit welchen Folgen: das l�sst sich jetzt sehr deutlich �berschauen,
nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrth�mer der
gr�ssten Philosophen gew�hnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen
Erkl�rung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen
haben, wie auf Grund einer irrth�mlichen Analysis, zum Beispiel
der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich
aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches
Unwesen zu H�lfe genommen werden, und endlich die Schatten dieser
tr�ben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung
hineinfallen. Steht es aber fest, dass die Oberfl�chlichkeit der
psychologischen Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen
die gef�hrlichsten Fallstricke gelegt hat und fortw�hrend von Neuem
legt, so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht m�de
wird, Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu h�ufen, so bedarf
es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen
Arbeit nicht zu sch�men und jeder Missachtung derselben Trotz zu
bieten. Es ist wahr: zahllose einzelne Bemerkungen �ber Menschliches
und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft zuerst
entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht der
wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht
jede Art von Opfern darzubringen; und fast unl�sbar hat sich der
Duft jener alten Heimath der moralistischen Sentenz - ein sehr
verf�hrerischer Duft - der ganzen Gattung angeh�ngt: so dass
seinetwegen der wissenschaftliche Mensch unwillk�rlich einiges
Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken l�sst.
Aber es gen�gt, auf die Folgen zu verweisen: denn schon jetzt beginnt
sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem Boden der
psychologischen Beobachtung aufwachsen. Welches ist doch der Hauptsatz
zu dem einer der k�hnsten und k�ltesten Denker, der Verfasser des
Buches "Ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen" verm�ge
seiner ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns
gelangt? "Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen
(metaphysischen) Welt nicht n�her, als der physische Mensch."
Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der
historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgendwelcher
Zukunft, als die Axt dienen, welche dem "metaphysischen Bed�rfniss"
der Menschen an die Wurzel gelegt wird, - ob mehr zum Segen, als zum
Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer w�sste das zu sagen? - aber
jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und
furchtbar zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend,
welches alle grossen Erkenntnisse haben.


38.

Inwiefern n�tzlich. - Also: ob die psychologische Beobachtung mehr
Nutzen oder Nachtheil �ber die Menschen bringe, das bleibe immerhin
unentschieden; aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die
Wissenschaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber kennt
keine R�cksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur
sie kennt: sondern wie diese gelegentlich Dinge von der h�chsten
Zweckm�ssigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so
wird auch die �chte Wissenschaft, als die Nachahmung der Natur in
Begriffen, den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja
vielfach, f�rdern und das Zweckm�ssige erreichen, - aber ebenfalls
ohne es gewollt zu haben. Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen
Betrachtungsart gar zu winterlich zu Muthe wird, der hat vielleicht
nur zu wenig Feuer in sich: er m�ge sich indessen umsehen und er wird
Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschl�ge noth thun, und Menschen,
welche so aus Gluth und Geist "zusammengeknetet" sind, dass sie
kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug f�r sich finden.
Ueberdiess: wie allzu ernste Einzelne und V�lker ein Bed�rfniss nach
Leichtfertigkeiten haben, wie andere allzu Erregbare und Bewegliche
zeitweilig schwere niederdr�ckende Lasten zu ihrer Gesundheit n�thig
haben: sollten wir, die geistigeren Menschen eines Zeitalters, welches
ersichtlich immer mehr in Brand ger�th, nicht nach allen l�schenden
und k�hlenden Mitteln, die es giebt, greifen m�ssen, damit wir
wenigstens so stetig, harmlos und m�ssig bleiben, als wir es noch
sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter
als Spiegel und Selbstbesinnung �ber sich zu dienen? -


39.

Die Fabel von der intelligibelen Freiheit. - Die Geschichte der
Empfindungen, verm�ge deren wir jemanden verantwortlich machen, also
der sogenannten moralischen Empfindungen verl�uft, in folgenden
Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder b�se ohne
alle R�cksicht auf deren Motive, sondern allein der n�tzlichen oder
sch�dlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser
Bezeichnungen und w�hnt, dass den Handlungen an sich, ohne R�cksicht
auf deren Folgen, die Eigenschaft "gut" oder "b�se" innewohne: mit
demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als
hart, den Baum selber als gr�n bezeichnet - also dadurch, dass man,
was Wirkung ist, als Ursache fasst. Sodann legt man das Gut- oder
B�se-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als
moralisch zweideutig. Man geht weiter und giebt das Pr�dicat gut oder
b�se nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen eines
Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich,
herausw�chst. So macht man der Reihe nach den Menschen f�r seine
Wirkungen, dann f�r seine Handlungen, dann f�r seine Motive und
endlich f�r sein Wesen verantwortlich. Nun entdeckt man schliesslich,
dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern
es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den Elementen und
Einfl�ssen vergangener und gegenw�rtiger Dinge concrescirt: also dass
der Mensch f�r Nichts verantwortlich zu machen ist, weder f�r sein
Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen.
Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass die Geschichte der
moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums
von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum von der
Freiheit des Willens ruht. -Schopenhauer schloss dagegen so: weil
gewisse Handlungen Unmuth ("Schuldbewusstsein") nach sich ziehen, so
muss es eine Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmuth w�re
kein Grund vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit
Nothwendigkeit verliefe - wie es thats�chlich, und auch nach der
Einsicht dieses Philosophen, verl�uft -, sondern der Mensch selber
mit der selben Nothwendigkeit sein ganzes Wesen erlangte, - was
Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Unmuthes glaubt
Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu k�nnen, welche der Mensch
irgendwie gehabt haben m�sse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen,
aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also, so oder so zu sein, nicht
so oder so zu handeln. Aus dem esse, der Sph�re der Freiheit und
Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das operari, die Sph�re
der strengen Causalit�t, Nothwendigkeit und Unverantwortlichkeit.
Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das operari - insofern
sei er irrth�mlich -, in Wahrheit aber auf das esse, welches die That
eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums,
sei; der Mensch werde Das, was er werden wolle, sein Wollen sei
fr�her, als seine Existenz. - Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass
aus der Thatsache des Unmuthes die Berechtigung, die vern�nftige
Zul�ssigkeit dieses Unmuthes geschlossen wird; und von jenem
Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz
der sogenannten intelligibelen Freiheit. Aber der Unmuth nach der That
braucht gar nicht vern�nftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn
er ruht auf der irrth�mlichen Voraussetzung, dass die That eben nicht
nothwendig h�tte erfolgen m�ssen. Also: weil sich der Mensch f�r
frei h�lt, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und
Gewissensbisse. - Ueberdiess ist dieser Unmuth Etwas, das man sich
abgew�hnen kann, bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen
gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden.
Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwickelung der Sitte und Cultur
gekn�pfte Sache und vielleicht nur in einer verh�ltnissm�ssig kurzen
Zeit der Weltgeschichte vorhanden. -Niemand ist f�r seine Thaten
verantwortlich, Niemand f�r sein Wesen; richten ist soviel als
ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum �ber sich selbst
richtet. Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier
jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zur�ck: aus Furcht
vor den Folgen.


40.

Das Ueber-Thier. - Die Bestie in uns will belogen werden; Moral
ist Nothl�ge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die
Irrth�mer, welche in den Annahmen der Moral liegen, w�re der Mensch
Thier geblieben. So aber hat er sich als etwas H�heres genommen und
sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat desshalb einen Hass gegen
die der Thierheit n�her gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige
Missachtung des Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu
erkl�ren ist.


41.

Der unver�nderliche Charakter. - Dass der Charakter unver�nderlich
sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heisst dieser beliebte
Satz nur so viel, dass w�hrend der kurzen Lebensdauer eines Menschen
die einwirkenden Motive gew�hnlich nicht tief genug ritzen k�nnen, um
die aufgepr�gten Schriftz�ge vieler Jahrtausende zu zerst�ren. D�chte
man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so h�tte man
an ihm sogar einen absolut ver�nderlichen Charakter: so dass eine
F�lle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte.
Die K�rze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrth�mlichen
Behauptungen �ber die Eigenschaften des Menschen.


42.

Die Ordnung der G�ter und die Moral. - Die einmal angenommene
Rangordnung der G�ter, je nachdem ein niedriger, h�herer, h�chster
Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt �ber das
Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein. Ein niedriges Gut (zum Beispiel
Sinnengenuss) einem h�her gesch�tzten (zum Beispiel Gesundheit)
vorziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit
vorziehen. Die Rangordnung der G�ter ist aber keine zu allen Zeiten
feste und gleiche; wenn jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so
ist er nach dem Maassstabe einer fr�heren Cultur moralisch, nach dem
der jetzigen unmoralisch. "Unmoralisch" bezeichnet also, dass Einer
die h�heren, feineren, geistigeren Motive, welche die jeweilen neue
Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug
empfindet: es bezeichnet einen Zur�ckgebliebenen, aber immer nur dem
Gradunterschied nach. - Die Rangordnung der G�ter selber wird nicht
nach moralischen Gesichtspuncten auf- und umgestellt; wohl aber wird
nach ihrer jedesmaligen Festsetzung dar�ber entschieden, ob eine
Handlung moralisch oder unmoralisch sei.


43.

Grausame Menschen als zur�ckgeblieben. - Die Menschen, welche jetzt
grausam sind, m�ssen uns als Stufen fr�herer Culturen gelten, welche
�brig geblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die
tieferen Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen. Es sind
zur�ckgebliebene Menschen, deren Gehirn, durch alle m�glichen Zuf�lle
im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet
worden ist. Sie zeigen uns, was wir Alle waren, und machen uns
erschrecken: aber sie selber sind so wenig verantwortlich, wie ein
St�ck Granit daf�r, dass es Granit ist. In unserm Gehirne m�ssen sich
auch Rinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung entsprechen,
wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an
Fischzust�nde finden sollen. Aber diese Rinnen und Windungen sind
nicht mehr das Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer
Empfindung w�lzt.


44.

Dankbarkeit und Rache. - Der Grund, wesshalb der M�chtige dankbar
ist, ist dieser. Sein Wohlth�ter hat sich durch seine Wohlthat an der
Sph�re des M�chtigen gleichsam vergriffen und sich in sie eingedr�ngt:
nun vergreift er sich zur Vergeltung wieder an der Sph�re des
Wohlth�ters durch den Act der Dankbarkeit. Es ist eine mildere Form
der Rache. Ohne die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, w�rde der
M�chtige sich unm�chtig gezeigt haben und f�rderhin daf�r gelten.
Desshalb stellt jede Gesellschaft der Guten, das heisst urspr�nglich
der M�chtigen, die Dankbarkeit unter die ersten Pflichten.

- Swift hat den Satz hingeworfen, dass Menschen in dem selben
Verh�ltniss dankbar sind, wie sie Rache hegen.


45.

Doppelte Vorgeschichte von Gut und B�se. - Der Begriff gut und b�se
hat eine doppelte Vorgeschichte: n�mlich einmal in der Seele der
herrschenden St�mme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes
mit Gutem, B�ses mit B�sem, und auch wirklich Vergeltung �bt, also
dankbar und rachs�chtig ist, der wird gut genannt; wer unm�chtig ist
und nicht vergelten kann, gilt als schlecht. Man geh�rt als Guter
zu den "Guten", einer Gemeinde, welche Gemeingef�hl hat, weil alle
Einzelnen durch den Sinn der Vergeltung mit einander verflochten
sind. Man geh�rt als Schlechter zu den "Schlechten", zu einem Haufen
unterworfener, ohnm�chtiger Menschen, welche kein Gemeingef�hl haben.
Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub. Gut
und schlecht ist eine Zeit lang so viel wie vornehm und niedrig, Herr
und Sclave. Dagegen sieht man den Feind nicht als b�se an: er kann
vergelten. Der Troer und der Grieche sind bei Homer beide gut. Nicht
Der, welcher uns Sch�dliches zuf�gt, sondern Der, welcher ver�chtlich
ist, gilt als schlecht. In der Gemeinde der Guten vererbt sich das
Gute; es ist unm�glich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche
hervorwachse. Thut trotzdem Einer der Guten Etwas, das der Guten
unw�rdig ist, so verf�llt man auf Ausfl�chte; man schiebt zum Beispiel
einem Gott die Schuld zu, indem man sagt: er habe den Guten mit
Verblendung und Wahnsinn geschlagen. - Sodann in der Seele der
Unterdr�ckten, Machtlosen. Hier gilt jeder andere Mensch als
feindlich, r�cksichtslos, ausbeutend, grausam, listig, sei er vornehm
oder niedrig; b�se ist das Charakterwort f�r Mensch, ja f�r jedes
lebende Wesen, welches man voraussetzt, zum Beispiel f�r einen Gott;
menschlich, g�ttlich gilt so viel wie teuflisch, b�se. Die Zeichen der
G�te, H�lfebereitschaft, Mitleid, werden angstvoll als T�cke, Vorspiel
eines schrecklichen Ausgangs, Bet�ubung und Ueberlistung aufgenommen,
kurz als verfeinerte Bosheit. Bei einer solchen Gesinnung des
Einzelnen kann kaum ein Gemeinwesen entstehen, h�chstens die roheste
Form desselben: so dass �berall, wo diese Auffassung von gut und b�se
herrscht, der Untergang der Einzelnen, ihrer St�mme und Rassen nahe
ist. - Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der herrschenden
St�mme und Kasten aufgewachsen.


46.

Mitleiden st�rker als Leiden. - Es giebt F�lle, wo das Mitleiden
st�rker ist, als das eigentliche Leiden. Wir empfinden es zum Beispiel
schmerzlicher, wenn einer unserer Freunde sich etwas Schm�hliches zu
Schulden kommen l�sst, als wenn wir selbst es thun. Einmal n�mlich
glauben wir mehr an die Reinheit seines Charakters, als er; sodann
ist unsere Liebe zu ihm, wahrscheinlich eben dieses Glaubens wegen,
st�rker, als seine Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein
Egoismus mehr dabei leidet, als unser Egoismus, insofern er die
�belen Folgen seines Vergehens st�rker zu tragen hat, so wird das
Unegoistische in uns - dieses Wort ist nie streng zu verstehen,
sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks - doch st�rker durch
seine Schuld betroffen, als das Unegoistische in ihm.


47.

Hypochondrie.- Es giebt Menschen, welche aus Mitgef�hl und Sorge f�r
eine andere Person hypochondrisch werden; die dabei entstehende Art
des Mitleidens ist nichts Anderes, als eine Krankheit. So giebt es
auch eine christliche Hypochondrie, welche jene einsamen, religi�s
bewegten Leute bef�llt, die sich das Leiden und Sterben Christi
fortw�hrend vor Augen stellen.


48.

Oekonomie der G�te. - Die G�te und Liebe als die heilsamsten Kr�uter
und Kr�fte im Verkehre der Menschen sind so kostbare Funde, dass man
wohl w�nschen m�chte, es werde in der Verwendung dieser balsamischen
Mittel so �konomisch wie m�glich verfahren: doch ist diess unm�glich.
Die Oekonomie der G�te ist der Traum der verwegensten Utopisten.


49.

Wohlwollen.- Unter die kleinen, aber zahllos h�ufigen und desshalb
sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr Acht zu
geben hat, als auf die grossen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen
zu rechnen; ich meine jene Aeusserungen freundlicher Gesinnung im
Verkehr, jenes L�cheln des Auges, jene H�ndedr�cke, jenes Behagen,
von welchem f�r gew�hnlich fast alles menschliche Thun umsponnen
ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zuthat zu dem, was f�r
ihn Pflicht ist, hinzu; es ist die fortw�hrende Beth�tigung der
Menschlichkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes, in denen Alles
w�chst; namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, gr�nt und
bl�ht das Leben nur durch jenes Wohlwollen. Die Gutm�thigkeit, die
Freundlichkeit, die H�flichkeit des Herzens sind immerquellende
Ausfl�sse des unegoistischen Triebes und haben viel m�chtiger an der
Cultur gebaut, als jene viel ber�hmteren Aeusserungen desselben, die
man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt
sie geringzusch�tzen, und in der That: es ist nicht gerade viel
Unegoistisches daran. Die Summe dieser geringen Dosen ist trotzdem
gewaltig, ihre gesammte Kraft geh�rt zu den st�rksten Kr�ften. -
Ebenso findet man viel mehr Gl�ck in der Welt, als tr�be Augen sehen:
wenn man n�mlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des
Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedr�ngtesten
Menschenleben reich ist, nicht vergisst.


50.

Mitleiden erregen wollen.- La Rochefoucauld trifft in der
bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst-Portraits (zuerst gedruckt
1658) gewiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor
dem Mitleiden warnt, wenn er r�th, dasselbe den Leuten aus dem Volke
zu �berlassen, die der Leidenschaften bed�rfen (weil sie nicht
durch Vernunft bestimmt werden), um so weit gebracht zu werden, dem
Leidenden zu helfen und bei einem Ungl�ck kr�ftig einzugreifen;
w�hrend das Mitleiden, nach seinem (und Plato's) Urtheil, die Seele
entkr�fte. Freilich solle man Mitleiden bezeugen, aber sich h�ten, es
zu haben: denn die Ungl�cklichen seien nun einmal so dumm, dass bei
ihnen das Bezeugen von Mitleid das gr�sste Gut von der Welt ausmache.
- Vielleicht kann man noch st�rker vor diesem Mitleid-haben warnen,
wenn man jenes Bed�rfniss der Ungl�cklichen nicht gerade als Dummheit
und intellectuellen Mangel, als eine Art Geistesst�rung fasst, welche
das Ungl�ck mit sich bringt (und so scheint es ja La Rochefoucauld zu
fassen), sondern als etwas ganz Anderes und Bedenklicheres versteht.
Vielmehr beobachte man Kinder, welche weinen und Schreien, damit sie
bemitleidet werden, und desshalb den Augenblick abwarten, wo ihr
Zustand in die Augen fallen kann; man lebe im Verkehr mit Kranken
und Geistig-Gedr�ckten und frage sich, ob nicht das beredte Klagen
und Wimmern, das Zur-Schau-tragen des Ungl�cks im Grunde das Ziel
verfolgt, den Anwesenden weh zu thun: das Mitleiden, welches Jene dann
�ussern, ist insofern eine Tr�stung f�r die Schwachen und Leidenden,
als sie daran erkennen, doch wenigstens noch Eine Macht zu haben,
trotz aller ihrer Schw�che: die Macht, wehe zu thun. Der Ungl�ckliche
gewinnt eine Art von Lust in diesem Gef�hl der Ueberlegenheit,
welches das Bezeugen des Mitleides ihm zum Bewusstsein bringt; seine
Einbildung erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt
Schmerzen zu machen. Somit ist der Durst nach Mitleid ein Durst nach
Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen; es zeigt den
Menschen in der ganzen R�cksichtslosigkeit seines eigensten lieben
Selbst: nicht aber gerade in seiner "Dummheit", wie La Rochefoucauld
meint. - Im Zwiegespr�che der Gesellschaft werden Dreiviertel aller
Fragen gestellt, aller Antworten gegeben, um dem Unterredner ein
klein Wenig weh zu thun; desshalb d�rsten viele Menschen so nach
Gesellschaft: sie giebt ihnen das Gef�hl ihrer Kraft. In solchen
unz�hligen, aber sehr kleinen Dosen, in welchen die Bosheit sich
geltend macht, ist sie ein m�chtiges Reizmittel des Lebens: ebenso
wie das Wohlwollen, in gleicher Form durch die Menschenwelt hin
verbreitet, das allezeit bereite Heilmittel ist. - Aber wird es viele
Ehrliche geben, welche zugestehen, dass es Vergn�gen macht, wehe zu
thun? dass man sich nicht selten damit unterh�lt - und gut unterh�lt
-, anderen Menschen wenigstens in Gedanken Kr�nkungen zuzuf�gen und
die Schrotk�rner der kleinen Bosheit nach ihnen zu schiessen? Die
Meisten sind zu unehrlich und ein paar Menschen sind zu gut, um von
diesem Pudendum Etwas zu wissen; diese m�gen somit immerhin leugnen,
dass Prosper M�rim�e Recht habe, wenn er sagt: "Sachez aussi qu'il
n'y a rien de plus commun que de faire le mal pour le plaisir de le
faire."


51.

Wie der Schein zum Sein wird. - Der Schauspieler kann zuletzt auch
beim tiefsten Schmerz nicht aufh�ren, an den Eindruck seiner Person
und den gesammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst
beim Begr�bniss seines Kindes; er wird �ber seinen eignen Schmerz und
dessen Aeusserungen weinen, als sein eigener Zuschauer. Der Heuchler,
welcher immer ein und die selbe Rolle spielt, h�rt zuletzt auf,
Heuchler zu sein; zum Beispiel Priester, welche als junge M�nner
gew�hnlich bewusst oder unbewusst Heuchler sind, werden zuletzt
nat�rlich und sind dann wirklich, ohne alle Affectation, eben
Priester; oder wenn es der Vater nicht so weit bringt, dann vielleicht
der Sohn, der des Vaters Vorsprung benutzt, seine Gew�hnung erbt. Wenn
Einer sehr lange und hartn�ckig Etwas scheinen will, so wird es ihm
zuletzt schwer, etwas Anderes zu sein. Der Beruf fast jedes Menschen,
sogar des K�nstlers, beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von
Aussen her, mit einem Copiren des Wirkungsvollen. Der, welcher immer
die Maske freundlicher Mienen tr�gt, muss zuletzt eine Gewalt �ber
wohlwollende Stimmungen bekommen, ohne welche der Ausdruck der
Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, - und zuletzt wieder bekommen
diese �ber ihn Gewalt, er ist wohlwollend.


52.

Der Punct der Ehrlichkeit beim Betruge. - Bei allen grossen Betr�gern
ist ein Vorgang bemerkenswerth, dem sie ihre Macht verdanken.
Im eigentlichen Acte des Betruges unter all den Vorbereitungen,
dem Schauerlichen in Stimme, Ausdruck, Geb�rden, inmitten der
wirkungsvollen Scenerie, �berkommt sie der Glaube an sich selbst:
dieser ist es, der dann so wundergleich und bezwingend zu den
Umgebenden spricht. Die Religionsstifter unterscheiden sich dadurch
von jenen grossen Betr�gern, dass sie aus diesem Zustande der
Selbstt�uschung nicht herauskommen: oder sie haben ganz selten einmal
jene helleren Momente, wo der Zweifel sie �berw�ltigt; gew�hnlich
tr�sten sie sich aber, diese helleren Momente dem b�sen Widersacher
zuschiebend. Selbstbetrug muss da sein, damit Diese und jene
grossartig wirken. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen,
was ersichtlich stark geglaubt wird.


53.

Angebliche Stufen der Wahrheit. - Einer der gew�hnlichen Fehlschl�sse
ist der: weil Jemand wahr und aufrichtig gegen uns ist, so sagt er die
Wahrheit. So glaubt das Kind an die Urtheile der Eltern, der Christ
an die Behauptungen des Stifters der Kirche. Ebenso will man nicht
zugeben, dass alles jenes, was die Menschen mit Opfern an Gl�ck
und Leben in fr�heren Jahrhunderten vertheidigt haben, Nichts als
Irrth�mer waren: vielleicht sagt man, es seien Stufen der Wahrheit
gewesen. Aber im Grunde meint man, wenn Jemand ehrlich an Etwas
geglaubt und f�r seinen Glauben gek�mpft hat und gestorben ist,
w�re es doch gar zu unbillig, wenn eigentlich nur ein Irrthum ihn
beseelt habe. So ein Vorgang scheint der ewigen Gerechtigkeit zu
widersprechen; desshalb decretirt das Herz empfindender Menschen immer
wieder gegen ihren Kopf den Satz: zwischen moralischen Handlungen und
intellectuellen Einsichten muss durchaus ein nothwendiges Band sein.
Es ist leider anders; denn es giebt keine ewige Gerechtigkeit.


54.

Die L�ge. - Wesshalb sagen zu allermeist die Menschen im allt�glichen
Leben die Wahrheit? - Gewiss nicht, weil ein Gott das L�gen verboten
hat. Sondern erstens: weil es bequemer ist; denn die L�ge erfordert
Erfindung, Verstellung und Ged�chtniss. (Wesshalb Swift sagt: wer eine
L�ge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er �bernimmt; er
muss n�mlich, um eine L�ge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.)
Sodann: weil es in schlichten Verh�ltnissen vortheilhaft ist, direct
zu sagen: ich will diess, ich habe diess gethan, und dergleichen;
also weil der Weg des Zwangs und der Autorit�t sicherer ist, als
der der List. - Ist aber einmal ein Kind in verwickelten h�uslichen
Verh�ltnissen aufgezogen worden, so handhabt es ebenso nat�rlich
die L�ge und sagt unwillk�rlich immer Das, was seinem Interesse
entspricht; ein Sinn f�r Wahrheit, ein Widerwille gegen die L�ge an
sich ist ihm ganz fremd und unzug�nglich, und so l�gt es in aller
Unschuld.


55.

Des Glaubens wegen die Moral verd�chtigen. - Keine Macht l�sst sich
behaupten, wenn lauter Heuchler sie vertreten; die katholische Kirche
mag noch so viele "weltliche" Elemente besitzen, ihre Kraft beruht
auf jenen auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche
sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und deren Blick
und abgeh�rmter Leib von Nachtwachen, Hungern, gl�hendem Gebete,
vielleicht selbst von Geisselhieben redet; Diese ersch�ttern die
Menschen und machen ihnen Angst: wie, wenn es n�thig w�re, so zu
leben? - diess ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick auf die
Zunge legt. Indem sie diesen Zweifel verbreiten, gr�nden sie immer
von Neuem wieder einen Pfeiler ihrer Macht; selbst die Freigesinnten
wagen es nicht, dem derartig Selbstlosen mit hartem Wahrheitssinn zu
widerstehen und zu sagen: "Betrogner du, betr�ge nicht!" - Nur die
Differenz der Einsichten trennt sie von ihm, durchaus keine Differenz
der G�te oder Schlechtigkeit; aber was man nicht mag, pflegt man
gew�hnlich auch ungerecht zu behandeln. So spricht man von der
Schlauheit und der verruchten Kunst der Jesuiten, aber �bersieht,
welche Selbst�berwindung jeder einzelne Jesuit sich auferlegt und wie
die erleichterte Lebenspraxis, welche die jesuitischen Lehrb�cher
predigen, durchaus nicht ihnen, sondern dem Laienstande zu Gute kommen
soll. Ja man darf fragen, ob wir Aufgekl�rten bei ganz gleicher Taktik
und Organisation eben so gute Werkzeuge, ebenso bewundernsw�rdig durch
Selbstbesiegung, Unerm�dlichkeit, Hingebung sein w�rden.


56.

Sieg der Erkenntniss �ber das radicale B�se. - Es tr�gt Dem, der weise
werden will, einen reichlichen Gewinn ein, eine Zeit lang einmal
die Vorstellung vom gr�ndlich b�sen und verderbten Menschen gehabt
zu haben: sie ist falsch, wie die entgegengesetzte; aber ganze
Zeitstrecken hindurch besass sie die Herrschaft und ihre Wurzeln haben
sich bis in uns und unsere Welt hinein ver�stet. Um uns zu begreifen,
m�ssen wir sie begreifen; um aber dann h�her zu steigen, m�ssen wir
�ber sie hinwegsteigen. Wir erkennen dann, dass es keine S�nden im
metaphysischen Sinne giebt; aber, im gleichen Sinne, auch keine
Tugenden; dass dieses ganze Bereich sittlicher Vorstellungen
fortw�hrend im Schwanken ist, dass es h�here und tiefere Begriffe von
gut und b�se, sittlich und unsittlich giebt. Wer nicht viel mehr von
den Dingen begehrt, als Erkenntniss derselben, kommt leicht mit seiner
Seele zur Ruhe und wird h�chstens aus Unwissenheit, aber schwerlich
aus Begehrlichkeit fehlgreifen (oder s�ndigen, wie die Welt es
heisst). Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und ausrotten
wollen; aber sein einziges ihn v�llig beherrschendes Ziel, zu aller
Zeit so gut wie m�glich zu erkennen, wird ihn k�hl machen und alle
Wildheit in seiner Anlage bes�nftigen. Ueberdiess ist er einer Menge
qu�lender Vorstellungen losgeworden, er empfindet Nichts mehr bei dem
Worte H�llenstrafen, S�ndhaftigkeit, Unf�higkeit zum Guten: er erkennt
darin nur die verschwebenden Schattenbilder falscher Welt- und
Lebensbetrachtungen.


57.

Moral als Selbstzertheilung des Menschen. - Ein guter Autor, der
wirklich das Herz f�r seine Sache hat, w�nscht, dass jemand komme
und ihn selber dadurch vernichte, dass er dieselbe Sache deutlicher
darstelle und die in ihr enthaltenen Fragen ohne Rest beantworte. Das
liebende M�dchen w�nscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe an
der Untreue des Geliebten bew�hren k�nne. Der Soldat w�nscht, dass er
f�r sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld falle.- denn in
dem Siege seines Vaterlandes siegt sein h�chstes W�nschen mit. Die
Mutter giebt dem Kinde, was sie sich selber entzieht, Schlaf, die
beste Speise, unter Umst�nden ihre Gesundheit, ihr Verm�gen. - Sind
das Alles aber unegoistische Zust�nde? Sind diese Thaten der Moralit�t
Wunder, weil sie, nach dem Ausdrucke Schopenhauer's, "unm�glich
und doch wirklich" sind? Ist es nicht deutlich, dass in all diesen
F�llen der Mensch Etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen, ein
Erzeugniss mehr liebt, als etwas Anderes von sich, dass er also sein
Wesen zertheilt und dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt? Ist
es etwas wesentlich Verschiedenes, wenn ein Trotzkopf sagt: "ich will
lieber �ber den Haufen geschossen werden, als diesem Menschen da einen
Schritt aus dem Wege gehn?" - Die Neigung zu Etwas (Wunsch, Trieb,
Verlangen) ist in allen genannten F�llen vorhanden; ihr nachzugeben,
mit allen Folgen, ist jedenfalls nicht "unegoistisch". - In der Moral
behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.


58.

Was man versprechen kann. - Man kann Handlungen versprechen, aber
keine Empfindungen; denn diese sind unwillk�rlich. Wer jemandem
verspricht, ihn immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer
treu zu sein, verspricht Etwas, das nicht in seiner Macht steht; wohl
aber kann er solche Handlungen versprechen, welche zwar gew�hnlich die
Folgen der Liebe, des Hasses, der Treue sind, aber auch aus anderen
Motiven entspringen k�nnen: denn zu einer Handlung f�hren mehrere Wege
und Motive. Das Versprechen, jemanden immer zu lieben, heisst also: so
lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen;
liebe ich dich nicht mehr, so wirst du doch die selben Handlungen,
wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen: so dass
der Schein in den K�pfen der Mitmenschen bestehen bleibt, dass die
Liebe unver�ndert und immer noch die selbe sei. - Man verspricht also
die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung
jemandem immerw�hrende Liebe gelobt.


59.

Intellect und Moral. - Man muss ein gutes Ged�chtniss haben, um
gegebene Versprechen halten zu k�nnen. Man muss eine starke Kraft der
Einbildung haben, um Mitleid haben zu k�nnen. So eng ist die Moral an
die G�te des Intellects gebunden.


60.

Sich r�chen wollen und -sich r�chen. -Einen Rachegedanken haben und
ausf�hren heisst einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber
vor�bergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth,
ihn auszuf�hren, heisst ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an
Leib und Seele mit sich herumtragen. Die Moral, welche nur auf die
Absichten sieht, taxirt beide F�lle gleich; f�r gew�hnlich taxirt man
den ersten Fall als den schlimmeren (wegen der b�sen Folgen, welche
die That der Rache vielleicht nach sich zieht). Beide Sch�tzungen sind
kurzsichtig.


61.

Warten-k�nnen. - Das Warten-k�nnen ist so schwer, dass die gr�ssten
Dichter es nicht verschm�ht haben, das Nicht-warten-k�nnen zum Motiv
ihrer Dichtungen zu machen. So Shakespeare im Othello, Sophokles
im Ajax: dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag noch seine
Empfindung h�tte abk�hlen lassen, nicht mehr n�thig geschienen
h�tte, wie der Orakelspruch andeutet; wahrscheinlich w�rde er den
schrecklichen Einfl�sterungen der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen
geschlagen und zu sich gesprochen haben - wer hat denn nicht schon,
in meinem Falle, ein Schaf f�r einen Helden angesehen? ist es denn
so etwas Ungeheures? Im Gegentheil, es ist nur etwas allgemein
Menschliches: Ajax durfte sich dergestalt Trost zusprechen. Die
Leidenschaft will nicht warten; das Tragische im Leben grosser M�nner
liegt h�ufig nicht in ihrem Conflicte mit der Zeit und der Niedrigkeit
ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unf�higkeit, ein Jahr, zwei
Jahre ihr Werk zu verschieben; sie k�nnen nicht warten. - Bei allen
Duellen haben die zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die
betheiligten Personen noch warten k�nnen: ist diess nicht der Fall,
so ist ein Duell vern�nftig, insofern Jeder von Beiden sich sagt:
"entweder lebe ich weiter, dann muss jener augenblicklich sterben,
oder umgekehrt." Warten hiesse in solchem Falle an jener furchtbaren
Marter der verletzten Ehre angesichts ihres Verletzers noch l�nger
leiden; und diess kann eben mehr Leiden sein, als das Leben �berhaupt
werth ist.


62.

Schwelgerei der Rache. -Grobe Menschen, welche sich beleidigt f�hlen,
pflegen den Grad der Beleidigung so hoch als m�glich zu nehmen und
erz�hlen die Ursache mit stark �bertreibenden Worten, um nur in dem
einmal erweckten Hass- und Rachegef�hl sich recht ausschwelgen zu
k�nnen.


63.

Werth der Verkleinerung. - Nicht wenige, vielleicht die allermeisten
Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse T�chtigkeit im
Handeln bei sich aufrecht zu erhalten, durchaus n�thig, alle ihnen
bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu
verkleinern. Da aber die geringen Naturen in der Ueberzahl sind und es
sehr viel daran liegt, ob sie jene T�chtigkeit haben oder verlieren,
so -


64.

Der Auf brausende. - Vor Einem, der gegen uns aufbraust, soll man
sich in Acht nehmen, wie vor Einem, der uns einmal nach dem Leben
getrachtet hat: denn dass wir noch leben, das liegt an der Abwesenheit
der Macht zu t�dten; gen�gten Blicke, so w�re es l�ngst um uns
geschehen. Es ist ein St�ck roher Cultur, durch Sichtbarwerdenlassen
der physischen Wildheit, durch Furchterregen Jemanden zum Schweigen zu
bringen. - Ebenso ist jener kalte Blick, welchen Vornehme gegen ihre
Bedienten haben, ein Ueberrest jener kastenm�ssigen Abgr�nzungen
zwischen Mensch und Mensch, ein St�ck rohen Alterthums; die Frauen,
die Bewahrerinnen des Alten, haben auch dieses Survival treuer
bewahrt.


65.

Wohin die Ehrlichkeit f�hren kann. -Jemand hatte die �ble
Angewohnheit, sich �ber die Motive, aus denen er handelte und die so
gut und so schlecht waren wie die Motive aller Menschen, gelegentlich
ganz ehrlich auszusprechen. Er erregte erst Anstoss, dann Verdacht,
wurde allm�hlich geradezu verfehmt und in die Acht der Gesellschaft
erkl�rt, bis endlich die Justiz sich eines so verworfenen Wesens
erinnerte, bei Gelegenheiten, wo sie sonst kein Auge hatte, oder
dasselbe zudr�ckte. Der Mangel an Schweigsamkeit �ber das allgemeine
Geheimniss und der unverantwortliche Hang, zu sehen, was Keiner sehen
will - sich selber - brachten ihn zu Gef�ngniss und fr�hzeitigem Tod.


66.

Str�flich, nie gestraft. - Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht
darin, dass wir sie wie Schufte behandeln.


67.

Sancta simplicitas der Tugend. - Jede Tugend hat Vorrechte: zum
Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen eines Verurtheilten ihr eigenes
B�ndchen Holz zu liefern.


68.

Moralit�t und Erfolg. - Nicht nur die Zuschauer einer That bemessen
h�ufig das Moralische oder Unmoralische an derselben nach dem Erfolge:
nein, der Th�ter selbst thut diess. Denn die Motive und Absichten sind
selten deutlich und einfach genug, und mitunter scheint selbst das
Ged�chtniss durch den Erfolg der That getr�bt, so dass man seiner That
selber falsche Motive unterschiebt oder die unwesentlichen Motive als
wesentliche behandelt. Der Erfolg giebt oft einer That den vollen
ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt den Schatten
von Gewissensbissen �ber die achtungsw�rdigste Handlung. Daraus
ergiebt sich die bekannte Praxis des Politikers, welcher denkt: "gebt
mir nur den Erfolg: mit ihm habe ich auch alle ehrlichen Seelen auf
meine Seite gebracht - und mich vor mir selber ehrlich gemacht." - Auf
�hnliche Weise soll der Erfolg die bessere Begr�ndung ersetzen. Noch
jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christenthums �ber die
griechische Philosophie sei ein Beweis f�r die gr�ssere Wahrheit des
ersteren, - obwohl in diesem Falle nur das Gr�bere und Gewaltsamere
�ber das Geistigere und Zarte gesiegt hat. Wie es mit der gr�sseren
Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden
Wissenschaften Punct um Punct an Epikur's Philosophie angekn�pft, das
Christenthum aber Punct um Punct zur�ckgewiesen haben.


69.

Liebe und Gerechtigkeit. - Warum �bersch�tzt man die Liebe zu
Ungunsten der Gerechtigkeit und sagt die sch�nsten Dinge von ihr,
als ob sie ein viel h�heres Wesen als jene sei? Ist sie denn nicht
ersichtlich d�mmer als jene? - Gewiss, aber gerade desshalb um so viel
angenehmer f�r Alle. Sie ist dumm und besitzt ein reiches F�llhorn;
aus ihm theilt sie ihre Gaben aus, an jedermann, auch wenn er sie
nicht verdient, ja ihr nicht einmal daf�r dankt. Sie ist unparteiisch
wie der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung, nicht nur
den Ungerechten, sondern unter Umst�nden auch den Gerechten bis auf
die Haut nass macht.


70.

Hinrichtung. - Wie kommt es, dass jede Hinrichtung uns mehr
beleidigt, als ein Mord? Es ist die K�lte der Richter, die peinliche
Vorbereitung, die Einsicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt
wird, um andere abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht bestraft,
selbst wenn es eine g�be: diese liegt in Erziehern, Eltern,
Umgebungen, in uns, nicht im M�rder, - ich meine die veranlassenden
Umst�nde.


71.

Die Hoffnung. - Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und �ffnete
es. Es war das Geschenk der G�tter an die Menschen, von Aussen ein
sch�nes verf�hrerisches Geschenk und "Gl�cksfass" zubenannt. Da flogen
all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen
sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein
einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschl�pft: da schlug
Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu und so blieb es darin. F�r
immer hat der Mensch nun das Gl�cksfass im Hause und meint Wunder was
f�r einen Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er greift
darnach: wenn es ihn gel�stet; denn er weiss nicht, dass jenes
Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war, und h�lt
das zur�ckgebliebene Uebel f�r das gr�sste Gl�cksgut, - es ist die
Hoffnung. - Zeus wollte n�mlich, dass der Mensch, auch noch so sehr
durch die anderen Uebel gequ�lt, doch das Leben nicht wegwerfe,
sondern fortfahre, sich immer von Neuem qu�len zu lassen. Dazu giebt
er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das �belste der
Uebel, weil sie die Qual der Menschen verl�ngert.


72.

Grad der moralischen Erhitzbarkeit unbekannt. - Daran, dass man
gewisse ersch�tternde Anblicke und Eindr�cke gehabt oder nicht
gehabt hat, zum Beispiel eines unrecht gerichteten, get�dteten oder
gemarterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen feindlichen
Ueberfalls, h�ngt es ab, ob unsere Leidenschaften zur Gl�hhitze kommen
und das ganze Leben lenken oder nicht. Keiner weiss, wozu ihn die
Umst�nde, das Mitleid, die Entr�stung treiben k�nnen, er kennt den
Grad seiner Erhitzbarkeit nicht. Erb�rmliche kleine Verh�ltnisse
machen erb�rmlich; es ist gew�hnlich nicht die Qualit�t der
Erlebnisse, sondern ihre Quantit�t, von welcher der niedere und h�here
Mensch abh�ngt, im Guten und B�sen.


73.

Der M�rtyrer wider Willen. - In einer Partei gab es einen Menschen,
der zu �ngstlich und feige war, um je seinen Kameraden zu
widersprechen: man brauchte ihn zu jedem Dienst, man erlangte von ihm
Alles, weil er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen
mehr als vor dem Tode f�rchtete; es war eine erb�rmliche schwache
Seele. Sie erkannten diess und machten auf Grund der erw�hnten
Eigenschaften aus ihm einen Heros und zuletzt gar einen M�rtyrer.
Obwohl der feige Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit
den Lippen immer ja, selbst noch auf dem Schaffot, als er f�r die
Ansichten seiner Partei starb: neben ihm n�mlich stand einer seiner
alten Genossen, der ihn durch Wort und Blick so tyrannisirte, dass er
wirklich auf die anst�ndigste Weise den Tod erlitt und seitdem als
M�rtyrer und grosser Charakter gefeiert wird.


74.

Alltags-Maassstab. - Man wird selten irren, wenn man extreme
Handlungen auf Eitelkeit, mittelm�ssige auf Gew�hnung und kleinliche
auf Furcht zur�ckf�hrt.


75.

Missverst�ndniss �ber die Tugend. - Wer die Untugend in Verbindung
mit der Lust kennen gelernt hat, wie Der, welcher eine genusss�chtige
Jugend hinter sich hat, bildet sich ein, dass die Tugend mit der
Unlust verbunden sein m�sse. Wer dagegen von seinen Leidenschaften und
Lastern sehr geplagt worden ist, ersehnt in der Tugend die Ruhe und
das Gl�ck der Seele. Daher ist es m�glich, dass zwei Tugendhafte
einander gar nicht verstehen.


76.

Der Asket. - Der Asket macht aus der Tugend eine Noth.


77.

Die Ehre von der Person auf die Sache �bertragen. - Man ehrt allgemein
die Handlungen der Liebe und Aufopferung zu Gunsten des N�chsten, wo
sie sich auch immer zeigen. Dadurch vermehrt man die Sch�tzung der
Dinge, welche in jener Art geliebt werden oder f�r welche man sich
aufopfert: obwohl sie vielleicht an sich nicht viel werth sind. Ein
tapferes Heer �berzeugt von der Sache, f�r welche es k�mpft.


78.

Ehrgeiz ein Surrogat des moralischen Gef�hls. - Das moralische Gef�hl
darf in solchen Naturen nicht fehlen, welche keinen Ehrgeiz haben.
Die Ehrgeizigen behelfen sich auch ohne dasselbe, mit fast gleichem
Erfolge. - Desshalb werden S�hne aus bescheidenen, dem Ehrgeiz
abgewandten Familien, wenn sie einmal das moralische Gef�hl verlieren,
gew�hnlich in schneller Steigerung zu vollkommenen Lumpen.


79.

Eitelkeit bereichert. - Wie arm w�re der menschliche Geist ohne die
Eitelkeit! So aber gleicht er einem wohlgef�llten und immer neu sich
f�llenden Waarenmagazin, welches K�ufer jeder Art anlockt: Alles fast
k�nnen sie finden, Alles haben, vorausgesetzt, dass sie die g�ltige
M�nzsorte (Bewunderung) mit sich bringen.


80.

Greis und Tod.- Abgesehen von den Forderungen, welche die Religion
stellt, darf man wohl fragen: warum sollte es f�r einen alt gewordenen
Mann, welcher die Abnahme seiner Kr�fte sp�rt, r�hmlicher sein, seine
langsame Ersch�pfung und Aufl�sung abzuwarten, als sich mit vollem
Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbstt�dtung ist in diesem Falle
eine ganz nat�rliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der
Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt
hat, in jenen Zeiten als die H�upter der griechischen Philosophie und
die wackersten r�mischen Patrioten durch Selbstt�dtung zu sterben
pflegten. Die Sucht dagegen, sich mit �ngstlicher Berathung von
Aerzten und peinlichster Lebensart von Tag zu Tage fortzufristen, ohne
Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch n�her zu kommen, ist viel
weniger achtbar. - Die Religionen sind reich an Ausfl�chten vor der
Forderung der Selbstt�dtung: dadurch schmeicheln sie sich bei Denen
ein, welche in das Leben verliebt sind.


81.

Irrth�mer des Leidenden und des Th�ters. - Wenn der Reiche dem
Armen ein Besitzthum nimmt (zum Beispiel ein F�rst dem Plebejer die
Geliebte), so entsteht in dem Armen ein Irrthum; er meint, jener m�sse
ganz verrucht sein, um ihm das Wenige, was er habe, zu nehmen. Aber
jener empfindet den Werth eines einzelnen Besitzthums gar nicht so
tief, weil er gew�hnt ist, viele zu haben: so kann er sich nicht in
die Seele des Armen versetzen und thut lange nicht so sehr Unrecht,
als dieser glaubt. Beide haben von einander eine falsche Vorstellung.
Das Unrecht des M�chtigen, welches am meisten in der Geschichte
emp�rt, ist lange nicht so gross, wie es scheint. Schon die angeerbte
Empfindung, ein h�heres Wesen mit h�heren Anspr�chen zu sein, macht
ziemlich kalt und l�sst das Gewissen ruhig: wir Alle sogar empfinden,
wenn der Unterschied zwischen uns und einem andern Wesen sehr gross
ist, gar Nichts mehr von Unrecht und t�dten eine M�cke zum Beispiel
ohne jeden Gewissensbiss. So ist es kein Zeichen von Schlechtigkeit
bei Xerxes (den selbst alle Griechen als hervorragend edel schildern),
wenn er dem Vater seinen Sohn nimmt und ihn zerst�ckeln l�sst,
weil dieser ein �ngstliches, omin�ses Misstrauen gegen den ganzen
Heerzug ge�ussert hatte: der Einzelne wird in diesem Falle wie ein
unangenehmes Insect beseitigt, er steht zu niedrig, um l�nger qu�lende
Empfindungen bei einem Weltherrscher erregen zu d�rfen. Ja, jeder
Grausame ist nicht in dem Maasse grausam, als es der Misshandelte
glaubt; die Vorstellung des Schmerzes ist nicht das Selbe wie das
Leiden desselben. Ebenso steht es mit dem ungerechten Richter, mit
dem Journalisten, welcher mit kleinen Unredlichkeiten die �ffentliche
Meinung irre f�hrt. Ursache und Wirkung sind in allen diesen F�llen
von ganz verschiedenen Empfindungs- und Gedankengruppen umgeben;
w�hrend man unwillk�rlich voraussetzt, dass Th�ter und Leidender
gleich denken und empfinden, und gem�ss dieser Voraussetzung die
Schuld des Einen nach dem Schmerz des Andern misst.


82.

Haut der Seele. - Wie die Knochen, Fleischst�cke, Eingeweide und
Blutgef�sse mit einer Haut umschlossen sind, die den Anblick des
Menschen ertr�glich macht, so werden die Regungen und Leidenschaften
der Seele durch die Eitelkeit umh�llt: sie ist die Haut der Seele.


83.

Schlaf der Tugend. - Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer
aufstehen.


84.

Feinheit der Scham. - Die Menschen sch�men sich nicht, etwas
Schmutziges zu denken, aber wohl, wenn sie sich vorstellen, dass man
ihnen diese schmutzigen Gedanken zutraue.


85.

Bosheit ist selten. - Die meisten Menschen sind viel zu sehr mit sich
besch�ftigt, um boshaft zu sein.


86.

Das Z�nglein an der Wage. - Man lobt oder tadelt, je nachdem das Eine
oder das Andere mehr Gelegenheit giebt, unsere Urtheilskraft leuchten
zu lassen.


87.

Lucas 18,14 verbessert. - Wer sich selbst erniedrigt, will erh�het
werden.


88.

Verhinderung des Selbstmordes. - Es giebt ein Recht, wonach wir einem
Menschen das Leben nehmen, aber keines, wonach wir ihm das Sterben
nehmen: diess ist nur Grausamkeit.


89.

Eitelkeit.- Uns liegt an der guten Meinung der Menschen, einmal weil
sie uns n�tzlich ist, sodann weil wir ihnen Freude machen wollen
(Kinder den Eltern, Sch�ler den Lehrern und wohlwollende Menschen
�berhaupt allen �brigen Menschen). Nur wo jemandem die gute Meinung
der Menschen wichtig ist, abgesehen vom Vortheil oder von seinem
Wunsche, Freude zu machen, reden wir von Eitelkeit. In diesem Falle
will sich der Mensch selber eine Freude machen, aber auf Unkosten
seiner Mitmenschen, indem er diese entweder zu einer falschen Meinung
�ber sich verf�hrt oder es gar auf einen Grad der "guten Meinung"
absieht, wo diese allen Anderen peinlich werden muss (durch Erregung
von Neid). Der Einzelne will gew�hnlich durch die Meinung Anderer
die Meinung, die er von sich hat, beglaubigen und vor sich selber
bekr�ftigen; aber die m�chtige Gew�hnung an Autorit�t - eine
Gew�hnung, die so alt als der Mensch ist - bringt Viele auch dazu,
ihren eigenen Glauben an sich auf Autorit�t zu st�tzen, also erst aus
der Hand Anderer anzunehmen: sie trauen der Urtheilskraft Anderer
mehr, als der eigenen. - Das Interesse an sich selbst, der Wunsch,
sich zu vergn�gen, erreicht bei dem Eitelen eine solche H�he, dass
er die Anderen zu einer falschen, allzu hohen Taxation seiner selbst
verf�hrt und dann doch sich an die Autorit�t der Anderen h�lt: also
den Irrthum herbeif�hrt und doch ihm Glauben schenkt. - Man muss sich
also eingestehen, dass die eitelen Menschen nicht sowohl Anderen
gefallen wollen, als sich selbst, und dass sie so weit gehen, ihren
Vortheil dabei zu vernachl�ssigen; denn es liegt ihnen oft daran, ihre
Mitmenschen ung�nstig, feindlich, neidisch, also sch�dlich gegen sich
stimmen, nur um die Freude an sich selber, den Selbstgenuss, zu haben.


90.

Gr�nze der Menschenliebe. - Jeder, welcher sich daf�r erkl�rt hat,
dass der Andere ein Dummkopf, ein schlechter Geselle sei, �rgert sich,
wenn Jener schliesslich zeigt, dass er es nicht ist.


91.

Moralit� larmoyante. - Wie viel Vergn�gen macht die Moralit�t! Man
denke nur, was f�r ein Meer angenehmer Thr�nen schon bei Erz�hlungen
edler, grossm�thiger Handlungen geflossen ist! - Dieser Reiz
des Lebens w�rde schwinden, wenn der Glaube an die v�llige
Unverantwortlichkeit �berhand n�hme.


92.

Ursprung der Gerechtigkeit. - Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt
ihren Ursprung unter ungef�hr gleich M�chtigen, wie diess Thukydides
(in dem furchtbaren Gespr�che der athenischen und melischen Gesandten)
richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt
giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Sch�digen w�rde, da
entsteht der Gedanke sich zu verst�ndigen und �ber die beiderseitigen
Anspr�che zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der
anf�ngliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern
zufrieden, indem jeder bekommt, was er mehr sch�tzt als der Andere.
Man giebt jedem, was er haben will als das nunmehr Seinige, und
empf�ngt dagegen das Gew�nschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung
und Austausch unter der Voraussetzung einer ungef�hr gleichen
Machtstellung: so geh�rt urspr�nglich die Rache in den Bereich der
Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. -
Gerechtigkeit geht nat�rlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen
Selbsterhaltung zur�ck, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: "wozu
sollte ich mich nutzlos sch�digen und mein Ziel vielleicht doch nicht
erreichen?" - Soviel vom Ursprung der Gerechtigkeit. Dadurch, dass die
Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gem�ss, den urspr�nglichen
Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen vergessen haben und
namentlich weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt
worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist
allm�hlich der Anschein entstanden, als sei eine gerechte Handlung
eine unegoistische: auf diesem Anschein aber beruht die hohe Sch�tzung
derselben, welche �berdiess, wie alle Sch�tzungen, fortw�hrend noch im
Wachsen ist: denn etwas Hochgesch�tztes wird mit Aufopferung erstrebt,
nachgeahmt, vervielf�ltigt und w�chst dadurch, dass der Werth der
aufgewandten M�he und Beeiferung von jedem Einzelnen noch zum Werthe
des gesch�tzten Dinges hinzugeschlagen wird. - Wie wenig moralisch
s�he die Welt ohne die Vergesslichkeit aus! Ein Dichter k�nnte sagen,
dass Gott die Vergesslichkeit als Th�rh�terin an die Tempelschwelle
der Menschenw�rde hingelagert habe.


93.

Vom Rechte des Schw�cheren. - Wenn sich jemand unter Bedingungen einem
M�chtigeren unterwirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die
Gegenbedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt verbrennen und
so dem M�chtigen eine grosse Einbusse machen kann. Desshalb entsteht
hier eine Art Gleichstellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt
werden k�nnen. Der Feind hat seinen Vortheil an der Erhaltung. -
Insofern giebt es auch Rechte zwischen Sclaven und Herren, das heisst
genau in dem Maasse, in welchem der Besitz des Sclaven seinem Herrn
n�tzlich und wichtig ist. Das Recht geht urspr�nglich soweit, als
Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und
dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch der Schw�chere noch
Rechte, aber geringere. Daher das ber�hmte unusquisque tantum juris
habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum potentia valere
creditur).


94.

Die drei Phasen der bisherigen Moralit�t. - Es ist das erste Zeichen,
dass das Thier Mensch geworden ist, wenn sein Handeln nicht mehr
auf das augenblickliche Wohlbefinden, sondern auf das dauernde sich
bezieht, dass der Mensch also n�tzlich, zweckm�ssig wird.- da bricht
zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus. Eine noch h�here
Stufe ist erreicht, wenn er nach dem Princip der Ehre handelt;
verm�ge desselben ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsamen
Empfindungen, und das erhebt ihn hoch �ber die Phase, in der nur die
pers�nlich verstandene N�tzlichkeit ihn leitete: er achtet und will
geachtet werden, das heisst: er begreift den Nutzen als abh�ngig von
dem, was er �ber Andere, was Andere �ber ihn meinen. Endlich handelt
er, auf der h�chsten Stufe der bisherigen Moralit�t nach seinem
Maassstab �ber die Dinge und Menschen, er selber bestimmt f�r sich und
Andere, was ehrenvoll, was n�tzlich ist; er ist zum Gesetzgeber der
Meinungen geworden, gem�ss dem immer h�her entwickelten Begriff
des N�tzlichen und Ehrenhaften. Die Erkenntnis bef�higt ihn, das
N�tzlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem
pers�nlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder
Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als
Collectiv-Individuum.


95.

Moral des reifen Individuums. - Man hat bisher als das eigentliche
Kennzeichen der moralischen Handlung das Unpers�nliche angesehen; und
es ist nachgewiesen, dass zu Anfang die R�cksicht auf den allgemeinen
Nutzen es war, derentwegen man alle unpers�nlichen Handlungen lobte
und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandelung dieser
Ansichten bevorstehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass
gerade in der m�glichst pers�nlichen R�cksicht auch der Nutzen f�r
das Allgemeine am gr�ssten ist: so dass gerade das streng pers�nliche
Handeln dem jetzigen Begriff der Moralit�t (als einer allgemeinen
N�tzlichkeit) entspricht? Aus sich eine ganze Person machen und in
Allem, was man thut, deren h�chstes Wohl in's Auge fassen - das bringt
weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten
Anderer. Wir Alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen
Beachtung des Pers�nlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet, -
gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von
ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem H�lfebed�rftigen
zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte w�re, das geopfert
werden m�sste. Auch jetzt wollen wir f�r unsere Mitmenschen arbeiten,
aber nur so weit, als wir unsern eigenen h�chsten Vortheil in dieser
Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was
man als seinen Vortheil versteht; gerade das unreife, unentwickelte,
rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.


96.

Sitte und sittlich.- Moralisch, sittlich, ethisch sein heisst Gehorsam
gegen ein altbegr�ndetes Gesetz oder Herkommen haben. Ob man mit M�he
oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei gleichg�ltig, genug, dass
man es thut. "Gut" nennt man Den, welcher wie von Natur, nach langer
Vererbung, also leicht und gern das Sittliche thut, je nachdem diess
ist (zum Beispiel Rache �bt, wenn Rache-�ben, wie bei den �lteren
Griechen, zur guten Sitte geh�rt). Er wird gut genannt, weil er "wozu"
gut ist; da aber Wohlwollen, Mitleiden und dergleichen in dem Wechsel
der Sitten immer als "gut wozu", als n�tzlich empfunden wurde, so
nennt man jetzt vornehmlich den Wohlwollenden, H�lfreichen "gut". B�se
ist "nicht sittlich" (unsittlich) sein, Unsitte �ben, dem Herkommen
widerstreben, wie vern�nftig oder dumm dasselbe auch sei; das
Sch�digen des N�chsten ist aber in allen den Sittengesetzen der
verschiedenen Zeiten vornehmlich als sch�dlich empfunden worden, so
dass wir jetzt namentlich bei dem Wort "b�se" an die freiwillige
Sch�digung des N�chsten denken. Nicht das "Egoistische" und das
"Unegoistische" ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur
Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und b�se gebracht hat,
sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und L�sung davon. Wie
das Herkommen entstanden ist, das ist dabei gleichg�ltig, jedenfalls
ohne R�cksicht auf gut und b�se oder irgend einen immanenten
kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung
einer Gemeinde, eines Volkes; jeder abergl�ubische Brauch, der auf
Grund eines falsch gedeuteten Zufalls entstanden ist, erzwingt ein
Herkommen, welchem zu folgen sittlich ist; sich von ihm l�sen ist
n�mlich gef�hrlich, f�r die Gemeinschaft noch mehr sch�dlich als f�r
den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel und jede Verletzung ihrer
Vorrechte an der Gemeinde und nur insofern auch am Individuum straft).
Nun wird jedes Herkommen fortw�hrend ehrw�rdiger, je weiter der
Ursprung abliegt, je mehr dieser vergessen ist; die ihm gezollte
Verehrung h�uft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen
wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so ist jedenfalls die
Moral der Piet�t eine viel �ltere Moral, als die, welche unegoistische
Handlungen verlangt.


97.

Die Lust in der Sitte. - Eine wichtige Gattung der Lust und damit
der Quelle der Moralit�t entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das
Gewohnte leichter, besser, also lieber, man empfindet dabei eine Lust,
und weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bew�hrt hat, also
n�tzlich ist; eine Sitte, mit der sich leben l�sst, ist als heilsam,
f�rderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bew�hrten
Versuchen. Die Sitte ist demnach die Vereinigung des Angenehmen und
des N�tzlichen, �berdiess macht sie kein Nachdenken n�thig. Sobald
der Mensch Zwang aus�ben kann, �bt er ihn aus, um seine Sitten
durchzusetzen und einzuf�hren, denn f�r ihn sind sie die bew�hrte
Lebensweisheit. Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes
einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss: weil man sich mit
einer Sitte wohl f�hlt oder wenigstens weil man vermittelst derselben
seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig, denn sie
gilt als die einzige M�glichkeit, unter der man sich wohl f�hlen kann;
das Wohlgef�hl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzuwachsen.
Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird
bis auf die kleinsten Einzelheiten der Sitte durchgef�hrt: da die
Einsicht in die wirkliche Causalit�t bei den niedrig stehenden V�lkern
und Culturen sehr gering ist, so sieht man mit abergl�ubischer Furcht
darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe; selbst wo die Sitte
schwer, hart, l�stig ist, wird sie ihrer scheinbar h�chsten
N�tzlichkeit wegen bewahrt. Man weiss nicht, dass der selbe Grad von
Wohlbefinden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass selbst
h�here Grade sich erreichen lassen. Wohl aber nimmt man wahr, dass
alle Sitten, auch die h�rtesten, mit der Zeit angenehmer und milder
werden, und dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und
damit zur Lust werden kann.


98.

Lust und socialer Instinct. - Aus seinen Beziehungen zu andern
Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von Lust zu jenen
Lustempfindungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt; wodurch er
das Reich der Lustempfindung �berhaupt bedeutend umf�nglicher macht.
Vielleicht hat er mancherlei, das hierher geh�rt, schon von den
Thieren her �berkommen, welche ersichtlich Lust empfinden, wenn sie
mit einander spielen, namentlich die M�tter mit den jungen. Sodann
gedenke man der geschlechtlichen Beziehungen, welche jedem M�nnchen
ungef�hr jedes Weibchen interessant in Ansehung der Lust erscheinen
lassen, und umgekehrt. Die Lustempfindung auf Grund menschlicher
Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemeinsame
Freude, die Lust mitsammen genossen, erh�ht dieselbe, sie giebt dem
Einzelnen Sicherheit, macht ihn gutm�thiger, l�st das Misstrauen, den
Neid: denn man f�hlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicher
Weise sich wohl f�hlen. Die gleichartigen Aeusserungen der Lust
erwecken die Phantasie der Mitempfindung, das Gef�hl etwas Gleiches zu
sein: das Selbe thun auch die gemeinsamen Leiden, die selben Unwetter,
Gefahren, Feinde. Darauf baut sich dann wohl das �lteste B�ndniss auf:
dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden
Unlust zum Nutzen jedes Einzelnen ist. Und so w�chst der sociale
Instinct aus der Lust heraus.


99.

Das Unschuldige an den sogenannten b�sen Handlungen. - Alle "b�sen"
Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch
genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des
Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht b�se. "Schmerz
bereiten an sich" existirt nicht, ausser im Gehirn der Philosophen,
ebensowenig "Lust bereiten an sich" (Mitleid im Schopenhauerischen
Sinne). In dem Zustand vor dem Staate t�dten wir das Wesen, sei es
Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen
will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir
es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere
thun w�rden. - Die b�sen Handlungen, welche uns jetzt am meisten
emp�ren, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns
zuf�gt, freien Willen habe, also dass es in seinem Belieben gelegen
habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben
erregt den Hass, die Rachlust, die T�cke, die ganze Verschlechterung
der Phantasie, w�hrend wir einem Thiere viel weniger z�rnen, weil
wir diess als unverantwortlich betrachten. Leid thun nicht aus
Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung - ist Folge eines falschen
Urtheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne kann im
Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur Abschreckung andere
Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche
abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der
Gewaltth�tige, M�chtige, der urspr�ngliche Staatengr�nder, welcher
sich die Schw�cheren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt
noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches
diess hindern kann. Es kann erst dann der Boden f�r alle Moralit�t
zurecht gemacht werden, wenn ein gr�sseres Individuum oder ein
Collectiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die
Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in
einen Verband einordnet. Der Moralit�t geht der Zwang voraus, ja sie
selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung
der Unlust, f�gt. Sp�ter wird sie Sitte, noch sp�ter freier Gehorsam,
endlich beinahe Instinct: dann ist sie wie alles lang Gew�hnte und
Nat�rliche mit Lust verkn�pft - und heisst nun Tugend.


100.

Scham.- Die Scham existirt �berall, wo es ein "Mysterium" giebt; diess
aber ist ein religi�ser Begriff, welcher in der �lteren Zeit der
menschlichen Cultur einen grossen Umfang hatte. Ueberall gab es
umgr�nzte Gebiete, zu welchen das g�ttliche Recht den Zutritt
versagte, ausser unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz
r�umlich, insofern gewisse St�tten vom Fusse der Uneingeweihten
nicht zu betreten waren und in deren N�he Diese Schauder und Angst
empfanden. Diess Gef�hl wurde vielfach auf andere Verh�ltnisse
�bertragen, zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verh�ltnisse, welche
als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blicken der
Jugend, zu deren Vortheil, entzogen werden sollten: Verh�ltnisse, zu
deren Schutz und Heilighaltung viele G�tter th�tig und im ehelichen
Gemache als W�chter aufgestellt gedacht wurden. (Im T�rkischen heisst
desshalb diess Gemach Harem "Heiligthum", wird also mit demselben
Worte bezeichnet, welches f�r die Vorh�fe der Moscheen �blich ist.) So
ist das K�nigthum als ein Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt,
dem Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham: wovon
viele Nachwirkungen noch jetzt, unter V�lkern, die sonst keineswegs
zu den versch�mten geh�ren, zu f�hlen sind. Ebenso ist die ganze Welt
innerer Zust�nde, die sogenannte "Seele", auch jetzt noch f�r alle
Nicht-Philosophen ein Mysterium, nachdem diese, endlose Zeit hindurch,
als g�ttlichen Ursprungs, als g�ttlichen Verkehrs w�rdig geglaubt
wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham.


101.

Richtet nicht. - Man muss sich h�ten, bei der Betrachtung fr�herer
Perioden nicht in ein ungerechtes Schimpfen zu gerathen. Die
Ungerechtigkeit in der Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung
von Personen und V�lkern ist nicht mit unserem Maasse zu messen. Denn
damals war der Instinct der Gerechtigkeit noch nicht so weit gebildet.
Wer darf dem Genfer Calvin die Verbrennung des Arztes Servet
vorwerfen? Es war eine consequente aus seinen Ueberzeugungen
fliessende Handlung, und ebenso hatte die Inquisition ein gutes
Recht; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und ergaben eine
Consequenz, welche uns hart erscheint, weil uns jene Ansichten
fremd geworden sind. Was ist �brigens Verbrennen eines Einzelnen im
Vergleich mit ewigen H�llenstrafen f�r fast Alle! Und doch beherrschte
diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel gr�sseren
Schrecklichkeit der Vorstellung von einem Gotte wesentlich Schaden
zu thun. Auch bei uns werden politische Sectirer hart und grausam
behandelt, aber weil man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben
gelernt hat, so empfindet man hier die Grausamkeit nicht so sehr wie
dort, wo wir die Anschauungen verwerfen. Die Grausamkeit gegen Thiere
bei Kindern und Itali�nern geht auf Unverst�ndniss zur�ck; das Thier
ist namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit
hinter den Menschen zur�ckgesetzt worden. - Auch mildert sich vieles
Schreckliche und Unmenschliche in der Geschichte, an welches man kaum
glauben m�chte, durch die Betrachtung, dass der Befehlende und der
Ausf�hrende andere Personen sind: ersterer hat den Anblick nicht und
daher nicht den starken Phantasie-Eindruck, letzterer gehorcht einem
Vorgesetzten und f�hlt sich unverantwortlich. Die meisten F�rsten
und Milit�rchefs erscheinen, aus Mangel an Phantasie, leicht grausam
und hart, ohne es zu sein. - Der Egoismus ist nicht b�se, weil die
Vorstellung vom "N�chsten" -das Wort ist christlichen Ursprungs
und entspricht der Wahrheit nicht - in uns sehr schwach ist; und
wir uns gegen ihn beinahe wie gegen Pflanze und Stein frei und
unverantwortlich f�hlen. Dass der Andere leidet, ist zu lernen: und
v�llig kann es nie gelernt werden.


102.

"Der Mensch handelt immer gut." - Wir klagen die Natur nicht als
unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass
macht: warum nennen wir den sch�digenden Menschen unmoralisch?
Weil wir hier einen willk�rlich waltenden, freien Willen, dort
Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein Irrthum.
Sodann: selbst das absichtliche Sch�digen nennen wir nicht unter allen
Umst�nden unmoralisch; man t�dtet z.B. eine M�cke unbedenklich mit
Absicht, blos weil uns ihr Singen missf�llt, man straft den Verbrecher
absichtlich und thut ihm Leid an, um uns und die Gesellschaft zu
sch�tzen. Im ersten Falle ist es das Individuum, welches, um sich zu
erhalten oder selbst um sich keine Unlust zu machen, absichtlich Leid
thut; im zweiten der Staat. Alle Moral l�sst absichtliches Schadenthun
gelten bei Nothwehr: das heisst wenn es sich um die Selbsterhaltung
handelt! Aber diese beiden Gesichtspuncte gen�gen, um alle b�sen
Handlungen gegen Menschen, von Menschen ausge�bt, zu erkl�ren: man
will f�r sich Lust oder will Unlust abwehren; in irgend einem Sinne
handelt es sich immer um Selbsterhaltung. Sokrates und Plato haben
Recht: was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das heisst:
Das, was ihm gut (n�tzlich) scheint, je nach dem Grade seines
Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vern�nftigkeit.


103.

Das Harmlose an der Bosheit. - Die Bosheit hat nicht das Leid des
Andern an sich zum Ziele, sondern unsern eigenen Genuss, zum Beispiel
als Rachegef�hl oder als st�rkere Nervenaufregung. Schon jede Neckerei
zeigt, wie es Vergn�gen macht, am Andern unsere Macht auszulassen und
es zum lustvollen Gef�hle des Uebergewichts zu bringen. Ist nun das
Unmoralische daran, Lust auf Grund der Unlust Anderer zu haben? Ist
Schadenfreude teuflisch, wie Schopenhauer sagt? Nun machen wir uns
in der Natur Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Abl�sen von Steinen,
Kampf mit wilden Thieren und zwar, um unserer Kraft dabei bewusst zu
werden. Das Wissen darum, dass ein Anderer durch uns leidet, soll hier
die selbe Sache, in Bezug auf welche wir uns sonst unverantwortlich
f�hlen, unmoralisch machen? Aber w�sste man diess nicht, so h�tte man
die Lust an seiner eigenen Ueberlegenheit auch nicht dabei, diese kann
eben sich nur im Leide des Anderen zuerkennen geben, zum Beispiel bei
der Neckerei. Alle Lust an sich selber ist weder gut noch b�se; woher
sollte die Bestimmung kommen, dass man, um Lust an sich selber zu
haben, keine Unlust Anderer erregen d�rfe? Allein vom Gesichtspuncte
des Nutzens her, das heisst aus R�cksicht auf die Folgen, auf
eventuelle Unlust, wenn der Gesch�digte oder der stellvertretende
Staat Ahndung und Rache erwarten l�sst: nur Diess kann urspr�nglich
den Grund abgegeben haben, solche Handlungen sich zu versagen. -
Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum Ziele, als, wie
gesagt, die Bosheit den Schmerz des Andern an sich. Denn es birgt
mindestens zwei (vielleicht mehr) Elemente einer pers�nlichen Lust in
sich und ist dergestalt Selbstgenuss: einmal als Lust der Emotion,
welcher Art Mitleid in der Trag�die ist, und dann, wenn es zur That
treibt, als Lust der Befriedigung in der Aus�bung der Macht. Steht uns
�berdiess eine leidende Person sehr nahe, so nehmen durch Aus�bung
mitleidvoller Handlungen uns selbst ein Leid ab. - Abgesehen von
einigen Philosophen, so haben die Menschen das Mitleid, in der
Rangfolge moralischer Empfindungen immer ziemlich tief gestellt: mit
Recht.


104.

Nothwehr.- Wenn man �berhaupt die Nothwehr als moralisch gelten l�sst,
so muss man fast alle Aeusserungen des sogenannten unmoralischen
Egoismus' auch gelten lassen: man thut Leid an, raubt oder t�dtet, um
sich zu erhalten oder um sich zu sch�tzen, dem pers�nlichen Unheil
vorzubeugen; man l�gt, wo List und Verstellung das richtige Mittel der
Selbsterhaltung sind. Absichtlich sch�digen, wenn es sich um unsere
Existenz oder Sicherheit (Erhaltung unseres Wohlbefindens) handelt,
wird als moralisch concedirt; der Staat sch�digt selber unter diesem
Gesichtspunct, wenn er Strafen verh�ngt. Im unabsichtlichen Sch�digen
kann nat�rlich das Unmoralische nicht liegen, da regiert der Zufall.
Giebt es denn eine Art des absichtlichen Sch�digens, wo es sich nicht
um unsere Existenz, um die Erhaltung unseres Wohlbefindens handelt?
Giebt es ein Sch�digen aus reiner Bosheit, zum Beispiel bei der
Grausamkeit? Wenn man nicht weiss, wie weh eine Handlung thut, so ist
sie keine Handlung der Bosheit; so ist das Kind gegen das Thier nicht
boshaft, nicht b�se: es untersucht und zerst�rt dasselbe wie sein
Spielzeug. Weiss man aber je v�llig, wie weh eine Handlung einem
Andern thut? So weit unser Nervensystem reicht, h�ten wir uns vor
Schmerz: reichte es weiter, n�mlich bis in die Mitmenschen hinein, so
w�rden wir Niemandem ein Leides thun (ausser in solchen F�llen, wo
wir es uns selbst thun, also wo wir uns der Heilung halber schneiden,
der Gesundheit halber uns m�hen und anstrengen). Wir schliessen aus
Analogie, dass Etwas jemandem weh thut, und durch die Erinnerung
und die St�rke der Phantasie kann es uns dabei selber �bel werden.
Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen dem Zahnschmerz und
dem Schmerze (Mitleiden), welchen der Anblick des Zahnschmerzes
hervorruft? Also: bei dem Sch�digen aus sogenannter Bosheit ist der
Grad des erzeugten Schmerzes uns jedenfalls unbekannt; insofern aber
eine Lust bei der Handlung ist (Gef�hl der eignen Macht, der eignen
starken Erregung), geschieht die Handlung, um das Wohlbefinden
des Individuums zu erhalten und f�llt somit unter einen �hnlichen
Gesichtspunct wie die Nothwehr, die Nothl�ge. Ohne Lust kein Leben;
der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der Einzelne
diesen Kampf so k�mpft, dass die Menschen ihn gut, oder so, dass sie
ihn b�se nennen, dar�ber entscheidet das Maass und die Beschaffenheit
seines Intellects.


105.

Die belohnende Gerechtigkeit. - Wer vollst�ndig die Lehre von der
v�lligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte
strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den
Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht,
dass man jedem das Seine giebt. Denn Der, welcher gestraft wird,
verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt, um
f�rderhin von gewissen Handlungen abzuschrecken; ebenso verdient Der,
welchen man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht anders
handeln, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn nur den Sinn einer
Aufmunterung f�r ihn und Andere, um also zu sp�teren Handlungen ein
Motiv abzugeben; das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen,
nicht Dem, welcher am Ziele ist. Weder Strafe noch Lohn sind
Etwas, das Einem als das Seine zukommt; sie werden ihm aus
N�tzlichkeitsgr�nden gegeben, ohne dass er mit Gerechtigkeit Anspruch
auf sie zu erheben h�tte. Man muss ebenso sagen "der Weise belohnt
nicht, weil gut gehandelt worden ist", als man gesagt hat "der Weise
straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht
schlecht gehandelt werde". Wenn Strafe und Lohn fortfielen, so fielen
die kr�ftigsten Motive, welche von gewissen Handlungen weg, zu
gewissen Handlungen hin treiben, fort; der Nutzen der Menschen
erheischt ihre Fortdauer; und insofern Strafe und Lohn, Tadel und Lob
am empfindlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt der selbe
Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit.


106.

Am Wasserfall. - Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den
zahllosen Biegungen, Schl�ngelungen, Brechungen der Wellen Freiheit
des Willens und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig,
jede Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den
menschlichen Handlungen; man m�sste jede einzelne Handlung vorher
ausrechnen k�nnen, wenn man allwissend w�re, ebenso jeden Fortschritt
der Erkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit. Der Handelnde selbst
steckt freilich in der Illusion der Willk�r; wenn in einem Augenblick
das Rad der Welt still st�nde und ein allwissender, rechnender
Verstand da w�re, um diese Pausen zu ben�tzen, so k�nnte er bis in die
fernsten Zeiten die Zukunft jedes Wesens weitererz�hlen und jede Spur
bezeichnen, auf der jenes Rad noch rollen wird. Die T�uschung des
Handelnden �ber sich, die Annahme des freien Willens, geh�rt mit
hinein in diesen auszurechnenden Mechanismus.


107.

Unverantwortlichkeit und Unschuld. - Die v�llige Unverantwortlichkeit
des Menschen f�r sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste
Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war,
in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines
Menschenthums zu sehen. Alle seine Sch�tzungen, Auszeichnungen,
Abneigungen sind dadurch entwerthet und falsch geworden: sein tiefstes
Gef�hl, das er dem Dulder, dem Helden entgegenbrachte, hat einem
Irrthume gegolten; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn es ist
ungereimt, die Natur und die Nothwendigkeit zu loben und zu tadeln. So
wie er das gute Kunstwerk liebt, aber nicht lobt, weil es Nichts f�r
sich selber kann, wie er vor der Pflanze steht, so muss er vor den
Handlungen der Menschen, vor seinen eignen stehen. Er kann Kraft,
Sch�nheit, F�lle an ihnen bewundern, aber darf keine Verdienste darin
finden: der chemische Process und der Streit der Elemente, die Qual
des Kranken, der nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste,
als jene Seelenk�mpfe und Nothzust�nde, bei denen man durch
verschiedene Motive hin- und hergerissen wird, bis man sich endlich
f�r das m�chtigste entscheidet - wie man sagt (in Wahrheit aber, bis
das m�chtigste Motiv �ber uns entscheidet). Alle diese Motive aber, so
hohe Namen wir ihnen geben, sind aus den selben Wurzeln gewachsen, in
denen wir die b�sen Gifte wohnend glauben; zwischen guten und b�sen
Handlungen giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern h�chstens
des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte b�se; b�se Handlungen sind
vergr�berte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums
nach Selbstgenuss (sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen)
befriedigt sich unter allen Umst�nden, der Mensch mag handeln, wie er
kann, das heisst wie er muss: sei es in Thaten der Eitelkeit, Rache,
Lust, N�tzlichkeit, Bosheit, List, sei es in Thaten der Aufopferung,
des Mitleids, der Erkenntniss. Die Grade der Urtheilsf�higkeit
entscheiden, wohin Jemand sich durch diess Verlangen hinziehen l�sst;
fortw�hrend ist jeder Gesellschaft, jedem Einzelnen eine Rangordnung
der G�ter gegenw�rtig, wonach er seine Handlungen bestimmt und die der
Anderen beurtheilt. Aber dieser Maassstab wandelt sich fortw�hrend,
viele Handlungen werden b�se genannt und sind nur dumm, weil der Grad
der Intelligenz, welcher sich f�r sie entschied, sehr niedrig war. Ja,
in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch alle Handlungen dumm,
denn der h�chste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht
werden kann, wird sicherlich noch �berboten werden: und dann wird,
bei einem R�ckblick, all unser Handeln und Urtheilen so beschr�nkt
und �bereilt erscheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen
zur�ckgebliebener wilder V�lkerschaften beschr�nkt und �bereilt
vorkommt. - Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber
darnach giebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen.
Der Schmetterling will seine H�lle durchbrechen, er zerrt an ihr, er
zerreisst sie: da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das
Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit
f�hig sind - wie wenige werden es sein! - wird der erste Versuch
gemacht, ob die Menschheit aus einer moralischen sich in eine weise
Menschheit umwandeln k�nne. Die Sonne eines neuen Evangeliums wirft
ihren ersten Strahl auf die h�chsten Gipfel in der Seele jener
Einzelnen: da ballen sich die Nebel dichter, als je, und neben
einander lagert der hellste Schein und die tr�bste D�mmerung. Alles
ist Nothwendigkeit, - so sagt die neue Erkenntniss: und diese
Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die
Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust,
Egoismus, Eitelkeit nothwendig zur Erzeugung der moralischen Ph�nomene
und ihrer h�chsten Bl�the, des Sinnes f�r Wahrheit und Gerechtigkeit
der Erkenntniss, war der Irrthum und die Verirrung der Phantasie das
einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allm�hlich zu diesem
Grade von Selbsterleuchtung und Selbsterl�sung zu erheben vermochte -
wer d�rfte jene Mittel geringsch�tzen? Wer d�rfte traurig sein, wenn
er das Ziel, zu dem jene Wege f�hren, gewahr wird? Alles auf dem
Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im
Flusse, es ist wahr: - aber Alles ist auch im Strome: nach Einem Ziele
hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrth�mlichen Sch�tzens,
Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluss
der wachsenden Erkenntniss wird sie schw�cher werden: eine neue
Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens,
Ueberschauens, pflanzt sich allm�hlich in uns auf dem selben Boden
an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht m�chtig genug sein,
um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen
(unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelm�ssig hervorzubringen, wie
sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewussten Menschen - das
heisst die nothwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem -
hervorbringt.




Drittes Hauptst�ck.

Das religi�se Leben.

108.

Der doppelte Kampf gegen das Uebel. -Wenn uns ein Uebel trifft, so
kann man entweder so �ber dasselbe hinwegkommen, dass man seine
Ursache hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf unsere
Empfindung macht, ver�ndert: also durch ein Umdeuten des Uebels in
ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst sp�ter ersichtlich sein wird.
Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bem�hen sich,
auf die Aenderung der Empfindung zu wirken, theils durch Aenderung
unseres Urtheils �ber die Erlebnisse (zum Beispiel mit H�lfe des
Satzes: "wen Gott lieb hat, den z�chtigt er"), theils durch Erweckung
einer Lust am Schmerz, an der Emotion �berhaupt (woher die Kunst des
Tragischen ihren Ausgangspunct nimmt). Je mehr Einer dazu neigt,
umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird er die Ursachen des
Uebels in's Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung
und Narkotisirung, wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz gebr�uchlich
ist, gen�gt ihm auch in ernsteren Leiden. Je mehr die Herrschaft der
Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen
die Menschen die wirkliche Beseitigung der Uebel in's Auge, was
freilich schlimm f�r die Trag�diendichter ausf�llt - denn zur Trag�die
findet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des unerbittlichen,
unbezwinglichen Schicksals immer enger wird -, noch schlimmer aber
f�r die Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisirung
menschlicher Uebel.


109.

Gram ist Erkenntniss. - Wie gern m�chte man die falschen Behauptungen
der Priester, es gebe einen Gott, der das Gute von uns verlangte,
W�chter und Zeuge jeder Handlung, jedes Augenblickes, jedes Gedankens
sei, der uns liebe, in allem Ungl�ck unser Bestes wolle, - wie gern
m�chte man diese mit Wahrheiten vertauschen, welche ebenso heilsam,
beruhigend und wohlthuend w�ren, wie jene Irrth�mer! Doch solche
Wahrheiten giebt es nicht; die Philosophie kann ihnen h�chstens
wiederum metaphysische Scheinbarkeiten (im Grunde ebenfalls
Unwahrheiten) entgegensetzen. Nun ist aber die Trag�die die, dass man
jene Dogmen der Religion und Metaphysik nicht glauben kann, wenn man
die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe hat, andererseits
durch die Entwickelung der Menschheit so zart, reizbar, leidend
geworden ist, um Heil- und Trostmittel der h�chsten Art n�thig zu
haben; woraus also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der
erkannten Wahrheit verblute. Diess dr�ckt Byron in unsterblichen
Versen aus:

    Sorrow is knowledge: they who know the most
    must mourn the deepst o'er the fatal truth,
    the tree of knowledge is not that of life.

Gegen solche Sorgen hilft kein Mittel besser, als den feierlichen
Leichtsinn Horazens, wenigstens f�r die schlimmsten Stunden und
Sonnenfinsternisse der Seele, heraufzubeschw�ren und mit ihm zu sich
selber zu sagen:

    quid aeternis minorem
    consiliis animum fatigas?
    cur non sub alta vel platano vel hac
    pinu jacentes -

Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermuth jeden Grades besser,
als eine romantische R�ckkehr und Fahnenflucht, eine Ann�herung an das
Christenthum in irgend einer Form: denn mit ihm kann man sich, nach
dem gegenw�rtigen Stande der Erkenntniss, schlechterdings nicht mehr
einlassen, ohne sein in intellectuales Gewissen heillos zu beschmutzen
und vor sich und Anderen preiszugeben. Jene Schmerzen m�gen peinlich
genug sein: aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem F�hrer und
Erzieher der Menschheit werden; und wehe Dem, welcher diess versuchen
m�chte und jenes reine Gewissen nicht mehr h�tte!


110.

Die Wahrheit in der Religion. - In der Periode der Aufkl�rung war man
der Bedeutung der Religion nicht gerecht geworden, daran ist nicht zu
zweifeln: aber ebenso steht fest, dass man, in dem darauffolgenden
Widerspiel der Aufkl�rung, wiederum um ein gutes St�ck �ber die
Gerechtigkeit hinausgieng, indem man die Religionen mit Liebe, selbst
mit Verliebtheit behandelte und ihnen zum Beispiel ein tieferes,
ja das allertiefste Verst�ndniss der Welt zuerkannte; welches die
Wissenschaft des dogmatischen Gewandes zu entkleiden habe, um dann
in unmythischer Form die "Wahrheit" zu besitzen. Religionen sollen
also - diess war die Behauptung aller Gegner der Aufkl�rung - sensu
allegorico, mit R�cksicht auf das Verstehen der Menge, jene uralte
Weisheit aussprechen, welche die Weisheit an sich sei, insofern alle
wahre Wissenschaft der neueren Zeit immer zu ihr hin, anstatt von ihr
weg, gef�hrt habe: so dass zwischen den �ltesten Weisen der Menschheit
und allen sp�teren Harmonie, ja Gleichheit der Einsichten walte und
ein Fortschritt der Erkenntnisse - falls man von einem solchen reden
wolle - sich nicht auf das Wesen, sondern die Mittheilung desselben
beziehe. Diese ganze Auffassung von Religion und Wissenschaft ist
durch und durch irrth�mlich; und Niemand w�rde jetzt noch zu ihr sich
zu bekennen wagen, wenn nicht Schopenhauer's Beredtsamkeit sie in
Schutz genommen h�tte: diese laut t�nende und doch erst nach einem
Menschenalter ihre H�rer erreichende Beredtsamkeit. So gewiss man aus
Schopenhauer's religi�s-moralischer Menschen- und Weltdeutung sehr
viel f�r das Verst�ndniss des Christenthums und anderer Religionen
gewinnen kann, so gewiss ist es auch, dass er �ber den Werth der
Religion f�r die Erkenntniss sich geirrt hat. Er selbst war darin ein
nur zu folgsamer Sch�ler der wissenschaftlichen Lehrer seiner Zeit,
welche allesammt der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufkl�rung
abgeschworen hatten; in unsere jetzige Zeit hineingeboren, w�rde er
unm�glich vom sensus allegoricus der Religion haben reden k�nnen; er
w�rde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte,
mit den Worten: noch nie hat eine Religion, weder mittelbar, noch
unmittelbar, weder als Dogma, noch als Gleichniss, eine Wahrheit
enthalten. Denn aus der Angst und dem Bed�rfniss ist eine jede
geboren, auf Irrg�ngen der Vernunft hat sie sich in's Dasein
geschlichen; sie hat vielleicht einmal, im Zustande der Gef�hrdung
durch die Wissenschaft, irgend eine philosophische Lehre in ihr System
hineingelogen, damit man sie sp�ter darin vorfinde: aber diess ist ein
Theologenkunstst�ck, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon an
sich selber zweifelt. Diese Kunstst�cke der Theologie, welche freilich
im Christenthum, als der Religion eines gelehrten, mit Philosophie
durchtr�nkten Zeitalters, sehr fr�h schon ge�bt wurden, haben auf
jenen Aberglauben vom sensus allegoricus hingeleitet, noch mehr
aber die Gewohnheit der Philosophen (namentlich er Halbwesen, der
dichterischen Philosophen und der philosophirenden K�nstler), alle
die Empfindungen, welche sie in sich vorfanden, als Grundwesen
des Menschen �berhaupt zu behandeln und somit auch ihren eigenen
religi�sen Empfindungen einen bedeutenden Einfluss auf den Gedankenbau
ihrer Systeme zu gestatten. Weil die Philosophen vielfach unter
dem Herkommen religi�ser Gewohnheiten, oder mindestens unter der
altvererbten Macht jenes "metaphysischen Bed�rfnisses" philosophirten,
so gelangten sie zu Lehrmeinungen, welche in der That den j�dischen
oder christlichen oder indischen Religionsmeinungen sehr �hnlich
sahen, - �hnlich n�mlich, wie Kinder den M�ttern zu sehen pflegen,
nur dass in diesem Falle die V�ter sich nicht �ber jene Mutterschaft
klar waren, wie diess wohl vorkommt, - sondern in der Unschuld ihrer
Verwunderung von einer Familien-Aehnlichkeit aller Religion und
Wissenschaft fabelten. In der That besteht zwischen der Religion und
der wirklichen Wissenschaft nicht Verwandtschaft, noch Freundschaft,
noch selbst Feindschaft: sie leben auf verschiedenen Sternen. Jede
Philosophie, welche einen religi�sen Kometenschweif in die Dunkelheit
ihrer letzten Aussichten hinaus ergl�nzen l�sst, macht Alles an sich
verd�chtig, was sie als Wissenschaft vortr�gt: es ist diess Alles
vermuthlich ebenfalls Religion, wenngleich unter dem Aufputz der
Wissenschaft. - Uebrigens: wenn alle V�lker �ber gewisse religi�se
Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, �bereinstimmten (was,
beil�ufig gesagt, in Betreff dieses Punctes nicht der Fall ist), so
w�rde diess doch eben nur ein Gegenargument gegen jene behaupteten
Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes sein: der consensus
gentium und �berhaupt hominum kann billigerweise nur einer Narrheit
gelten. Dagegen giebt es einen consensus omnium sapientium gar nicht,
in Bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der
Goethe'sche Vers spricht:

    Alle die Weisesten aller der Zeiten
    l�cheln und winken und stimmen mit ein:
    Th�richt, auf Bess'rung der Thoren zu harren!
    Kinder der Klugheit, o habet die Narren
    eben zum Narren auch, wie sich's geh�rt!

Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet: der
consensus sapientium besteht darin, dass der consensus gentium einer
Narrheit gilt.


111.

Ursprung des religi�sen Cultus'. - Versetzen wir uns in die Zeiten
zur�ck, in welchen das religi�se Leben am kr�ftigsten aufbl�hte, so
finden wir eine Grund�berzeugung vor, welche wir jetzt nicht mehr
theilen und derentwegen wir ein f�r alle Mal die Thore zum religi�sen
Leben uns verschlossen sehen: sie betrifft die Natur und den Verkehr
mit ihr. Man weiss in jenen Zeiten noch Nichts von Naturgesetzen;
weder f�r die Erde noch f�r den Himmel giebt es ein M�ssen; eine
Jahreszeit, der Sonnenschein, der Regen kann kommen oder auch
ausbleiben. Es fehlt �berhaupt jeder Begriff der nat�rlichen
Causalit�t. Wenn man rudert, ist es nicht das Rudern, was das Schiff
bewegt, sondern Rudern ist nur eine magische Ceremonie, durch welche
man einen D�mon zwingt, das Schiff zu bewegen. Alle Erkrankungen,
der Tod selbst ist Resultat magischer Einwirkungen. Es geht bei
Krankwerden und Sterben nie nat�rlich zu; die ganze Vorstellung vom
"nat�rlichen Hergang" fehlt, - sie d�mmert erst bei den �lteren
Griechen, das heisst in einer sehr sp�ten Phase der Menschheit, in der
Conception der �ber den G�ttern thronenden Moira. Wenn Einer mit dem
Bogen schiesst, so ist immer noch eine irrationelle Hand und Kraft
dabei; versiegen pl�tzlich die Quellen, so denkt man zuerst an
unterirdische D�monen und deren T�cken; der Pfeil eines Gottes muss
es sein, unter dessen unsichtbarer Wirkung ein Mensch auf einmal
niedersinkt. In Indien pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem
Hammer, seinem Beil und den �brigen Werkzeugen Opfer darzubringen;
ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die
Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter
seinen Pflug in gleicher Weise. Die ganze Natur ist in der Vorstellung
religi�ser Menschen eine Summe von Handlungen bewusster und wollender
Wesen, ein ungeheurer Complex von Willk�rlichkeiten. Es ist in Bezug
auf Alles, was ausser uns ist, kein Schluss gestattet, dass irgend
Etwas so und so sein werde, so und so kommen m�sse; das ungef�hr
Sichere, Berechenbare sind wir: der Mensch ist die Regel, die Natur
die Regellosigkeit, - dieser Satz enth�lt die Grund�berzeugung, welche
rohe, religi�s productive Urculturen beherrscht. Wir jetzigen Menschen
empfinden gerade v�llig umgekehrt: je reicher jetzt der Mensch sich
innerlich f�hlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger
wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen mit Goethe
in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung f�r die moderne
Seele, wir h�ren den Pendelschlag der gr�ssten Uhr mit einer Sehnsucht
nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses
Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst
erst kommen k�nnten. Ehemals war es umgekehrt: denken wir an rohe,
fr�he Zust�nde von V�lkern zur�ck oder sehen wir die jetzigen Wilden
in der N�he, so finden wir sie auf das st�rkste durch das Gesetz, das
Herkommen bestimmt: das Individuum ist fast automatisch an dasselbe
gebunden und bewegt sich mit der Gleichf�rmigkeit eines Pendels. Ihm
muss die Natur - die unbegriffene, schreckliche, geheimnissvolle
Natur - als das Reich der Freiheit, der Willk�r, der h�heren Macht
erscheinen, ja gleichsam als eine �bermenschliche Stufe des Daseins,
als Gott. Nun aber f�hlt jeder Einzelne solcher Zeiten und Zust�nde,
wie von jenen Willk�rlichkeiten der Natur seine Existenz, sein Gl�ck,
das der Familie, des Staates, das Gelingen aller Unternehmungen
abh�ngen: einige Naturvorg�nge m�ssen zur rechten Zeit eintreten,
andere zur rechten Zeit ausbleiben. Wie kann man einen Einfluss auf
diese furchtbaren Unbekannten aus�ben, wie kann man das Reich der
Freiheit binden? so fragt er sich, so forscht er �ngstlich: giebt
es denn keine Mittel, jene M�chte ebenso durch ein Herkommen und
Gesetz regelm�ssig zu machen, wie du selber regelm�ssig bist? - Das
Nachdenken der magie- und wundergl�ubigen Menschen geht dahin, der
Natur ein Gesetz auf zulegen -: und kurz gesagt, der religi�se Cultus
ist das Ergebniss dieses Nachdenkens. Das Problem, welches jene
Menschen sich vorlegen, ist auf das engste verwandt mit diesem: wie
kann der schw�chere Stamm dem st�rkeren doch Gesetze dictiren, ihn
bestimmen, seine Handlungen (im Verhalten zum schw�cheren) leiten? Man
wird zuerst sich der harmlosesten Art eines Zwanges erinnern, jenes
Zwanges, den man aus�bt, wenn man jemandes Neigung erworben hat.
Durch Flehen und Gebete, durch Unterwerfung, durch die Verpflichtung
zu regelm�ssigen Abgaben und Geschenken, durch schmeichelhafte
Verherrlichungen ist es also auch m�glich, auf die M�chte der Natur
einen Zwang auszu�ben, insofern man sie sich geneigt macht: Liebe
bindet und wird gebunden. Dann kann man Vertr�ge schliessen, wobei
man sich zu bestimmtem Verhalten gegenseitig verpflichtet, Pf�nder
stellt und Schw�re wechselt. Aber viel wichtiger ist eine Gattung
gewaltsameren Zwanges, durch Magie und Zauberei. Wie der Mensch mit
H�lfe des Zauberers einem st�rkeren Feind doch zu schaden weiss und
ihn vor sich in Angst erh�lt, wie der Liebeszauber in die Ferne wirkt,
so glaubt der schw�chere Mensch auch die m�chtigeren Geister der Natur
bestimmen zu k�nnen. Das Hauptmittel aller Zauberei ist, dass man
Etwas in Gewalt bekommt, das jemandem zu eigen ist, Haare, N�gel,
etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein Bild, seinen Namen. Mit
solchem Apparate kann man dann zaubern; denn die Grundvoraussetzung
lautet: zu allem Geistigen geh�rt etwas K�rperliches; mit dessen H�lfe
vermag man den Geist zu binden, zu Sch�digen, zu vernichten; das
K�rperliche giebt die Handhabe ab, mit der man das Geistige fassen
kann. So wie nun der Mensch den Menschen bestimmt, so bestimmt er auch
irgend einen Naturgeist; denn dieser hat auch sein K�rperliches, an
dem er zu fassen ist. Der Baum und, verglichen mit ihm, der Keim,
aus dem er entstand, - dieses r�thselhafte Nebeneinander scheint
zu beweisen, dass in beiden Formen sich ein und der selbe Geist
eingek�rpert habe, bald klein, bald gross. Ein Stein, der pl�tzlich
rollt, ist der Leib, in welchem ein Geist wirkt; liegt auf einsamer
Haide ein Block, erscheint es unm�glich, an Menschenkraft zu denken,
die ihn hierher gebracht habe, so muss also der Stein sich selbst
hinbewegt haben, das heisst: er muss einen Geist beherbergen. Alles,
was einen Leib hat, ist der Zauberei zug�nglich, also auch die
Naturgeister. Ist ein Gott geradezu an sein Bild gebunden, so kann
man auch ganz directen Zwang (durch Verweigerung der Opfernahrung,
Geisseln, in-Fesseln-Legen und Aehnliches) gegen ihn aus�ben. Die
geringen Leute in China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes
zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich gelassen hat, mit
Stricken, reissen es nieder, schleifen es �ber die Strassen durch
Lehm- und D�ngerhaufen; "du Hund von einem Geiste, sagen sie, wir
liessen dich in einem pr�chtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich
h�bsch, wir f�tterten dich gut, wir brachten dir Opfer und doch bist
du so undankbar." Aehnliche Gewaltmaassregeln gegen Heiligen- und
Muttergottesbilder, wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel
ihre Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch w�hrend dieses
Jahrhunderts in katholischen L�ndern vorgekommen. - Durch alle diese
zauberischen Beziehungen zur Natur sind unz�hlige Ceremonien in's
Leben gerufen: und endlich, wenn der Wirrwarr derselben zu gross
geworden ist, bem�ht man sich, sie zu ordnen, zu systematisiren,
so dass man den g�nstigen Verlauf des gesammten Ganges der
Natur, namentlich des grossen Jahreskreislaufs, sich durch einen
entsprechenden Verlauf eines Proceduren-Systems zu verb�rgen meint.
Der Sinn des religi�sen Cultus' ist, die Natur zu menschlichem
Vortheil zu bestimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit
einzupr�gen, die sie von vornherein nicht hat; w�hrend in der jetzigen
Zeit man die Gesetzlichkeit der Natur erkennen will, um sich in sie zu
schicken. Kurz, der religi�se Cultus ruht auf den Vorstellungen der
Zauberei zwischen Mensch und Mensch; und der Zauberer ist �lter,
als der Priester. Aber ebenso ruht er auf anderen und edleren
Vorstellungen; er setzt das sympathische Verh�ltniss von Mensch zu
Mensch, das Dasein von Wohlwollen, Dankbarkeit, Erh�rung Bittender,
von Vertr�gen zwischen Feinden, von Verleihung der Unterpf�nder, von
Anspruch auf Schutz des Eigenthums voraus. Der Mensch steht auch in
sehr niederen Culturstufen nicht der Natur als ohnm�chtiger Sclave
gegen�ber, er ist nicht nothwendig der willenlose Knecht derselben:
auf der griechischen Stufe der Religion, besonders im Verhalten zu den
olympischen G�ttern, ist sogar an ein Zusammenleben von zwei Kasten,
einer vornehmeren, m�chtigeren und einer weniger vornehmen zu denken;
aber beide geh�ren, ihrer Herkunft nach, irgendwie zusammen und sind
Einer Art, sie brauchen sich vor einander nicht zu sch�men. Das ist
das Vornehme in der griechischen Religiosit�t.


112.

Beim Anblick gewisser antiker Opferger�thschaften. - Wie manche
Empfindungen uns verloren gehen, ist zum Beispiel an der Vereinigung
des Possenhaften, selbst des Obsc�nen, mit dem religi�sen Gef�hl zu
sehen: die Empfindung f�r die M�glichkeit dieser Mischung schwindet,
wir begreifen es nur noch historisch, dass sie existirte, bei den
Demeter- und Dionysosfesten, bei den christlichen Osterspielen und
Mysterien: aber auch wir kennen noch das Erhabene im Bunde mit
dem Burlesken und dergleichen, das R�hrende mit dem L�cherlichen
verschmolzen: was vielleicht eine sp�tere Zeit auch nicht mehr
verstehen wird.


113.

Christenthum als Alterthum. - Wenn wir eines Sonntag Morgens die alten
Glocken brummen h�ren, da fragen wir uns: ist es nur m�glich! diess
gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte,
er sei Gottes Sohn. Der Beweis f�r eine solche Behauptung fehlt. -
Sicherlich ist innerhalb unserer Zeiten die christliche Religion
ein aus ferner Vorzeit hereinragendes Alterthum, und dass man jene
Behauptung glaubt, - w�hrend man sonst so streng in der Pr�fung von
Anspr�chen ist -, ist vielleicht das �lteste St�ck dieses Erbes. Ein
Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt; ein Weiser, der
auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber
auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zu achten; eine
Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer
annimmt; jemand, der seine j�nger sein Blut trinken heisst; Gebete
um Wundereingriffe; S�nden an einem Gott ver�bt, durch einen Gott
geb�sst; Furcht vor einem jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist;
die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die
Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt, - wie
schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter
Vergangenheit, an! Sollte man glauben, dass so Etwas noch geglaubt
wird?


114.

Das Ungriechische im Christenthum. - Die Griechen sahen �ber sich die
homerischen G�tter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als
Knechte, wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der
gelungensten Exemplare ihrer eigenen Kaste, also ein Ideal, keinen
Gegensatz des eigenen Wesens. Man f�hlt sich mit einander verwandt, es
besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch
denkt vornehm von sich, wenn er sich solche G�tter giebt, und stellt
sich in ein Verh�ltniss, wie das des niedrigeren Adels zum h�heren
ist; w�hrend die italischen V�lker eine rechte Bauern-Religion haben,
mit fortw�hrender Aengstlichkeit gegen b�se und launische Machtinhaber
und Qu�lgeister. Wo die olympischen G�tter zur�cktraten, da war auch
das griechische Leben d�sterer und �ngstlicher. - Das Christenthum
dagegen zerdr�ckte und zerbrach den Menschen vollst�ndig und versenkte
ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gef�hl v�lliger Verworfenheit
liess es dann mit Einem Male den Glanz eines g�ttlichen Erbarmens
hineinleuchten, so dass der Ueberraschte, durch Gnade Bet�ubte, einen
Schrei des Entz�ckens ausstiess und f�r einen Augenblick den ganzen
Himmel in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Excess des
Gef�hls, auf die dazu n�thige tiefe Kopf- und Herz-Corruption wirken
alle psychologischen Erfindungen des Christenthums hin: es will
vernichten, zerbrechen, bet�uben, berauschen, es will nur Eins nicht:
das Maass, und desshalb ist es im tiefsten Verstande barbarisch,
asiatisch, unvornehm, ungriechisch.


115.

Mit Vortheil religi�s sein. - Es giebt n�chterne und gewerbst�chtige
Leute, denen die Religion wie ein Saum h�heren Menschenthums
angestickt ist: diese thun sehr wohl, religi�s zu bleiben, es
versch�nert sie. - Alle Menschen, welche sich nicht auf irgend ein
Waffenhandwerk verstehen - Mund und Feder als Waffen eingerechnet -
werden servil: f�r solche ist die christliche Religion sehr n�tzlich,
denn die Servilit�t nimmt darin den Anschein einer christlichen Tugend
an und wird erstaunlich versch�nert. - Leute, welchen ihr t�gliches
Leben zu leer und eint�nig vorkommt, werden leicht religi�s: diess ist
begreiflich und verzeihlich, nur haben sie kein Recht, Religiosit�t
von Denen zu fordern, denen das t�gliche Leben nicht leer und eint�nig
verfliesst.


116.

Der Alltags-Christ. - Wenn das Christenthum mit seinen S�tzen vom
r�chenden Gotte, der allgemeinen S�ndhaftigkeit, der Gnadenwahl und
der Gefahr einer ewigen Verdammniss, Recht h�tte, so w�re es ein
Zeichen von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, nicht Priester,
Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am
eigenen Heile zu arbeiten; es w�re unsinnig, den ewigen Vortheil gegen
die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen. Vorausgesetzt,
dass �berhaupt geglaubt wird, so ist der Alltags-Christ eine
erb�rmliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei
z�hlen kann, und der �brigens, gerade wegen seiner geistigen
Unzurechnungsf�higkeit, es nicht verdiente, so hart bestraft zu
werden, als das Christenthum ihm verheisst.


117.

Von der Klugheit des Christenthums. - Es ist ein Kunstgriff des
Christenthums, die v�llige Unw�rdigkeit, S�ndhaftigkeit und
Ver�chtlichkeit des Menschen �berhaupt so laut zu lehren, dass die
Verachtung der Mitmenschen dabei nicht mehr m�glich ist. "Er mag
s�ndigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich
von mir: ich bin es, der in jedem Grade unw�rdig und ver�chtlich
ist," so sagt sich der Christ. Aber auch dieses Gef�hl hat seinen
spitzigsten Stachel verloren, weil der Christ nicht an seine
individuelle Ver�chtlichkeit glaubt: er ist b�se als Mensch �berhaupt
und beruhigt sich ein Wenig bei dem Satze: Wir Alle sind Einer Art.


118.

Personenwechsel. - Sobald eine Religion herrscht, hat sie alle Die zu
ihren Gegnern, welche ihre ersten j�nger gewesen w�ren.


119.

Schicksal des Christenthums. - Das Christenthum entstand, um das Herz
zu erleichtern; aber jetzt m�sste es das Herz erst beschweren, um es
nachher erleichtern zu k�nnen. Folglich wird es zu Grunde gehen.


120.

Der Beweis der Lust. - Die angenehme Meinung wird als wahr angenommen:
diess ist der Beweis der Lust (oder, wie die Kirche sagt, der Beweis
der Kraft), auf welchen alle Religionen so stolz sind, w�hrend sie
sich dessen doch sch�men sollten. Wenn der Glaube nicht selig machte,
so w�rde er nicht geglaubt werden: wie wenig wird er also werth sein!


121.

Gef�hrliches Spiel. - Wer jetzt der religi�sen Empfindung wieder in
sich Raum giebt, der muss sie dann auch wachsen lassen, er kann nicht
anders. Da ver�ndert sich allm�hlich sein Wesen, es bevorzugt das dem
religi�sen Element Anh�ngende, Benachbarte, der ganze Umkreis des
Urtheilens und Empfindens wird umw�lkt, mit religi�sen Schatten
�berflogen. Die Empfindung kann nicht still stehen; man nehme sich
also in Acht.


122.

Die blinden Sch�ler. - So lange Einer sehr gut die St�rke und,
Schw�che seiner Lehre, seiner Kunstart, seiner Religion kennt, ist
deren Kraft noch gering. Der Sch�ler und Apostel, welcher f�r die
Schw�che der Lehre, der Religion und so weiter, kein Auge hat,
geblendet durch das Ansehen des Meisters und durch seine Piet�t gegen
ihn, hat desshalb gew�hnlich mehr Macht, als der Meister. Ohne die
blinden Sch�ler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines
Werkes gross geworden. Einer Erkenntniss zum Siege verhelfen heisst
oft nur: sie so mit der Dummheit verschwistern, dass das Schwergewicht
der letzteren auch den Sieg f�r die erstere erzwingt.


123.

Abbruch der Kirchen. - Es ist nicht genug an Religion in der Welt, um
die Religionen auch nur zu vernichten.


124.

S�ndlosigkeit des Menschen. - Hat man begriffen, "wie die S�nde in
die Welt gekommen" ist, n�mlich durch Irrth�mer der Vernunft, verm�ge
deren die Menschen unter einander, ja der einzelne Mensch sich selbst
f�r viel schw�rzer und b�ser nimmt, als es thats�chlich der Fall ist,
so wird die ganze Empfindung sehr erleichtert, und Menschen und Welt
erscheinen mitunter in einer Glorie von Harmlosigkeit, dass es Einem
von Grund aus wohl dabei wird. Der Mensch ist inmitten der Natur
immer das Kind an sich. Diess Kind tr�umt wohl einmal einen schweren
be�ngstigenden Traum, wenn es aber die Augen aufschl�gt, so sieht es
sich immer wieder im Paradiese.


125.

Irreligiosit�t der K�nstler. - Homer ist unter seinen G�ttern so zu
Hause: und hat als Dichter ein solches Behagen an ihnen, dass er
jedenfalls tief unreligi�s gewesen sein muss; mit dem, was der
Volksglaube ihm entgegenbrachte - einen d�rftigen, rohen, zum Theil
schauerlichen Aberglauben - verkehrte er so frei, wie der Bildhauer
mit seinem Thon, also mit der selben Unbefangenheit, welche Aeschylus
und Aristophanes besassen und durch welche sich in neuerer Zeit
die grossen K�nstler der Renaissance, sowie Shakespeare und Goethe
auszeichneten.


126.

Kunst und Kraft der falschen Interpretation. - Alle die Visionen,
Schrecken, Ermattungen, Entz�ckungen des Heiligen sind bekannte
Krankheits-Zust�nde, welche von ihm, auf Grund eingewurzelter
religi�ser und psychologischer Irrth�mer, nur ganz anders, n�mlich
nicht als Krankheiten, gedeutet werden. - So ist vielleicht auch das
D�monion des Sokrates ein Ohrenleiden, das er sich, gem�ss seiner
herrschenden moralischen Denkungsart, nur anders, als es jetzt
geschehen w�rde, auslegt. Nicht anders steht es mit dem Wahnsinn und
Wahnreden der Propheten und Orakelpriester; es ist immer der Grad
von Wissen, Phantasie, Bestrebung, Moralit�t in Kopf und Herz der
Interpreten, welcher daraus so viel gemacht hat. Zu den gr�ssten
Wirkungen der Menschen, welche man Genie's und Heilige nennt, geh�rt
es, dass sie sich Interpreten erzwingen, welche sie zum Heile der
Menschheit missverstehen.


127.

Verehrung des Wahnsinns. - Weil man bemerkte, dass eine Erregung
h�ufig den Kopf heller machte und gl�ckliche Einf�lle hervorrief, so
meinte man, durch die h�chsten Erregungen werde man der gl�cklichsten
Einf�lle und Eingebungen theilhaftig: und so verehrte man den
Wahnsinnigen als den Weisen und Orakelgebenden. Hier liegt ein
falscher Schluss zu Grunde.


128.

Verheissungen der Wissenschaft. - Die moderne Wissenschaft hat als
Ziel: so wenig Schmerz wie m�glich, so lange leben wie m�glich, -
also eine Art von ewiger Seligkeit, freilich eine sehr bescheidene im
Vergleich mit den Verheissungen der Religionen.


129.

Verbotene Freigebigkeit. - Es ist nicht genug Liebe und G�te in der
Welt, um noch davon an eingebildete Wesen wegschenken zu d�rfen.


130.

Fortleben des religi�sen Cultus' im Gem�th. - Die katholische Kirche,
und vor ihr aller antike Cultus, beherrschte das ganze Bereich von
Mitteln, durch welche der Mensch in ungew�hnliche Stimmungen versetzt
wird und der kalten Berechnung des Vortheils oder dem reinen
Vernunft-Denken entrissen wird. Eine durch tiefe T�ne erzitternde
Kirche, dumpfe, regelm�ssige, zur�ckhaltende Anrufe einer
priesterlichen Schaar, welche ihre Spannung unwillk�rlich auf die
Gemeinde �bertr�gt und sie fast angstvoll lauschen l�sst, wie als wenn
eben ein Wunder sich vorbereitete, der Anhauch der Architektur, welche
als Wohnung einer Gottheit sich in's Unbestimmte ausreckt und in allen
dunklen R�umen das Sich-Regen derselben f�rchten l�sst, - wer wollte
solche Vorg�nge den Menschen zur�ckbringen, wenn die Voraussetzungen
dazu nicht mehr geglaubt werden? Aber die Resultate von dem Allen sind
trotzdem nicht verloren: die innere Welt der erhabenen, ger�hrten,
ahnungsvollen, tiefzerknirschten, hoffnungsseligen Stimmungen ist den
Menschen vornehmlich durch den Cultus eingeboren worden; was jetzt
davon in der Seele existirt, wurde damals, als er keimte, wuchs und
bl�hte, gross gez�chtet.


131.

Religi�se Nachwehen. - Glaubt man sich noch so sehr der Religion
entw�hnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass
man nicht Freude h�tte, religi�sen Empfindungen und Stimmungen ohne
begrifflichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der Musik; und wenn
eine Philosophie uns die Berechtigung von metaphysischen Hoffnungen,
von dem dorther zu erlangenden tiefen Frieden der Seele aufzeigt und
zum Beispiel von "dem ganzen sichern Evangelium im Blick der Madonnen
bei Rafael" spricht, so kommen wir solchen Ausspr�chen und Darlegungen
mit besonders herzlicher Stimmung entgegen: der Philosoph hat es hier
leichter, zu beweisen, er entspricht mit dem, was er geben will, einem
Herzen, welches gern nehmen will. Daran bemerkt man, wie die weniger
bedachtsamen Freigeister eigentlich nur an den Dogmen Anstoss nehmen,
aber recht wohl den Zauber der religi�sen Empfindung kennen; es thut
ihnen wehe, letztere fahren zu lassen, um der ersteren willen. -
Die wissenschaftliche Philosophie muss sehr auf der Hut sein, nicht
auf Grund jenes Bed�rfnisses - eines gewordenen und folglich auch
verg�nglichen Bed�rfnisses - Irrth�mer einzuschmuggeln: selbst Logiker
sprechen von "Ahnungen" der Wahrheit in Moral und Kunst (zum Beispiel
von der Ahnung, "dass das Wesen der Dinge Eins ist"): was ihnen doch
verboten sein sollte. Zwischen den sorgsam erschlossenen Wahrheiten
und solchen" geahnten" Dingen bleibt un�berbr�ckbar die Kluft, dass
jene dem Intellect, diese dem Bed�rfniss verdankt werden. Der Hunger
beweist nicht, dass es zu seiner S�ttigung eine Speise giebt, aber er
w�nscht die Speise. "Ahnen" bedeutet nicht das Dasein einer Sache in
irgend einem Grade erkennen, sondern dasselbe f�r m�glich halten,
insofern man sie w�nscht oder f�rchtet; die "Ahnung" tr�gt keinen
Schritt weit in's Land der Gewissheit. - Man glaubt unwillk�rlich, die
religi�s gef�rbten Abschnitte einer Philosophie seien besser bewiesen,
als die anderen; aber es ist im Grunde umgekehrt, man hat nur den
inneren Wunsch, dass es so sein m�ge, - also dass das Beseligende auch
das Wahre sei. Dieser Wunsch verleitet uns, schlechte Gr�nde als gute
einzukaufen.


132.

Von dem christlichen Erl�sungsbed�rfniss. - Bei sorgsamer Ueberlegung
muss es m�glich sein, dem Vorgange in der Seele eines Christen,
welchen man Erl�sungsbed�rfniss nennt, eine Erkl�rung abzugewinnen,
die frei von Mythologie ist: also eine rein psychologische. Bis jetzt
sind freilich die psychologischen Erkl�rungen religi�ser Zust�nde und
Vorg�nge in einigem Verrufe gewesen, insoweit eine sich frei nennende
Theologie auf diesem Gebiete ihr unerspriessliches Wesen trieb: denn
bei ihr war es von vornherein, sowie es der Geist ihres Stifters,
Schleiermacher's, vermuthen l�sst, auf die Erhaltung der christlichen
Religion und das Fortbestehen der christlichen Theologen abgesehen;
als welche in der psychologischen Analysis der religi�sen "Thatsachen"
einen neuen Ankergrund und vor Allem eine neue Besch�ftigung gewinnen
sollten. Unbeirrt von solchen Vorg�ngern, wagen wir folgende Auslegung
des bezeichneten Ph�nomens. Der Mensch ist sich gewisser Handlungen
bewusst, welche in der gebr�uchlichen Rangordnung der Handlungen tief
stehen, ja er entdeckt in sich einen Hang zu dergleichen Handlungen,
der ihm fast so unver�nderlich wie sein ganzes Wesen erscheint. Wie
gerne versuchte er sich in jener anderen Gattung von Handlungen,
welche in der allgemeinen Sch�tzung als die obersten und h�chsten
anerkannt sind, wie gerne f�hlte er sich voll des guten Bewusstseins,
welches einer selbstlosen Denkweise folgen soll! Leider aber bleibt es
eben bei diesem Wunsche: die Unzufriedenheit dar�ber, demselben nicht
gen�gen zu k�nnen, kommt zu allen �brigen Arten von Unzufriedenheit
hinzu, welche sein Lebensloos �berhaupt oder die Folgen jener
b�se genannten Handlungen in ihm erregt haben; so dass eine tiefe
Verstimmung entsteht, mit dem Ausblicke nach einem Arzte, der diese,
und alle ihre Ursachen, zu heben verm�chte. - Dieser Zustand w�rde
nicht so bitter empfunden werden, wenn der Mensch sich nur mit anderen
Menschen unbefangen vergliche: dann n�mlich h�tte er keinen Grund, mit
sich in einem besonderen Maasse unzufrieden zu sein, er tr�ge eben
nur an der allgemeinen Last der menschlichen Unbefriedigung und
Unvollkommenheit. Aber er vergleicht sich mit einem Wesen, welches
allein jener Handlungen f�hig ist, die unegoistisch genannt werden,
und im fortw�hrenden Bewusstsein einer selbstlosen Denkweise lebt,
mit Gott; dadurch, dass er in diesen hellen Spiegel schaut, erscheint
ihm sein Wesen so tr�be, so ungew�hnlich verzerrt. Sodann �ngstigt
ihn der Gedanke an das selbe Wesen, insofern dieses als strafende
Gerechtigkeit vor seiner Phantasie schwebt: in allen m�glichen kleinen
und grossen Erlebnissen glaubt er seinen Zorn, seine Drohung zu
erkennen, ja die Geisselschl�ge seines Richter- und Henkerthums schon
vorzuempfinden. Wer hilft ihm in dieser Gefahr, welche durch den
Hinblick auf eine unermessliche Zeitdauer der Strafe an Gr�sslichkeit
alle anderen Schrecknisse der Vorstellung �berbietet?


133.

Bevor wir diesen Zustand in seinen weiteren Folgen uns vorlegen,
wollen wir es doch uns eingestehen, dass der Mensch in diesen Zustand
nicht durch seine "Schuld" und "S�nde", sondern durch eine Reihe von
Irrth�mern der Vernunft gerathen ist, dass es der Fehler des Spiegels
war, wenn ihm sein Wesen in jenem Grade dunkel und hassenswerth
vorkam, und dass jener Spiegel sein Werk, das sehr unvollkommene Werk
der menschlichen Phantasie und Urtheilskraft war. Erstens ist ein
Wesen, welches einzig rein unegoistischer Handlungen f�hig w�re,
noch fabelhafter als der Vogel Ph�nix; es ist deutlich nicht einmal
vorzustellen, schon desshalb, weil der ganze Begriff "unegoistische
Handlung" bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt. Nie hat ein
Mensch Etwas gethan, das allein f�r Andere und ohne jeden pers�nlichen
Beweggrund gethan w�re; ja wie sollte er Etwas thun k�nnen, das ohne
Bezug zu ihm w�re, also ohne innere N�thigung (welche ihren Grund doch
in einem pers�nlichen Bed�rfniss haben m�sste)? Wie verm�chte das
ego ohne ego zu handeln? - Ein Gott, der dagegen ganz Liebe ist, wie
gelegentlich angenommen wird, w�re keiner einzigen unegoistischen
Handlung f�hig: wobei man sich an einen Gedanken Lichtenberg's, der
freilich einer niedrigeren Sph�re entnommen ist, erinnern sollte:
"Wir k�nnen unm�glich f�r Andere f�hlen, wie man zu sagen pflegt; wir
f�hlen nur f�r uns. Der Satz klingt hart, er ist es aber nicht, wenn
er nur recht verstanden wird. Man liebt weder Vater, noch Mutter, noch
Frau, noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns
machen", oder wie La Rochefoucauld sagt: "si on croit aimer sa
ma�tresse pour l'amour d'elle, on est bien trompe'." Wesshalb
Handlungen der Liebe h�her gesch�tzt werden, als andere, n�mlich nicht
ihres Wesens, sondern ihrer N�tzlichkeit halber, dar�ber vergleiche
man die schon vorher erw�hnten Untersuchungen "�ber den Ursprung der
moralischen Empfindungen". Sollte aber ein Mensch w�nschen, ganz wie
jener Gott, Liebe zu sein, Alles f�r Andere, Nichts f�r sich zu thun,
zu wollen, so ist letzteres schon desshalb unm�glich, weil er sehr
viel f�r sich thun muss, um �berhaupt Anderen Etwas zu Liebe thun zu
k�nnen. Sodann setzt es voraus, dass der Andere Egoist genug ist, um
jene Opfer, jenes Leben f�r ihn, immer und immer wieder anzunehmen:
so dass die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem
Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunf�higen Egoisten haben,
und die h�chste Moralit�t, um bestehen zu k�nnen, f�rmlich die
Existenz der Unmoralit�t erzwingen m�sste (wodurch sie sich freilich
selber aufheben w�rde). - Weiter. die Vorstellung eines Gottes
beunruhigt und dem�thigt so lange, als sie geglaubt wird, aber
wie sie entstanden ist, dar�ber kann bei dem jetzigen Stande der
v�lkervergleichenden Wissenschaft kein Zweifel mehr sein; und mit der
Einsicht in jene Entstehung f�llt jener Glaube dahin. Es geht dem
Christen, welcher sein Wesen mit dem Gotte vergleicht, so, wie dem
Don Quixote, der seine eigne Tapferkeit untersch�tzt, weil er die
Wunderthaten der Helden aus den Ritterromanen im Kopfe hat; der
Maassstab, mit welchem in beiden F�llen gemessen wird, geh�rt in's
Reich der Fabel. F�llt aber die Vorstellung des Gottes weg, so
auch das Gef�hl der "S�nde" als eines Vergehens gegen g�ttliche
Vorschriften, als eines Fleckens an einem gottgeweihten Gesch�pfe.
Dann bleibt wahrscheinlich noch jener Unmuth �brig, welcher mit
der Furcht vor Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, oder vor der
Missachtung der Menschen, sehr verwachsen und verwandt ist; der Unmuth
der Gewissensbisse, der sch�rfste Stachel im Gef�hl der Schuld, ist
immerhin abgebrochen, wenn man einsieht, dass man sich durch seine
Handlungen wohl gegen menschliches Herkommen, menschliche Satzungen
und Ordnungen vergangen habe, aber damit noch nicht das "ewige Heil
der Seele" und ihre Beziehung zur Gottheit gef�hrdet habe. Gelingt es
dem Menschen zuletzt noch, die philosophische Ueberzeugung von der
unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer v�lligen
Unverantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen,
so verschwindet auch jener Rest von Gewissensbissen.


134.

Ist nun der Christ, wie gesagt, durch einige Irrth�mer in das
Gef�hl der Selbstverachtung gerathen, also durch eine falsche
unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen,
so muss er mit h�chstem Erstaunen bemerken, wie jener Zustand der
Verachtung, der Gewissensbisse, der Unlust �berhaupt, nicht anh�lt,
wie gelegentlich Stunden kommen, wo ihm dies Alles von der Seele
weggeweht ist und er sich wieder frei und muthig f�hlt. In Wahrheit
hat die Lust an sich selber das Wohlbehagen an der eigenen Kraft, im
Bunde mit der nothwendigen Abschw�chung jeder tiefen Erregung, den
Sieg davongetragen; der Mensch liebt sich wieder, er f�hlt es, - aber
gerade diese Liebe, diese neue Selbstsch�tzung, kommt ihm unglaublich
vor, er kann in ihr allein das g�nzlich unverdiente Herabstr�men eines
Gnadenglanzes von Oben sehen. Wenn er fr�her in allen Begebnissen
Warnungen, Drohungen, Strafen und jede Art von Anzeichen des
g�ttlichen Zornes zu erblicken glaubte, so deutet er jetzt in seine
Erfahrungen die g�ttliche G�te hinein: diess Ereigniss kommt ihm
liebevoll, jenes wie ein h�lfreicher Fingerzeig, ein drittes und
namentlich seine ganze freudige Stimmung als Beweis vor, dass Gott
gn�dig sei. Wie er fr�her im Zustande des Unmuthes namentlich seine
Handlungen falsch ausdeutete, so jetzt namentlich seine Erlebnisse;
die getr�stete Stimmung fasst er als Wirkung einer ausser ihm
waltenden Macht auf, die Liebe, mit der er sich im Grunde selbst
liebt, erscheint als g�ttliche Liebe; Das, was er Gnade und Vorspiel
der Erl�sung nennt, ist in Wahrheit Selbstbegnadigung, Selbsterl�sung.


135.

Also: eine bestimmte falsche Psychologie, eine gewisse Art von
Phantastik in der Ausdeutung der Motive und Erlebnisse ist die
nothwendige Voraussetzung davon, dass Einer zum Christen werde und das
Bed�rfniss der Erl�sung empfinde. Mit der Einsicht in diese Verirrung
der Vernunft und Phantasie h�rt man auf, Christ zu sein.


136.

Von der christlichen Askese und Heiligkeit. - So sehr einzelne Denker
sich bem�ht haben, in den seltenen Erscheinungen der Moralit�t,
welche man Askese und Heiligkeit zu nennen pflegt, ein Wunderding
hinzustellen, dem die Leuchte einer vern�nftigen Erkl�rung in's
Gesicht zu halten, beinahe schon Frevel und Entweihung sei: so stark
ist hinwiederum die Verf�hrung zu diesem Frevel. Ein m�chtiger Antrieb
der Natur hat zu allen Zeiten dazu gef�hrt, gegen jene Erscheinungen
�berhaupt zu protestiren; die Wissenschaft, insofern sie, wie fr�her
gesagt, eine Nachahmung der Natur ist, erlaubt sich wenigstens gegen
die behauptete Unerkl�rbarkeit, ja Unnahbarkeit derselben Einsprache
zu erheben. Freilich gelang es ihr bis jetzt nicht: jene Erscheinungen
sind immer noch unerkl�rt, zum grossen Vergn�gen der erw�hnten
Verehrer des moralisch-Wunderbaren. Denn, allgemein gesprochen: das
Unerkl�rte soll durchaus unerkl�rlich, das Unerkl�rliche durchaus
unnat�rlich, �bernat�rlich, wunderhaft sein, - so lautet die Forderung
in den Seelen aller Religi�sen und Metaphysiker (auch der K�nstler,
falls sie zugleich Denker sind); w�hrend der wissenschaftliche Mensch
in dieser Forderung das "b�se Princip" sieht. - Die allgemeine erste
Wahrscheinlichkeit, auf welche man bei Betrachtung der Askese und
Heiligkeit zuerst ger�th, ist diese, dass ihre Natur eine complicirte
ist: denn fast �berall, innerhalb der physischen Welt sowohl wie in
der moralischen, hat man mit Gl�ck das angeblich Wunderbare auf das
Complicirte und mehrfach Bedingte zur�ckgef�hrt. Wagen wir es also,
einzelne Antriebe in der Seele der Heiligen und Asketen zun�chst zu
isoliren und zum Schluss sie in einander uns verwachsen zu denken.


137.

Es giebt einen Trotz gegen sich selbst, zu dessen sublimirtesten
Aeusserungen manche Formen der Askese geh�ren. Gewisse Menschen
haben n�mlich ein so hohes Bed�rfniss, ihre Gewalt und Herrschsucht
auszu�ben, dass sie, in Ermangelung anderer Objecte, oder, weil es
ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf verfallen, gewisse
Theile ihres eigenen Wesens, gleichsam Ausschnitte oder Stufen ihrer
selbst, zu tyrannisiren. So bekennt sich mancher Denker zu Ansichten,
welche ersichtlich nicht dazu dienen, seinen Ruf zu vermehren oder zu
verbessern; mancher beschw�rt f�rmlich die Missachtung Anderer auf
sich herab, w�hrend er es leicht h�tte, durch Stillschweigen ein
geachteter Mann zu bleiben; andere widerrufen fr�here Meinungen
und scheuen es nicht, f�rderhin inconsequent genannt zu werden: im
Gegentheil, sie bem�hen sich darum und benehmen sich wie �berm�thige
Reiter, welche das Pferd, erst wenn es wild geworden, mit Schweiss
bedeckt, scheu gemacht ist, am liebsten m�gen. So steigt der Mensch
auf gef�hrlichen Wegen in die h�chsten Gebirge, um �ber seine
Aengstlichkeit und seine schlotternden Kniee Hohn zu lachen; so
bekennt sich der Philosoph zu Ansichten der Askese, Demuth und
Heiligkeit, in deren Glanze sein eigenes Bild auf das �rgste
verh�sslicht wird. Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott �ber
die eigene Natur, dieses spernere se sperni, aus dem die Religionen so
viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit.
Die ganze Moral der Bergpredigt geh�rt hierher: der Mensch hat
eine wahre Wollust darin, sich durch �bertriebene Anspr�che zu
vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele
nachher zu verg�ttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch
einen Theil von sich als Gott an und hat dazu n�thig, den �brigen
Theil zu diabolisiren. -


138.

Der Mensch ist nicht zu allen Stunden gleich moralisch, diess ist
bekannt: beurtheilt man seine Moralit�t nach der F�higkeit zu grosser
aufopfernder Entschliessung und Selbstverleugnung (welche, dauernd
und zur Gewohnheit geworden, Heiligkeit ist), so ist er im Affect am
moralischsten; die h�here Erregung reicht ihm ganz neue Motive dar,
welcher er, n�chtern und kalt wie sonst, vielleicht nicht einmal f�hig
zu sein glaubte. Wie kommt diess? Wahrscheinlich aus der Nachbarschaft
alles Grossen und hoch Erregenden; ist der Mensch einmal in eine
ausserordentliche Spannung gebracht, so kann er ebensowohl zu
einer furchtbaren Rache, als zu einer furchtbaren Brechung seines
Rachebed�rfnisses sich entschliessen. Er will, unter dem Einflusse der
gewaltigen Emotion, jedenfalls das Grosse, Gewaltige, Ungeheure, und
wenn er zuf�llig merkt, dass ihm die Aufopferung seiner selbst ebenso
oder noch mehr genugthut, als die Opferung des Anderen, so w�hlt er
sie. Eigentlich liegt ihm also nur an der Entladung seiner Emotion;
da fasst er wohl, um seine Spannung zu erleichtern, die Speere
der Feinde zusammen und begr�bt sie in seine Brust. Dass in der
Selbstverleugnung, und nicht nur in der Rache, etwas Grosses liege,
musste der Menschheit erst in langer Gew�hnung anerzogen werden;
eine Gottheit, welche sich selbst opfert, war das st�rkste und
wirkungsvollste Symbol dieser Art von Gr�sse. Als die Besiegung des
schwerst zu besiegenden Feindes, die pl�tzliche Bemeisterung eines
Affectes, - als Diess erscheint diese Verleugnung; und insofern gilt
sie als der Gipfel des Moralischen. In Wahrheit handelt es sich bei
ihr um die Vertauschung der einen Vorstellung mit der andern, w�hrend
das Gem�th seine gleiche H�he, seinen gleichen Fluthstand, beh�lt.
Ern�chterte, vom Affect ausruhende Menschen verstehen die Moralit�t
jener Augenblicke nicht mehr, aber die Bewunderung Aller, die jene
miterlebten, h�lt sie aufrecht; der Stolz ist ihr Trost, wenn der
Affect und das Verst�ndniss ihrer That weicht. Also: im Grunde sind
auch jene Handlungen der Selbstverleugnung nicht moralisch, insofern
sie nicht streng in Hinsicht auf Andere gethan sind; vielmehr giebt
der Andere dem hochgespannten Gem�the nur eine Gelegenheit, sich zu
erleichtern, durch jene Verleugnung.


139.

In mancher Hinsicht sucht sich auch der Asket das Leben leicht zu
machen, und zwar gew�hnlich durch die vollkommene Unterordnung unter
einen fremden Willen oder unter ein umf�ngliches Gesetz und Ritual;
etwa in der Art, wie der Brahmane durchaus Nichts seiner eigenen
Bestimmung �berl�sst und sich in jeder Minute durch eine heilige
Vorschrift bestimmt. Diese Unterordnung ist ein m�chtiges Mittel, um
�ber sich Herr zu werden; man ist besch�ftigt, also ohne Langeweile,
und hat doch keine Anregung des Eigenwillens und der Leidenschaft
dabei; nach vollbrachter That fehlt das Gef�hl der Verantwortung und
damit die Qual der Reue. Man hat ein f�r alle Mal auf eigenen Willen
verzichtet, und diess ist leichter, als nur gelegentlich einmal
zu verzichten; sowie es auch leichter ist, einer Begierde ganz zu
entsagen, als in ihr Maass zu halten. Wenn wir uns der jetzigen
Stellung des Mannes zum Staate erinnern, so finden wir auch da, dass
der unbedingte Gehorsam bequemer ist, als der bedingte. Der Heilige
also erleichtert sich durch jenes v�llige Aufgeben der Pers�nlichkeit
sein Leben, und man t�uscht sich, wenn man in jenem Ph�nomen das
h�chste Heldenst�ck der Moralit�t bewundert. Es ist in jedem Falle
schwerer, seine Pers�nlichkeit ohne Schwanken und Unklarheit
durchzusetzen, als sich von ihr in der erw�hnten Weise zu l�sen;
�berdiess verlangt es viel mehr Geist und Nachdenken.


140.

Nachdem ich, in vielen der schwerer erkl�rbaren Handlungen,
Aeusserungen jener Lust an der Emotion an sich gefunden habe, m�chte
ich auch in Betreff der Selbstverachtung, welche zu den Merkmalen der
Heiligkeit geh�rt, und ebenso in den Handlungen der Selbstqu�lerei
(durch Hunger und Geisselschl�ge, Verrenkungen der Glieder,
Erheuchelung des Wahnsinns) ein Mittel erkennen, durch welches jene
Naturen gegen die allgemeine Erm�dung ihres Lebenswillens (ihrer
Nerven) ank�mpfen: sie bedienen sich der schmerzhaftesten Reizmittel
und Grausamkeiten, um f�r Zeiten wenigstens aus jener Dumpfheit und
Langenweile aufzutauchen, in welche ihre grosse geistige Indolenz
und jene geschilderte Unterordnung unter einen fremden Willen sie so
h�ufig verfallen l�sst.


141.

Das gew�hnlichste Mittel, welches der Asket und Heilige anwendet,
um sich das Leben doch noch ertr�glich und unterhaltend zu machen,
besteht in gelegentlichem Kriegf�hren und in dem Wechsel von Sieg
und Niederlage. Dazu braucht er einen Gegner und findet ihn in dem
sogenannten "inneren Feinde". Namentlich n�tzt er seinen Hang zur
Eitelkeit, Ehr- und Herrschsucht, sodann seine sinnlichen Begierden
aus, um sein Leben wie eine fortgesetzte Schlacht und sich wie ein
Schlachtfeld ansehen zu d�rfen, auf dem gute und b�se Geister mit
wechselndem Erfolge ringen. Bekanntlich wird die sinnliche Phantasie
durch die Regelm�ssigkeit des geschlechtlichen Verkehrs gem�ssigt,
ja fast unterdr�ckt, umgekehrt, durch Enthaltsamkeit oder Unordnung
im Verkehre entfesselt und w�st. Die Phantasie vieler christlichen
Heiligen war in ungew�hnlichem Maasse schmutzig; verm�ge jener
Theorie, dass diese Begierden wirkliche D�monen seien, die in ihnen
w�theten, f�hlten sie sich nicht allzusehr verantwortlich dabei;
diesem Gef�hle verdanken wir die so belehrende Aufrichtigkeit ihrer
Selbstzeugnisse. Es war in ihrem Interesse, dass dieser Kampf in
irgend einem Grade immer unterhalten wurde, weil durch ihn, wie
gesagt, ihr �des Leben unterhalten wurde. Damit der Kampf aber wichtig
genug erscheine, um andauernde Theilnahme und Bewunderung bei den
Nicht-Heiligen zu erregen, musste die Sinnlichkeit immer mehr
verketzert und gebrandmarkt werden, ja die Gefahr ewiger Verdammnis
wurde so eng an diese Dinge gekn�pft, dass h�chstwahrscheinlich durch
ganze Zeitalter hindurch die Christen mit b�sem Gewissen Kinder
zeugten; wodurch gewiss der Menschheit ein grosser Schade angethan
worden ist. Und doch steht hier die Wahrheit ganz auf dem Kopfe:
was f�r die Wahrheit besonders unschicklich ist. Zwar hatte das
Christenthum gesagt: jeder Mensch sei in S�nden empfangen und geboren,
und im unausstehlichen Superlativ-Christenthume des Calderon hatte
sich dieser Gedanke noch einmal zusammengeknotet und verschlungen,
so dass er die verdrehteste Paradoxie wagte, die es giebt, in dem
bekannten Verse:

    die gr�sste Schuld des Menschen
    ist, dass er geboren ward.

In allen pessimistischen Religionen wird der Zeugungsact als schlecht
an sich empfunden, aber keineswegs ist diese Empfindung eine
allgemein-menschliche; selbst nicht einmal das Urtheil aller
Pessimisten ist sich hierin gleich. Empedokles zum Beispiel weiss gar
Nichts vom Besch�menden, Teuflischen, S�ndhaften in allen erotischen
Dingen; er sieht vielmehr auf der grossen Wiese des Unheils eine
einzige heil- und hoffnungsvolle Erscheinung, die Aphrodite; sie gilt
ihm als B�rgschaft, dass der Streit nicht ewig herrschen, sondern
einem milderen D�mon einmal das Scepter �berreichen werde. Die
christlichen Pessimisten der Praxis hatten, wie gesagt, ein Interesse
daran, dass eine andere Meinung in der Herrschaft blieb; sie brauchten
f�r die Einsamkeit und die geistige W�stenei ihres Lebens einen immer
lebendigen Feind: und einen allgemein anerkannten Feind, durch dessen
Bek�mpfung und Ueberw�ltigung sie dem Nicht-Heiligen sich immer
von Neuem wieder als halb unbegreifliche, �bernat�rliche Wesen
darstellten. Wenn dieser Feind endlich, in Folge ihrer Lebensweise
und ihrer zerst�rten Gesundheit, die Flucht f�r immer ergriff, so
verstanden sie es sofort, ihr Inneres mit neuen D�monen bev�lkert zu
sehen. Das Auf- und Niederschwanken der Wagschalen Hochmuth und Demuth
unterhielt ihre gr�belnden K�pfe so gut, wie der Wechsel von Begierde
und Seelenruhe. Damals diente die Psychologie dazu, alles Menschliche
nicht nur zu verd�chtigen, sondern zu l�stern, zu geisseln, zu
kreuzigen; man wollte sich m�glichst schlecht und b�se finden, man
suchte die Angst um das Heil der Seele, die Verzweiflung an der eignen
Kraft. Alles Nat�rliche, an welches der Mensch die Vorstellung des
Schlechten, S�ndhaften anh�ngt (wie er es zum Beispiel noch jetzt
in Betreff des Erotischen gew�hnt ist), bel�stigt, verd�stert die
Phantasie, giebt einen scheuen Blick, l�sst den Menschen mit sich
selber hadern und macht ihn unsicher und vertrauenslos; selbst seine
Tr�ume bekommen einen Beigeschmack des gequ�lten Gewissens. Und doch
ist dieses Leiden am Nat�rlichen in der Realit�t der Dinge v�llig
unbegr�ndet: es ist nur die Folge von Meinungen �ber die Dinge. Man
erkennt leicht, wie die Menschen dadurch schlechter werden, dass sie
das unvermeidlich-Nat�rliche als schlecht bezeichnen und sp�ter immer
als so beschaffen empfinden. Es ist der Kunstgriff der Religion und
jener Metaphysiker, welche den Menschen als b�se und s�ndhaft von
Natur wollen, ihm die Natur zu verd�chtigen und so ihn selber schlecht
zu machen: denn so lernt er sich als schlecht empfinden, da er das
Kleid der Natur nicht ausziehen kann. Allm�hlich f�hlt er sich,
bei einem langen Leben im Nat�rlichen, von einer solchen Last von
S�nden bedr�ckt, dass �bernat�rliche M�chte n�thig werden, um
diese Last heben zu k�nnen; und damit ist das schon besprochene
Erl�sungsbed�rfniss auf den Schauplatz getreten, welches gar keiner
wirklichen, sondern nur einer eingebildeten S�ndhaftigkeit entspricht.
Man gehe die einzelnen moralischen Aufstellungen der Urkunden
des Christenthums durch und man wird �berall finden, dass die
Anforderungen �berspannt sind, damit der Mensch ihnen nicht gen�gen
k�nne; die Absicht ist nicht, dass er moralischer werde, sondern dass
er sich m�glichst s�ndhaft f�hle. Wenn dem Menschen diess Gef�hl nicht
angenehm gewesen w�re, - wozu h�tte er eine solche Vorstellung erzeugt
und sich so lange an sie geh�ngt? Wie in der antiken Welt eine
unermessliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist,
um die Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren: so ist in der
Zeit des Christenthums ebenfalls unermesslich viel Geist einem andern
Streben geopfert worden: der Mensch sollte auf alle Weise sich
s�ndhaft f�hlen und dadurch �berhaupt erregt, belebt, beseelt werden.
Erregen, beleben, beseelen, um jeden Preis - ist das nicht das
Losungswort einer erschlafften, �berreifen, �bercultivirten Zeit? Der
Kreis aller nat�rlichen Empfindungen war hundertmal durchlaufen, die
Seele war ihrer m�de geworden: da erfanden der Heilige und der Asket
eine neue Gattung von Lebensreizen. Sie stellten sich vor Aller
Augen hin, nicht eigentlich zur Nachahmung f�r Viele, sondern als
schauderhaftes und doch entz�ckendes Schauspiel, welches an jenen
Gr�nzen zwischen Welt und Ueberwelt aufgef�hrt wurde, wo Jedermann
damals bald himmlische Lichtblicke, bald unheimliche, aus der Tiefe
lodernde Flammenzungen zu erblicken glaubte. Das Auge des Heiligen,
hingerichtet auf die in jedem Betracht furchtbare Bedeutung des kurzen
Erdenlebens, auf die N�he der letzten Entscheidung �ber endlose neue
Lebensstrecken, diess verkohlende Auge, in einem halb vernichteten
Leibe, machte die Menschen der alten Welt bis in alle Tiefen
erzittern; hinblicken, schaudernd wegblicken, von Neuem den Reiz des
Schauspiels sp�ren, ihm nachgeben, sich an ihm ers�ttigen, bis die
Seele in Gluth und Fieberfrost erbebt, - das war die letzte Lust,
welche das Alterthum erfand, nachdem es selbst gegen den Anblick von
Thier- und Menschenk�mpfen stumpf geworden war.


142.

Um das Gesagte zusammenzufassen: jener Seelenzustand, dessen sich
der Heilige oder Heiligwerdende erfreut, setzt sich aus Elementen
zusammen, welche wir Alle recht wohl kennen, nur dass sie sich unter
dem Einfluss anderer als religi�ser Vorstellungen anders gef�rbt
zeigen und dann den Tadel der Menschen ebenso stark zu erfahren
pflegen, wie sie, in jener Verbr�mung mit Religion und letzter
Bedeutsamkeit des Daseins, auf Bewunderung, ja Anbetung rechnen
d�rfen, - mindestens in fr�heren Zeiten rechnen durften. Bald �bt der
Heilige jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter der
Herrschsucht ist und auch dem Einsamsten noch das Gef�hl der Macht
giebt; bald springt seine angeschwellte Empfindung aus dem Verlangen,
seine Leidenschaften dahinschiessen zu lassen, �ber in das Verlangen,
sie wie wilde Rosse zusammenst�rzen zu machen, unter dem m�chtigen
Druck einer stolzen Seele; bald will er ein v�lliges Aufh�ren aller
st�renden, qu�lenden, reizenden Empfindungen, einen wachen Schlaf,
ein dauerndes Ausruhen im Schoosse einer dumpfen, thier- und
pflanzenhaften Indolenz; bald sucht er den Kampf und entz�ndet ihn
in sich, weil ihm die Langeweile ihr g�hnendes Gesicht entgegenh�lt:
er geisselt seine Selbstverg�tterung mit Selbstverachtung und
Grausamkeit, er freut sich an dem wilden Aufruhre seiner Begierden,
an dem scharfen Schmerz der S�nde, ja an der Vorstellung des
Verlorenseins, er versteht es, seinem Affect, zum Beispiel dem der
�ussersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen, so dass er in den
der �ussersten Erniedrigung �bergeht und seine aufgehetzte Seele durch
diesen Contrast aus allen Fugen gerissen wird; und zuletzt: wenn es
ihn gar nach Visionen, Gespr�chen mit Todten oder g�ttlichen Wesen
gel�stet, so ist es im Grunde eine seltene Art von Wollust, welche er
begehrt, aber vielleicht jene Wollust, in der alle anderen in einen
Knoten zusammengeschlungen sind. Novalis, eine der Autorit�ten in
Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct, spricht das ganze
Geheimniss einmal mit naiver Freude aus: "Es ist wunderbar genug, dass
nicht l�ngst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit
die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und
gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat."


143.

Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das, was er in den Augen der
Nicht-Heiligen bedeutet, giebt ihm seinen welthistorischen Werth.
Dadurch, dass man sich �ber ihn irrte, dass man seine Seelenzust�nde
falsch auslegte und ihn von sich so stark als m�glich abtrennte, als
etwas durchaus Unvergleichliches und fremdartig-Uebermenschliches:
dadurch gewann er die ausserordentliche Kraft, mit welcher er die
Phantasie ganzer V�lker, ganzer Zeiten beherrschen konnte. Er
selbst kannte sich nicht; er selbst verstand die Schriftz�ge seiner
Stimmungen, Neigungen, Handlungen nach einer Kunst der Interpretation,
welche ebenso �berspannt und k�nstlich war, wie die pneumatische
Interpretation der Bibel. Das Verschrobene und Kranke in seiner Natur,
mit ihrer Zusammenkoppelung von geistiger Armuth, schlechtem Wissen,
verdorbener Gesundheit, �berreizten Nerven, blieb seinem Blick ebenso
wie dem seiner Beschauer verborgen. Er war kein besonders guter
Mensch, noch weniger ein besonders weiser Mensch: aber er bedeutete
Etwas, das �ber menschliches Maass in G�te und Weisheit hinausreiche.
Der Glaube an ihn unterst�tzte den Glauben an G�ttliches und
Wunderhaftes, an einen religi�sen Sinn alles Daseins, an einen
bevorstehenden letzten Tag des Gerichtes. In dem abendlichen Glanze
einer Weltuntergangs-Sonne, welche �ber die christlichen V�lker
hinleuchtete, wuchs die Schattengestalt des Heiligen in's Ungeheure:
ja bis zu einer solchen H�he, dass selbst in unserer Zeit, die nicht
mehr an Gott glaubt, es noch genug Denker giebt, welche an den
Heiligen glauben.


144.

Es versteht sich von selbst, dass dieser Zeichnung des Heiligen,
welche nach dem Durchschnitt der ganzen Gattung entworfen ist, manche
Zeichnung entgegengestellt werden kann, welche eine angenehmere
Empfindung hervorbringen m�chte. Einzelne Ausnahmen jener
Gattung heben sich heraus, sei es durch grosse Milde und
Menschenfreundlichkeit, sei es durch den Zauber ungew�hnlicher
Thatkraft; andere sind im h�chsten Grade anziehend, weil bestimmte
Wahnvorstellungen �ber ihr ganzes Wesen Lichtstr�me ausgiessen: wie es
zum Beispiel mit dem ber�hmten Stifter des Christenthums der Fall ist,
der sich f�r den eingeborenen Sohn Gottes hielt und desshalb sich
s�ndlos f�hlte; so dass er durch eine Einbildung - die man nicht zu
hart beurtheilen m�ge, weil das ganze Alterthum von G�tters�hnen
wimmelt - das selbe Ziel erreichte, das Gef�hl v�lliger S�ndlosigkeit,
v�lliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft
Jedermann sich erwerben kann. - Ebenfalls habe ich abgesehen von
den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem
christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und
insofern keinen reinen Typus darstellen: die Erkenntniss, die
Wissenschaft - soweit es eine solche gab -, die Erhebung �ber die
anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung des Denkens
wurde bei den Buddhaisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso
gefordert, wie die selben Eigenschaften in der christlichen Welt, als
Kennzeichen der Unheiligkeit, abgelehnt und verketzert werden.




Viertes Hauptst�ck.

Aus der Seele der K�nstler und Schriftsteller.

145.

Das Vollkommene soll nicht geworden sein. - Wir sind gew�hnt, bei
allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen: sondern
uns des Gegenw�rtigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauberschlag
aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen wir hier noch
unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen Empfindung. Es
ist uns beinahe noch so zu Muthe (zum Beispiel in einem griechischen
Tempel wie der von P�stum), als ob eines Morgens ein Gott spielend aus
solchen ungeheuren Lasten sein Wohnhaus gebaut habe: anderemale als
ob eine Seele urpl�tzlich in einen Stein hineingezaubert sei und
nun durch ihn reden wolle. Der K�nstler weiss, dass sein Werk nur
voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine
wundergleiche Pl�tzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er
wohl dieser Illusion nach und f�hrt jene Elemente der begeisterten
Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Tr�umens
beim Beginn der Sch�pfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um
die Seele des Schauers oder H�rers so zu stimmen, dass sie an das
pl�tzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt. - Die Wissenschaft
der Kunst hat dieser Illusion, wie es sich von selbst versteht,
auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschl�sse und
Verw�hnungen des Intellects aufzuzeigen, verm�ge welcher er dem
K�nstler in das Netz l�uft.


146.

Der Wahrheitssinn des K�nstlers. - Der K�nstler hat in Hinsicht auf
das Erkennen der Wahrheiten eine schw�chere Moralit�t, als der Denker;
er will sich die gl�nzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens
durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen n�chterne, schlichte
Methoden und Resultate. Scheinbar k�mpft er f�r die h�here W�rde
und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die f�r seine
Kunst wirkungsvollsten Voraussetzungen nicht aufgeben, also das
Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn f�r das
Symbolische, die Uebersch�tzung der Person, den Glauben an etwas
Wunderartiges im Genius: er h�lt also die Fortdauer seiner Art des
Schaffens f�r wichtiger, als die wissenschaftliche Hingebung an das
Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht.


147.

Die Kunst als Todtenbeschw�rerin. - Die Kunst versieht nebenbei
die Aufgabe zu conserviren, auch wohl erloschene, verblichene
Vorstellungen ein Wenig wieder aufzuf�rben; sie flicht, wenn sie diese
Aufgabe l�st, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren
Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein Scheinleben wie �ber
Gr�bern, welches hierdurch entsteht, oder wie die Wiederkehr geliebter
Todten im Traume, aber wenigstens auf Augenblicke wird die alte
Empfindung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst
vergessenen Tacte. Nun muss man wegen dieses allgemeinen Nutzens
der Kunst dem K�nstler selber es nachsehen, wenn er nicht in
den vordersten Reihen der Aufkl�rung und der fortschreitenden
Verm�nnlichung der Menschheit steht: er ist zeitlebens ein Kind oder
ein J�ngling geblieben und auf dem Standpunct zur�ckgehalten, auf
welchem er von seinem Kunsttriebe �berfallen wurde; Empfindungen der
ersten Lebensstufen stehen aber zugestandenermaassen denen fr�herer
Zeitl�ufte n�her, als denen des gegenw�rtigen Jahrhunderts.
Unwillk�rlich wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu
verkindlichen; diess ist sein Ruhm und seine Begr�nztheit.


148.

Dichter als Erleichterer des Lebens. - Die Dichter, insofern auch sie
das Leben der Menschen erleichtern wollen, wenden den Blick entweder
von der m�hseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart durch
ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen, zu neuen
Farben. Um diess zu k�nnen, m�ssen sie selbst in manchen Hinsichten
r�ckw�rts gewendete Wesen sein: so dass man sie als Br�cken zu ganz
fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden oder abgestorbenen
Religionen und Culturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich
immer und nothwendig Epigonen. Es ist freilich von ihren Mitteln
zur Erleichterung des Lebens einiges Ung�nstige zu sagen: sie
beschwichtigen und heilen nur vorl�ufig, nur f�r den Augenblick;
sie halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung
ihrer Zust�nde zu arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der
Unbefriedigten, welche zur That dr�ngen, aufheben und palliativisch
entladen.


149.

Der langsame Pfeil der Sch�nheit. - Die edelste Art der Sch�nheit
ist die, welche nicht auf einmal hinreisst, welche nicht st�rmische
und berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel),
sondern jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt mit sich
forttr�gt und die Einem im Traum einmal wiederbegegnet, endlich aber,
nachdem sie lange mit Bescheidenheit an unserm Herzen gelegen, von uns
ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Thr�nen, unser Herz mit Sehnsucht
f�llt. - Wonach sehnen wir uns beim Anblick der Sch�nheit? Darnach,
sch�n zu sein: wir w�hnen, es m�sse viel Gl�ck damit verbunden sein. -
Aber das ist ein Irrthum.


150.

Beseelung der Kunst. - Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen
nachlassen. Sie �bernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter
Gef�hle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber
tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung
mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte. Der zum Strome
angewachsene Reichthum des religi�sen Gef�hls bricht immer wieder aus
und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende Aufkl�rung hat
die Dogmen der Religion ersch�ttert und ein gr�ndliches Misstrauen
eingefl�sst: so wirft sich das Gef�hl, durch die Aufkl�rung aus der
religi�sen Sph�re hinausgedr�ngt, in die Kunst; in einzelnen F�llen
auch auf das politische Leben, ja selbst direct auf die Wissenschaft.
Ueberall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine h�here d�stere
F�rbung wahrnimmt darf man vermuthen, dass Geistergrauen,
Weihrauchduft und Kirchenschatten daran h�ngen geblieben sind.


151.

Wodurch das Metrum versch�nert. - Das Metrum legt Flor �ber die
Realit�t; es veranlasst einige K�nstlichkeit des Geredes und
Unreinheit des Denkens; durch den Schatten, den es auf den Gedanken
wirft, verdeckt es bald, bald hebt es hervor. Wie Schatten n�thig ist,
um zu versch�nern, so ist das "Dumpfe" n�thig, um zu verdeutlichen. -
Die Kunst macht den Anblick des Lebens ertr�glich, dadurch dass sie
den Flor des unreinen Denkens �ber dasselbe legt.


152.

Kunst der h�sslichen Seele. - Man zieht der Kunst viel zu enge
Schranken, wenn man verlangt, dass nur die geordnete, sittlich im
Gleichgewicht schwebende Seele sich in ihr aussprechen d�rfe. Wie in
den bildenden K�nsten, so auch giebt es in der Musik und Dichtung eine
Kunst der h�sslichen Seele, neben der Kunst der sch�nen Seele; und die
m�chtigsten Wirkungen der Kunst, das Seelenbrechen, Steinebewegen und
Thierevermenschlichen ist vielleicht gerade jener Kunst am meisten
gelungen.


153.

Die Kunst macht dem Denker das Herz schwer. - Wie stark das
metaphysische Bed�rfniss ist und wie sich noch zuletzt die Natur den
Abschied von ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, dass noch
im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen hat,
die h�chsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange
verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen, sei
es zum Beispiel, dass er bei einer Stelle der neunten Symphonie
Beethoven's sich �ber der Erde in einem Sternendome schweben f�hlt,
mit dem Traume der Unsterblichkeit im Herzen: alle Sterne scheinen um
ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer hinabzusinken. - Wird er
sich dieses Zustandes bewusst, so f�hlt er wohl einen tiefen Stich
im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene
Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zur�ckf�hre. In
solchen Augenblicken wird sein intellectualer Charakter auf die Probe
gestellt.


154.

Mit dem Leben spielen. - Die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit der
homerischen Phantasie war n�thig, um das �berm�ssig leidenschaftliche
Gem�th und den �berscharfen Verstand des Griechen zu beschwichtigen
und zeitweilig aufzuheben. Spricht bei ihnen der Verstand: wie herbe
und grausam erscheint dann das Leben! Sie t�uschen sich nicht, aber
sie umspielen absichtlich das Leben mit L�gen. Simonides rieth seinen
Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen; der Ernst war ihnen
als Schmerz allzubekannt (das Elend der Menschen ist ja das Thema,
�ber welches die G�tter so gern singen h�ren) und sie wussten, dass
einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genusse werden k�nne. Zur
Strafe f�r diese Einsicht waren sie aber von der Lust, zu fabuliren,
so geplagt, dass es ihnen im Alltagsleben schwer wurde, sich von Lug
und Trug frei zu halten, wie alles Poetenvolk eine solche Lust an
der L�ge hat und obendrein noch die Unschuld dabei. Die benachbarten
V�lker fanden das wohl mitunter zum Verzweifeln.


155.

Glaube an Inspiration. - Die K�nstler haben ein Interesse daran, dass
man an die pl�tzlichen Eingebungen, die sogenannten Inspirationen
glaubt; als ob die Idee des Kunstwerks, der Dichtung, der Grundgedanke
einer Philosophie, wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte. In
Wahrheit producirt die Phantasie des guten K�nstlers oder Denkers
fortw�hrend, Gutes, Mittelm�ssiges und Schlechtes, aber seine
Urtheilskraft, h�chst gesch�rft und ge�bt, verwirft, w�hlt aus, kn�pft
zusammen; wie man jetzt aus den Notizb�chern Beethoven's ersieht,
dass er die herrlichsten Melodien allm�hlich zusammengetragen und aus
vielfachen Ans�tzen gewissermaassen ausgelesen hat. Wer weniger streng
scheidet und sich der nachbildenden Erinnerung gern �berl�sst, der
wird unter Umst�nden ein grosser Improvisator werden k�nnen; aber die
k�nstlerische Improvisation steht tief im Verh�ltniss zum ernst und
m�hevoll erlesenen Kunstgedanken. Alle Grossen waren grosse Arbeiter,
unerm�dlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten,
Umgestalten, Ordnen.


156.

Nochmals die Inspiration. - Wenn sich die Productionskraft eine Zeit
lang angestaut hat und am Ausfliessen durch ein Hemmnis gehindert
worden ist, dann giebt es endlich einen so pl�tzlichen Erguss, als ob
eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten,
also ein Wunder sich vollziehe. Diess macht die bekannte T�uschung
aus, an deren Fortbestehen, wie gesagt, das Interesse aller K�nstler
ein wenig zu sehr h�ngt. Das Capital hat sich eben nur angeh�uft,
es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. Es giebt �brigens auch
anderw�rts solche scheinbare Inspiration, zum Beispiel im Bereiche der
G�te, der Tugend, des Lasters.


157.

Die Leiden des Genius' und ihr Werth. - Der k�nstlerische Genius will
Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so
fehlen ihm leicht die Geniessenden; er bietet Speisen, aber man will
sie nicht. Das giebt ihm ein unter Umst�nden l�cherlich-r�hrendes
Pathos; denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergn�gen
zu zwingen. Seine Pfeife t�nt, aber Niemand will tanzen: kann das
tragisch sein? - Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Compensation
f�r diese Entbehrung mehr Vergn�gen beim Schaffen, als die �brigen
Menschen bei allen anderen Gattungen der Th�tigkeit haben. Man
empfindet seine Leiden �bertrieben, weil der Ton seiner Klage lauter,
sein Mund beredter ist; und in mitunter sind seine Leiden wirklich
sehr gross, aber nur desshalb, weil sein Ehrgeiz, sein Neid so gross
ist. Der wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist f�r gew�hnlich
nicht so begehrlich und macht von seinen wirklich gr�sseren Leiden und
Entbehrungen kein solches Aufheben. Er darf mit gr�sserer Sicherheit
auf die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen; w�hrend
ein K�nstler, der diess thut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt,
bei dem ihm wehe um's Herz werden muss. In ganz seltenen F�llen,
- dann, wenn im selben Individuum der Genius des K�nnens und des
Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen - kommt zu den
erw�hnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu, welche als
die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen sind: die ausser-
und �berpers�nlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesammten
Cultur, allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen: welche ihren
Werth durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen
Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig werth). - Aber
welchen Maassstab, welche Goldwage giebt es f�r deren Aechtheit? Ist
es nicht fast geboten, misstrauisch gegen Alle zu sein, welche von
Empfindungen dieser Art bei sich reden?


158.

Verh�ngniss der Gr�sse. - Jeder grossen Erscheinung folgt die
Entartung nach, namentlich im Bereiche der Kunst. Das Vorbild des
Grossen reizt die eitleren Naturen zum �usserlichen Nachmachen
oder zum Ueberbieten; dazu haben alle grossen Begabungen das
Verh�ngnissvolle an sich, viele schw�chere Kr�fte und Keime zu
erdr�cken und um sich herum gleichsam die Natur zu ver�den. Der
gl�cklichste Fall in der Entwickelung einer Kunst ist der, dass
mehrere Genie's sich gegenseitig in Schranken halten; bei diesem
Kampfe wird gew�hnlich den schw�cheren und zarteren Naturen auch Luft
und Licht geg�nnt.


159.

Die Kunst dem K�nstler gef�hrlich. - Wenn die Kunst ein Individuum
gewaltig ergreift, dann zieht es dasselbe zu Anschauungen solcher
Zeiten zur�ck, wo die Kunst am kr�ftigsten bl�hte, sie wirkt dann
zur�ckbildend. Der K�nstler kommt immer mehr in eine Verehrung der
pl�tzlichen Erregungen, glaubt an G�tter und D�monen, durchseelt die
Natur, hasst die Wissenschaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen,
wie die Menschen des Alterthums, und begehrt einen Umsturz aller
Verh�ltnisse, welche der Kunst nicht g�nstig sind, und zwar diess mit
der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der
K�nstler schon ein zur�ckbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen
bleibt, welches zur Jugend und Kindheit geh�rt: dazu kommt noch,
dass er allm�hlich in andere Zeiten zur�ckgebildet wird. So entsteht
zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichalterigen
Menschen seiner Periode und ein tr�bes Ende; so wie, nach den
Erz�hlungen der Alten, Homer und Aeschylus in Melancholie zuletzt
lebten und starben.


160.

Geschaffene Menschen. - Wenn man sagt, der Dramatiker (und der
K�nstler �berhaupt) schaffe wirklich Charaktere, so ist diess eine
sch�ne T�uschung und Uebertreibung, in deren Dasein und Verbreitung
die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam �bersch�ssigen Triumphe
feiert. In der That verstehen wir von einem wirklichen lebendigen
Menschen nicht viel und generalisiren sehr oberfl�chlich, wenn wir
ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben: dieser unserer sehr
unvollkommenen Stellung zum Menschen entspricht nun der Dichter, indem
er ebenso oberfl�chliche Entw�rfe zu Menschen macht (in diesem Sinne
"Schafft"), als unsere Erkenntniss der Menschen oberfl�chlich ist. Es
ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen Charakteren der K�nstler;
es sind durchaus keine leibhaftigen Naturproducte, sondern �hnlich wie
die gemalten Menschen ein Wenig allzu d�nn, sie vertragen den Anblick
aus der N�he nicht. Gar wenn man sagt, der Charakter des gew�hnlichen
lebendigen Menschen widerspreche sich h�ufig, der vom Dramatiker
geschaffene sei das Urbild, welches der Natur vorgeschwebt habe, so
ist diess ganz falsch. Ein wirklicher Mensch ist etwas ganz und gar
Nothwendiges (selbst in jenen sogenannten Widerspr�chen), aber wir
erkennen diese Nothwendigkeit nicht immer. Der erdichtete Mensch, das
Phantasma, will etwas Nothwendiges bedeuten, doch nur vor Solchen,
welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer rohen,
unnat�rlichen Simplification verstehen: so dass ein paar starke, oft
wiederholte Z�ge, mit sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten
und Halbdunkel herum, ihren Anspr�chen vollst�ndig gen�gen. Sie
sind also leicht bereit, das Phantasma als wirklichen, nothwendigen
Menschen zu behandeln, weil sie gew�hnt sind, beim wirklichen Menschen
ein Phantasma, einen Schattenriss, eine willk�rliche Abbreviatur f�r
das Ganze zu nehmen. - Dass gar der Maler und der Bildhauer die "Idee"
des Menschen ausdr�cke, ist eitel Phantasterei und Sinnentrug: man
wird vom Auge tyrannisirt, wenn man so Etwas sagt, da dieses vom
menschlichen Leibe selbst nur die Oberfl�che, die Haut sieht; der
innere Leib geh�rt aber eben so sehr zur Idee. Die bildende Kunst will
Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen; die redende Kunst
nimmt das Wort zu dem selben Zwecke, sie bildet den Charakter im Laute
ab. Die Kunst geht von der nat�rlichen Unwissenheit des Menschen �ber
sein Inneres (in Leib und Charakter) aus: sie ist nicht f�r Physiker
und Philosophen da.


161.

Selbst�bersch�tzung im Glauben an K�nstler und Philosophen. - Wir Alle
meinen, es sei die G�te eines Kunstwerks, eines K�nstlers bewiesen,
wenn er uns ergreift, ersch�ttert. Aber da m�sste doch erst unsere
eigene G�te in Urtheil und Empfindung bewiesen sein: was nicht der
Fall ist. Wer hat mehr im Reiche der bildenden Kunst ergriffen
und entz�ckt, als Bernini, wer m�chtiger gewirkt, als jener
nachdemosthenische Rhetor, welcher den asianischen Stil einf�hrte und
durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte? Diese Herrschaft �ber
ganze Jahrhunderte beweist Nichts f�r die G�te und dauernde G�ltigkeit
eines Stils; desshalb soll man nicht zu sicher in seinem guten Glauben
an irgend einen K�nstler sein: ein solcher ist ja nicht nur der
Glaube an die Wahrhaftigkeit unserer Empfindung, sondern auch an die
Unfehlbarkeit unseres Urtheils, w�hrend Urtheil oder Empfindung oder
beides selber zu grob oder zu fein geartet, �berspannt oder roh sein
k�nnen. Auch die Segnungen und Beseligungen einer Philosophie, einer
Religion beweisen f�r ihre Wahrheit Nichts: ebensowenig als das Gl�ck,
welches der Irrsinnige von seiner fixen Idee her geniesst, Etwas f�r
die Vern�nftigkeit dieser Idee beweist.


162.

Cultus des Genius' aus Eitelkeit. - Weil wir gut von uns denken,
aber doch durchaus nicht von uns erwarten, dass wir je den Entwurf
eines Rafaelischen Gem�ldes oder eine solche Scene wie die eines
Shakespeare'schen Drama's machen k�nnten, reden wir uns ein, das
Verm�gen dazu sei ganz �berm�ssig wunderbar, ein ganz seltener Zufall,
oder, wenn wir noch religi�s empfinden, eine Begnadigung von Oben. So
f�rdert unsere Eitelkeit, unsere Selbstliebe, den Cultus des Genius':
denn nur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein miraculum,
verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose, nannte Shakespeare
seinen Stern der fernsten H�he; wobei man sich jenes Verses
erinnern mag: "die Sterne, die begehrt man nicht"). Aber von jenen
Einfl�sterungen unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint die
Th�tigkeit des Genie's durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes
von der Th�tigkeit des mechanischen Erfinders, des astronomischen
oder historischen Gelehrten, des Meisters der Taktik. Alle diese
Th�tigkeiten erkl�ren sich, wenn man sich Menschen vergegenw�rtigt,
deren Denken in Einer Richtung th�tig ist, die Alles als Stoff
ben�tzen, die immer ihrem innern Leben und dem Anderer mit Eifer
zusehen, die �berall Vorbilder, Anreizungen erblicken, die in der
Combination ihrer Mittel nicht m�de werden. Das Genie thut auch
Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es
immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Th�tigkeit
des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie's:
aber keine ist ein "Wunder." - Woher nun der Glaube, dass es allein
beim K�nstler, Redner und Philosophen Genie gebe? dass nur sie
"Intuition" haben? (womit man ihnen eine Art von Wunder-Augenglas
zuschreibt, mit dem sie direct in's "Wesen" sehen!) Die Menschen
sprechen ersichtlich dort allein von Genius, wo ihnen die Wirkungen
des grossen Intellectes am angenehmsten sind und sie wiederum nicht
Neid empfinden wollen. Jemanden "g�ttlich" nennen heisst "hier
brauchen wir nicht zu wetteifern". Sodann: alles Fertige, Vollkommene
wird angestaunt, alles Werdende untersch�tzt. Nun kann Niemand beim
Werke des K�nstlers zusehen, wie es geworden ist; das ist sein
Vortheil, denn �berall, wo man das Werden sehen kann, wird man etwas
abgek�hlt. Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken
an das Werden ab; es tyrannisirt als gegenw�rtige Vollkommenheit.
Desshalb gelten die K�nstler der Darstellung vornehmlich als genial,
nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In Wahrheit ist jene
Sch�tzung und diese Untersch�tzung nur eine Kinderei der Vernunft.


163.

Der Ernst des Handwerks. - Redet nur nicht von Begabung, angeborenen
Talenten! Es sind grosse M�nner aller Art zu nennen, welche wenig
begabt waren. Aber sie bekamen Gr�sse, wurden "Genie's" (wie man
sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel Niemand gern redet,
der sich ihrer bewusst ist: sie hatten Alle jenen t�chtigen
Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Theile vollkommen zu bilden,
bis er es wagt, ein grosses Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit
dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebens�chlichen
hatten, als an dem Effecte eines blendenden Ganzen. Das Recept zum
Beispiel, wie Einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu
geben, aber die Ausf�hrung setzt Eigenschaften voraus, �ber die man
hinwegzusehen pflegt, wenn man sagt "ich habe nicht genug Talent". Man
mache nur hundert und mehr Entw�rfe zu Novellen, keinen l�nger als
zwei Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, dass jedes Wort darin
nothwendig ist; man schreibe t�glich Anekdoten nieder, bis man es
lernt, ihre pr�gnanteste, wirkungsvollste Form zu finden, man sei
unerm�dlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und Charaktere,
man erz�hle vor Allem so oft es m�glich ist und h�re erz�hlen, mit
scharfem Auge und Ohr f�r die Wirkung auf die anderen Anwesenden, man
reise wie ein Landschaftsmaler und Cost�mzeichner, man excerpire sich
aus einzelnen Wissenschaften alles Das, was k�nstlerische Wirkungen
macht, wenn es gut dargestellt wird, man denke endlich �ber die Motive
der menschlichen Handlungen nach, verschm�he keinen Fingerzeig der
Belehrung hier�ber und sei ein Sammler von dergleichen Dingen bei Tag
und Nacht. In dieser mannichfachen Uebung lasse man einige zehn Jahre
vor�bergehen: was dann aber in der Werkst�tte geschaffen wird, darf
auch hinaus in das Licht der Strasse. - Wie machen es aber die
Meisten? Sie fangen nicht mit dem Theile, sondern mit dem Ganzen an.
Sie thun vielleicht einmal einen guten Griff, erregen Aufmerksamkeit
und thun von da an immer schlechtere Griffe, aus guten, nat�rlichen
Gr�nden. - Mitunter, wenn Vernunft und Charakter fehlen, um einen
solchen k�nstlerischen Lebensplan zu gestalten, �bernimmt das
Schicksal und die Noth die Stelle derselben und f�hrt den zuk�nftigen
Meister schrittweise durch alle Bedingungen seines Handwerks.


164.

Gefahr und Gewinn im Cultus des Genius'. - Der Glaube an grosse,
�berlegene, fruchtbare Geister ist nicht nothwendig, aber sehr h�ufig
noch mit jenem ganz- oder halbreligi�sen Aberglauben verbunden, dass
jene Geister �bermenschlichen Ursprungs seien und gewisse wunderbare
Verm�gen bes�ssen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse auf
ganz anderem Wege theilhaftig w�rden, als die �brigen Menschen. Man
schreibt ihnen wohl einen unmittelbaren Blick in das Wesen der Welt,
gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung, zu und glaubt,
dass sie ohne die M�hsal und Strenge der Wissenschaft, verm�ge dieses
wunderbaren Seherblickes, etwas Endg�ltiges und Entscheidendes �ber
Mensch und Welt mittheilen k�nnten. So lange das Wunder im Bereiche
der Erkenntniss noch Gl�ubige findet, kann man vielleicht zugeben,
dass dabei f�r die Gl�ubigen selber ein Nutzen herauskomme, insofern
diese durch ihre unbedingte Unterordnung unter die grossen Geister,
ihrem eigenen Geiste f�r die Zeit der Entwickelung die beste Disciplin
und Schule verschaffen. Dagegen ist mindestens fraglich, ob der
Aberglaube vom Genie, von seinen Vorrechten und Sonderverm�gen f�r
das Genie selber von Nutzen sei, wenn er in ihm sich einwurzelt. Es
ist jedenfalls ein gef�hrliches Anzeichen, wenn den Menschen jener
Schauder vor sich selbst �berf�llt, sei es nun jener ber�hmte
C�saren-Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder;
wenn der Opferduft, welchen man billigerweise allein einem Gotte
bringt, dem Genie in's Gehirn dringt, so dass er zu schwanken und sich
f�r etwas Uebermenschliches zu halten beginnt. Die langsamen Folgen
sind: das Gef�hl der Unverantwortlichkeit, der exceptionellen Rechte,
der Glaube, schon durch seinen Umgang zu begnadigen, wahnsinnige
Wuth bei dem Versuche, ihn mit Anderen zu vergleichen oder gar ihn
niedriger zu taxiren und das Verfehlte seines Werkes in's Licht zu
setzen. Dadurch, dass er aufh�rt, Kritik gegen sich selbst zu �ben,
f�llt zuletzt aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der
anderen aus: jener Aberglaube gr�bt die Wurzeln seiner Kraft an und
macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm
gewichen ist. F�r grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich
n�tzlicher, wenn sie �ber ihre Kraft und deren Herkunft zur
Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen
Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Gl�cksumst�nde
hinzutraten - also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung
zu einzelnen Zielen, grosser pers�nlicher Muth, sodann das Gl�ck einer
Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden fr�hzeitig
darbot. Freilich, wenn ihr Ziel ist, die gr�sstm�gliche Wirkung zu
machen, so hat die Unklarheit �ber sich selbst und jene Beigabe eines
halben Wahnsinns immer viel gethan; denn bewundert und beneidet hat
man zu allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, verm�ge deren sie
die Menschen willenlos machen und zum Wahne fortreissen, dass
�bernat�rliche F�hrer vor ihnen her giengen. Ja, es erhebt und
begeistert die Menschen, jemanden im Besitz �bernat�rlicher Kr�fte
zu glauben: insofern hat der Wahnsinn, wie Plato sagt, die gr�ssten
Segnungen �ber die Menschen gebracht. - In einzelnen seltenen F�llen
mag dieses St�ck Wahnsinn wohl auch das Mittel gewesen sein, durch
welches eine solche nach allen Seiten hin excessive Natur fest
zusammengehalten wurde: auch im Leben der Individuen haben die
Wahnvorstellungen h�ufig den Werth von Heilmitteln, welche an sich
Gifte sind; doch zeigt sich endlich, bei jedem "Genie", das an seine
G�ttlichkeit glaubt, das Gift in dem Grade, als das "Genie" alt
wird: man m�ge sich zum Beispiel Napoleon's erinnern, dessen Wesen
sicherlich gerade durch seinen Glauben an sich und seinen Stern und
durch die aus ihm fliessende Verachtung der Menschen zu der m�chtigen
Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen modernen Menschen
heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in einen fast
wahnsinnigen Fatalismus �bergieng, ihn seines Schnell- und
Scharfblickes beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde.


165.

Das Genie und das Nichtige. - Gerade die originellen, aus sich
sch�pfenden K�pfe unter den K�nstlern k�nnen unter Umst�nden das ganz
Leere und Schaale hervorbringen, w�hrend die abh�ngigeren Naturen,
die sogenannten Talente, voller Erinnerungen an alles m�gliche Gute
stecken und auch im Zustand der Schw�che etwas Leidliches produciren.
Sind die Originellen aber von sich selber verlassen, so giebt die
Erinnerung ihnen keine H�lfe: sie werden leer.


166.

Das Publicum. - Von der Trag�die begehrt das Volk eigentlich nicht
mehr, als recht ger�hrt zu werden, um sich einmal ausweinen zu k�nnen;
der Artist dagegen, der die neue Trag�die sieht, hat seine Freude an
den geistreichen technischen Erfindungen und Kunstgriffen, an der
Handhabung und Vertheilung des Stoffes, an der neuen Wendung alter
Motive, alter Gedanken. Seine Stellung ist die �sthetische Stellung
zum Kunstwerk, die des Schaffenden; die erstbeschriebene, mit
alleiniger R�cksicht auf den Stoff, die des Volkes. Von dem Menschen
dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder Volk noch Artist und weiss
nicht, was er will: so ist auch seine Freude unklar und gering.


167.

Artistische Erziehung des Publicums. - Wenn das selbe Motiv nicht
hundertf�ltig durch verschiedene Meister behandelt wird, lernt das
Publicum nicht �ber das Interesse des Stoffes hinauskommen; aber
zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten, neuen Erfindungen in
der Behandlung dieses Motives fassen und geniessen, wenn es also das
Motiv l�ngst aus zahlreichen Bearbeitungen kennt und dabei keinen Reiz
der Neuheit, der Spannung mehr empfindet.


168.

K�nstler und sein Gefolge m�ssen Schritt halten. - Der Fortgang von
einer Stufe des Stils zur andern muss so langsam sein, dass nicht nur
die K�nstler, sondern auch die Zuh�rer und Zuschauer diesen Fortgang
mitmachen und genau wissen, was vorgeht. Sonst entsteht auf einmal
jene grosse Kluft zwischen dem K�nstler, der auf abgelegener H�he
seine Werke schafft, und dem Publicum, welches nicht mehr zu jener
H�he hinaufkann und endlich missmuthig wieder tiefer hinabsteigt. Denn
wenn der K�nstler sein Publicum nicht mehr hebt, so sinkt es schnell
abw�rts, und zwar st�rzt es um so tiefer und gef�hrlicher, je h�her es
ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar, aus dessen F�ngen die
in die Wolken hinaufgetragene Schildkr�te zu ihrem Unheil hinabf�llt.


169.

Herkunft des Komischen. - Wenn man erw�gt, dass der Mensch manche
hunderttausend Jahre lang ein im h�chsten Grade der Furcht
zug�ngliches Thier war und dass alles Pl�tzliche, Unerwartete ihn
kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst sp�ter,
in socialen Verh�ltnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem
Herkommen in Meinung und Th�tigkeit beruhte, so darf man sich nicht
wundern, dass bei allem Pl�tzlichen, Unerwarteten in Wort und That,
wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen
wird, in's Gegentheil der Furcht �bergeht: das vor Angst zitternde,
zusammengekr�mmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit, - der
Mensch lacht. Diesen Uebergang aus momentaner Angst in kurz dauernden
Uebermuth nennt man das Komische. Dagegen geht im Ph�nomen des
Tragischen der Mensch schnell aus grossem, dauerndem Uebermuth in
grosse Angst �ber; da aber unter Sterblichen der grosse dauernde
Uebermuth viel seltener, als der Anlass zur Angst ist, so giebt es
viel mehr des Komischen, als des Tragischen in der Welt; man lacht
viel �fter, als dass man ersch�ttert ist.


170.

K�nstler-Ehrgeiz. - Die griechischen K�nstler, zum Beispiel die
Tragiker dichteten, um zu siegen; ihre ganze Kunst ist nicht ohne
Wettkampf zu denken: die hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem
Genius die Fl�gel. Nun verlangte dieser Ehrgeiz vor Allem, dass ihr
Werk die h�chste Vortrefflichkeit vor ihren eigenen Augen erhalte,
sowie sie also die Vortrefflichkeit verstanden, ohne R�cksicht auf
einen herrschenden Geschmack und die allgemeine Meinung �ber das
Vortreffliche an einem Kunstwerk; und so blieben Aeschylus und
Euripides lange Zeit ohne Erfolg, bis sie sich endlich Kunstrichter
erzogen hatten, welche ihr Werk nach den Maassst�ben w�rdigten, welche
sie selber anlegten. Somit erstreben sie den Sieg �ber Nebenbuhler
nach ihrer eigenen Sch�tzung, vor ihrem eigenen Richterstuhl, sie
wollen wirklich vortrefflicher sein; dann fordern sie von Aussen her
Zustimmung zu dieser eigenen Sch�tzung, Best�tigung ihres Urtheils.
Ehre erstreben heisst hier "sich �berlegen machen und w�nschen, dass
es auch �ffentlich so erscheine". Fehlt das Erstere und wird das
Zweite trotzdem begehrt, so spricht man von Eitelkeit. Fehlt das
Letztere und wird es nicht vermisst, so redet man von Stolz.


171.

Das Nothwendige am Kunstwerk. - Die, welche so viel von dem
Nothwendigen an einem Kunstwerk reden, �bertreiben, wenn sie K�nstler
sind, in majorem artis gloriam, oder wenn sie Laien sind, aus
Unkenntniss. Die Formen eines Kunstwerkes, welche seine Gedanken zum
Reden bringen, also seine Art zu sprechen sind, haben immer etwas
L�ssliches, wie alle Art Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine
Z�ge hinzuthun oder weglassen: ebenso der Darsteller, sei es ein
Schauspieler oder, in Betreff der Musik, ein Virtuos oder Dirigent.
Diese vielen kleinen Z�ge und Ausfeilungen machen ihm heute Vergn�gen,
morgen nicht, sie sind mehr des K�nstlers als der Kunst wegen da,
denn auch er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung, welche
die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert, gelegentlich des
Zuckerbrodes und der Spielsachen, um nicht m�rrisch zu werden.


172.

Den Meister vergessen machen. - Der Clavierspieler, der das Werk eines
Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben, wenn er
den Meister vergessen liess und wenn es so erschien, als ob er eine
Geschichte seines Lebens erz�hle oder jetzt eben Etwas erlebe.
Freilich: wenn er nichts Bedeutendes ist, wird jedermann seine
Geschw�tzigkeit verw�nschen, mit der er uns aus seinem Leben
erz�hlt. Also muss er verstehen, die Phantasie des Zuh�rers f�r
sich einzunehmen. Daraus wiederum erkl�ren sich alle Schw�chen und
Narrheiten des "Virtuosenthums".


173.

Corriger la fortune. - Es giebt schlimme Zuf�lligkeiten im Leben
grosser K�nstler, welche zum Beispiel den Maler zwingen, sein
bedeutendstes Bild nur als fl�chtigen Gedanken zu skizziren oder zum
Beispiel Beethoven zwangen, uns in manchen grossen Sonaten (wie in der
grossen B-dur) nur den ungen�genden Clavierauszug einer Symphonie zu
hinterlassen. Hier soll der sp�terkommende K�nstler das Leben der
Grossen nachtr�glich zu corrigiren suchen: was zum Beispiel Der thun
w�rde, welcher, als ein Meister aller Orchesterwirkungen, uns jene,
dem Clavier-Scheintode verfallene Symphonie zum Leben erweckte.


174.

Verkleinern. - Manche Dinge, Ereignisse oder Personen, vertragen
es nicht, im kleinen Maassstabe behandelt zu werden. Man kann die
Laokoon-Gruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Gr�sse
nothwendig. Aber viel seltener ist es, dass etwas von Natur Kleines
die Vergr�sserung vertr�gt; wesshalb es Biographen immer noch eher
gelingen wird, einen grossen Mann klein darzustellen, als einen
kleinen gross.


175.

Sinnlichkeit in der Kunst der Gegenwart. - Die K�nstler verrechnen
sich jetzt h�ufig, wenn sie auf eine sinnliche Wirkung ihrer
Kunstwerke hinarbeiten; denn ihre Zuschauer oder Zuh�rer haben nicht
mehr ihre vollen Sinne und gerathen, ganz wider die Absicht des
K�nstlers, durch sein Kunstwerk in - eine "Heiligkeit" der Empfindung,
welche der Langweiligkeit nahe verwandt ist. - Ihre Sinnlichkeit f�ngt
vielleicht dort an, wo die des K�nstlers gerade aufh�rt, sie begegnen
sich also h�chstens an Einem Puncte.


176.

Shakespeare als Moralist. - Shakespeare hat �ber die Leidenschaften
viel nachgedacht und wohl von seinem Temperamente her zu vielen einen
sehr nahen Zugang gehabt (Dramatiker sind im Allgemeinen ziemlich b�se
Menschen). Aber er vermochte nicht, wie Montaigne, dar�ber zu reden,
sondern legte die Beobachtungen �ber die Passionen den passionirten
Figuren in den Mund: was zwar wider die Natur ist, aber seine Dramen
so gedankenvoll macht, dass sie alle anderen leer erscheinen lassen
und leicht einen allgemeinen Widerwillen gegen sie erwecken. - Die
Sentenzen Schiller's (welchen fast immer falsche oder unbedeutende
Einf�lle zu Grunde liegen) sind eben Theatersentenzen und wirken als
solche sehr stark: w�hrend die Sentenzen Shakespeare's seinem Vorbilde
Montaigne Ehre machen und ganz ernsthafte Gedanken in geschliffener
Form enthalten, desshalb aber f�r die Augen des Theaterpublicums zu
fern und zu fein, also unwirksam sind.


177.

Sich gut zu Geh�r bringen. - Man muss nicht nur verstehen, gut zu
spielen, sondern auch sich gut zu Geh�r zu bringen. Die Geige in
der Hand des gr�ssten Meisters giebt nur ein Gezirp von sich, wenn
der Raum zu gross ist; man kann da den Meister mit jedem St�mper
verwechseln.


178.

Das Unvollst�ndige als das Wirksame. - Wie Relieffiguren dadurch so
stark auf die Phantasie wirken, dass sie gleichsam auf dem Wege sind,
aus der Wand herauszutreten und pl�tzlich, irgend wodurch gehemmt,
Halt machen: so ist mitunter die reliefartig unvollst�ndige
Darstellung eines Gedankens, einer ganzen Philosophie wirksamer, als
die ersch�pfende Ausf�hrung: man �berl�sst der Arbeit des Beschauers
mehr, er wird aufgeregt, das, was in so starkem Licht und Dunkel vor
ihm sich abhebt, fortzubilden, zu Ende zu denken und jenes Hemmniss
selber zu �berwinden, welches ihrem v�lligen Heraustreten bis dahin
hinderlich war.


179.

Gegen die Originalen. - Wenn die Kunst sich in den abgetragensten
Stoff kleidet, erkennt man sie am besten als Kunst.


180.

Collectivgeist. - Ein guter Schriftsteller hat nicht nur seinen
eigenen Geist, sondern auch noch den Geist seiner Freunde.


181.

Zweierlei Verkennung. - Das Ungl�ck scharfsinniger und klarer
Schriftsteller ist, dass man sie f�r flach nimmt und desshalb ihnen
keine M�he zuwendet: und das Gl�ck der unklaren, dass der Leser
sich an ihnen abm�ht und die Freude �ber seinen Eifer ihnen zu Gute
schreibt.


182.

Verh�ltniss zur Wissenschaft. - Alle Die haben kein wirkliches
Interesse an einer Wissenschaft, welche erst dann anfangen, f�r sie
warm zu werden, wenn sie selbst Entdeckungen in ihr gemacht haben.


183.

Der Schl�ssel. - Der eine Gedanke, auf den ein bedeutender Mensch, zum
Gel�chter und Spott der Unbedeutenden, grossen Werth legt, ist f�r ihn
ein Schl�ssel zu verborgenen Schatzkammern, f�r jene nicht mehr, als
ein St�ck alten Eisens.


184.

Un�bersetzbar. - Es ist weder das Beste, noch das Schlechteste an
einem Buche, was an ihm un�bersetzbar ist.


185.

Paradoxien des Autors. - Die sogenannten Paradoxien des Autors, an
welchen ein Leser Anstoss nimmt, stehen h�ufig gar nicht im Buche des
Autors, sondern im Kopfe des Lesers.


186.

Witz. - Die witzigsten Autoren erzeugen das kaum bemerkbarste L�cheln.


187.

Die Antithese. - Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich
am liebsten der Irrthum zur Wahrheit schleicht.


188.

Denker als Stilisten. - Die meisten Denker schreiben schlecht, weil
sie uns nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken
mittheilen.


189.

Gedanken im Gedicht. - Der Dichter f�hrt seine Gedanken festlich
daher, auf dem Wagen des Rhythmus': gew�hnlich desshalb, weil diese zu
Fuss nicht gehen k�nnen.


190.

S�nde wider den Geist des Lesers. - Wenn der Autor sein Talent
verleugnet, blos um sich dem Leser gleich zu stellen, so begeht er die
einzige Tods�nde, welche ihm Jener nie verzeiht: im Fall er n�mlich
Etwas davon merkt. Man darf dem Menschen sonst alles B�se nachsagen:
aber in der Art, wie man es sagt, muss man seine Eitelkeit wieder
aufzurichten wissen.


191.

Gr�nze der Ehrlichkeit. - Auch dem ehrlichsten Schriftsteller entf�llt
ein Wort zu viel, wenn er eine Periode abrunden will.


192.

Der beste Autor. - Der beste Autor wird der sein, welcher sich sch�mt,
Schriftsteller zu werden.


193.

Drakonisches Gesetz gegen Schriftsteller. - Man sollte einen
Schriftsteller als einen Misseth�ter ansehen, der nur in den
seltensten F�llen Freisprechung oder Begnadigung verdient: das w�re
ein Mittel gegen das Ueberhandnehmen der B�cher.


194.

Die Narren der modernen Cultur. - Die Narren der mittelalterlichen
H�fe entsprechen unseren Feuilletonisten; es ist die selbe Gattung
Menschen, halbvern�nftig, witzig, �bertrieben, albern, mitunter nur
dazu da, das Pathos der Stimmung durch Einf�lle, durch Geschw�tz zu
mildern und den allzu schweren, feierlichen Glockenklang grosser
Ereignisse durch Geschrei zu �bert�uben; ehemals im Dienste der
F�rsten und Adeligen, jetzt im Dienste von Parteien (wie in
Partei-Sinn und Partei-Zucht ein guter Theil der alten Unterth�nigkeit
im Verkehr des Volkes mit dem F�rsten jetzt noch fortlebt). Der ganze
moderne Litteratenstand steht aber den Feuilletonisten sehr nahe, es
sind die "Narren der modernen Cultur", welche man milder beurtheilt,
wenn man sie als nicht ganz zurechnungsf�hig nimmt. Schriftstellerei
als Lebensberuf zu betrachten, sollte billigerweise als eine Art
Tollheit gelten.


195.

Den Griechen nach. - Der Erkenntniss steht es gegenw�rtig sehr im
Wege, dass alle Worte durch hundertj�hrige Uebertreibung des Gef�hls
dunstig und aufgeblasen geworden sind. Die h�here Stufe der Cultur,
welche sich unter die Herrschaft (wenn auch nicht unter die Tyrannei)
der Erkenntniss stellt, hat eine grosse Ern�chterung des Gef�hls
und eine starke Concentration aller Worte vonn�then; worin uns
die Griechen im Zeitalter des Demosthenes vorangegangen sind. Das
Ueberspannte bezeichnet alle modernen Schriften; und selbst wenn
sie einfach geschrieben sind, so werden die Worte in denselben noch
zu excentrisch gef�hlt. Strenge Ueberlegung, Gedr�ngtheit, K�lte,
Schlichtheit, selbst absichtlich bis an die Gr�nze hinab, �berhaupt
An-sich-halten des Gef�hls und Schweigsamkeit, - das kann allein
helfen. - Uebrigens ist diese kalte Schreib- und Gef�hlsart, als
Gegensatz, jetzt sehr reizvoll: und darin liegt freilich eine neue
Gefahr. Denn die scharfe K�lte ist so gut ein Reizmittel, als ein
hoher W�rmegrad.


196.

Gute Erz�hler schlechte Erkl�rer. - Bei guten Erz�hlern steht oft
eine bewunderungsw�rdige psychologische Sicherheit und Consequenz,
soweit diese in den Handlungen ihrer Personen hervortreten kann,
in einem geradezu l�cherlichen Gegensatz zu der Unge�btheit ihres
psychologischen Denkens: so dass ihre Cultur in dem einen Augenblicke
ebenso ausgezeichnet hoch, als im n�chsten bedauerlich tief erscheint.
Es kommt gar zu h�ufig vor, dass sie ihre eigenen Helden und deren
Handlungen ersichtlich falsch erkl�ren, - es ist daran kein Zweifel,
so unwahrscheinlich die Sache klingt. Vielleicht hat der gr�sste
Clavierspieler nur wenig �ber die technischen Bedingungen und die
specielle Tugend, Untugend, Nutzbarkeit und Erziehbarkeit jedes
Fingers (daktylische Ethik) nachgedacht, und macht grobe Fehler, wenn
er von solchen Dingen redet.


197.

Die Schriften von Bekannten und ihre Leser. - Wir lesen Schriften von
Bekannten (Freunden und Feinden) doppelt, insofern fortw�hrend unsere
Erkenntniss daneben fl�stert: "das ist von ihm, ein Merkmal seines
inneren Wesens, seiner Erlebnisse, seiner Begabung", und wiederum eine
andere Art Erkenntniss dabei festzustellen sucht, was der Ertrag jenes
Werkes an sich ist, welche Sch�tzung es �berhaupt, abgesehen von
seinem Verfasser, verdient, welche Bereicherung des Wissens es mit
sich bringt. Diese beiden Arten des Lesens und Erw�gens st�ren sich,
wie das sich von selbst versteht, gegenseitig. Auch eine Unterhaltung
mit einem Freunde wird dann erst gute Fr�chte der Erkenntniss
zeitigen, wenn Beide endlich nur noch an die Sache denken, und
vergessen, dass sie Freunde sind.


198.

Rhythmische Opfer. - Gute Schriftsteller ver�ndern den Rhythmus
mancher Periode blos desshalb, weil sie den gew�hnlichen Lesern nicht
die F�higkeit zuerkennen, den Tact, welchem die Periode in ihrer
ersten Fassung folgte, zu begreifen: desshalb erleichtern sie es
ihnen, indem sie bekannteren Rhythmen den Vorzug geben. - Diese
R�cksicht auf das rhythmische Unverm�gen der jetzigen Leser hat schon
manche Seufzer entlockt, denn ihr ist viel schon zum Opfer gefallen. -
Ob es guten Musikern nicht �hnlich ergeht?


199.

Das Unvollst�ndige als k�nstlerisches Reizmittel. - Das Unvollst�ndige
ist oft wirksamer als die Vollst�ndigkeit, so namentlich in der
Lobrede: f�r ihre Zwecke braucht man gerade eine anreizende
Unvollst�ndigkeit, als ein irrationales Element, welches der
Phantasie des H�rers ein Meer vorspiegelt und gleich einem Nebel
die gegen�berliegende K�ste, also die Begr�nztheit des zu lobenden
Gegenstandes, verdeckt. Wenn man die bekannten Verdienste eines
Menschen erw�hnt und dabei ausf�hrlich und breit ist, so l�sst diess
immer den Argwohn aufkommen, es seien die einzigen Verdienste. Der
vollst�ndig Lobende stellt sich �ber den Gelobten, er scheint ihn zu
�bersehen. Desshalb wirkt das Vollst�ndige abschw�chend.


200.

Vorsicht im Schreiben und Lehren. - Wer erst geschrieben hat und die
Leidenschaft des Schreibens in sich f�hlt, lernt fast aus Allem, was
er treibt und erlebt, nur Das noch heraus, was schriftstellerisch
mittheilbar ist. Er denkt nicht mehr an sich, sondern an den
Schriftsteller und sein Publicum; er will die Einsicht, aber nicht zum
eigenen Gebrauche. Wer Lehrer ist, ist meistens unf�hig, etwas Eigenes
noch f�r sein eigenes Wohl zu treiben, er denkt immer an das Wohl
seiner Sch�ler und jede Erkenntniss erfreut ihn nur, so weit er sie
lehren kann. Er betrachtet sich zuletzt als einen Durchweg des Wissens
und �berhaupt als Mittel, so dass er den Ernst f�r sich verloren hat.


201.

Schlechte Schriftsteller nothwendig. - Es wird immer schlechte
Schriftsteller geben m�ssen, denn sie entsprechen dem Geschmack
der unentwickelten, unreifen Altersclassen; diese haben so gut ihr
Bed�rfniss wie die reifern. W�re das menschliche Leben l�nger, so
w�rde die Zahl der reif gewordenen Individuen �berwiegend oder
mindestens gleich gross mit der der unreifen ausfallen; so aber
sterben bei Weitem die meisten zu jung, das heisst es giebt immer viel
mehr unentwickelte Intellecte mit schlechtem Geschmack. Diese begehren
�berdiess, mit der gr�sseren Heftigkeit der Jugend, nach Befriedigung
ihres Bed�rfnisses, und sie erzwingen sich schlechte Autoren.


202.

Zu nah und zu fern. - Der Leser und der Autor verstehen sich h�ufig
desshalb nicht, weil der Autor sein Thema zu gut kennt und es beinahe
langweilig findet, so dass er sich die Beispiele erl�sst, die er zu
Hunderten weiss; der Leser aber ist der Sache fremd und findet sie
leicht schlecht begr�ndet, wenn ihm die Beispiele vorenthalten werden.


203.

Eine verschwundene Vorbereitung zur Kunst. - An Allem, was das
Gymnasium trieb, war das Werthvollste die Uebung im lateinischen Stil:
diese war eben eine Kunst�bung, w�hrend alle anderen Besch�ftigungen
nur das Wissen zum Zweck hatten. Den deutschen Aufsatz voranzustellen,
ist Barbarei, denn wir haben keinen musterg�ltigen, an �ffentlicher
Beredtsamkeit emporgewachsenen deutschen Stil; will man aber durch
den deutschen Aufsatz die Uebung im Denken f�rdern, so ist es gewiss
besser, wenn man einstweilen von Stil dabei �berhaupt absieht, also
zwischen der Uebung im Denken und der im Darstellen scheidet. Letztere
sollte sich auf mannichfache Fassung eines gegebenen Inhaltes beziehen
und nicht auf selbst�ndiges Erfinden eines Inhaltes. Die blose
Darstellung bei gegebenem Inhalte war die Aufgabe des lateinischen
Stils, f�r welchen die alten Lehrer eine l�ngst verloren gegangene
Feinheit des Geh�rs besassen. Wer ehemals gut in einer modernen
Sprache schreiben lernte, verdankte es dieser Uebung (jetzt muss man
sich nothgedrungen zu den �lteren Franzosen in die Schule schicken);
aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit und
Schwierigkeit der Form und wurde f�r die Kunst �berhaupt auf dem
einzig richtigen Wege vorbereitet, durch Praxis.


204.

Dunkles und Ueberhelles neben einander. - Schriftsteller, welche im
Allgemeinen ihren Gedanken keine Deutlichkeit zu geben verstehen,
werden im Einzelnen mit Vorliebe die st�rksten, �bertriebensten
Bezeichnungen und Superlative w�hlen: dadurch entsteht eine
Lichtwirkung, wie bei Fackelbeleuchtung auf verworrenen Waldwegen.


205.

Schriftstellerisches Malerthum. - Einen bedeutenden Gegenstand wird
man am besten darstellen, wenn man die Farben zum Gem�lde aus dem
Gegenstande selber, wie ein Chemiker, nimmt und sie dann wie ein
Artist verbraucht: so dass man die Zeichnung aus den Gr�nzen und
Ueberg�ngen der Farben erwachsen l�sst. So bekommt das Gem�lde Etwas
von dem hinreissenden Naturelement, welches den Gegenstand selber
bedeutend macht.


206.

B�cher, welche tanzen lehren. - Es giebt Schriftsteller, welche
dadurch, dass sie Unm�gliches als m�glich darstellen und vom
Sittlichen und Genialen so reden, als ob beides nur eine Laune, ein
Belieben sei, ein Gef�hl von �berm�thiger Freiheit hervorbringen, wie
wenn der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte und vor innerer Lust
durchaus tanzen m�sste.


207.

Nicht fertig gewordene Gedanken. - Ebenso wie nicht nur das
Mannesalter, sondern auch Jugend und Kindheit einen Werth an sich
haben und gar nicht nur als Durchg�nge und Br�cken zu sch�tzen sind,
so haben auch die nicht fertig gewordenen Gedanken ihren Werth. Man
muss desshalb einen Dichter nicht mit subtiler Auslegung qu�len und
sich an der Unsicherheit seines Horizontes vergn�gen, wie als ob der
Weg zu mehreren Gedanken noch offen sei. Man steht an der Schwelle;
man wartet wie bei der Ausgrabung eines Schatzes: es ist, als ob ein
Gl�cksfund von Tiefsinn eben gemacht werden sollte. Der Dichter nimmt
Etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg
und macht uns damit begehrlich, so dass wir nach diesem haschen;
der aber gaukelt an unserm Kopf vor�ber und zeigt die sch�nsten
Schmetterlingsfl�gel - und doch entschl�pft er uns.


208.

Das Buch fast zum Menschen geworden. - Jeden Schriftsteller �berrascht
es von Neuem, wie das Buch, sobald es sich von ihm gel�st hat, ein
eigenes Leben f�r sich weiterlebt; es ist ihm zu Muthe, als w�re der
eine Theil eines Insectes losgetrennt und gienge nun seinen eigenen
Weg weiter. Vielleicht vergisst er es fast ganz, vielleicht erhebt
er sich �ber die darin niedergelegten Ansichten, vielleicht selbst
versteht er es nicht mehr und hat jene Schwingen verloren, auf denen
er damals flog, als er jenes Buch aussann: w�hrenddem sucht es sich
seine Leser, entz�ndet Leben, begl�ckt, erschreckt, erzeugt neue
Werke, wird die Seele von Vors�tzen und Handlungen - kurz: es lebt wie
ein mit Geist und Seele ausgestattetes Wesen und ist doch kein Mensch.
- Das gl�cklichste Loos hat der Autor gezogen, welcher, als alter
Mann, sagen kann, dass Alles, was von lebenzeugenden, kr�ftigenden,
erhebenden, aufkl�renden Gedanken und Gef�hlen in ihm war, in seinen
Schriften noch fortlebe und dass er selber nur noch die graue Asche
bedeute, w�hrend das Feuer �berall hin gerettet und weiter getragen
sei. - Erw�gt man nun gar, dass jede Handlung eines Menschen, nicht
nur ein Buch, auf irgend eine Art Anlass zu anderen Handlungen,
Entschl�ssen, Gedanken wird, dass Alles, was geschieht, unl�sbar fest
sich mit Allem, was geschehen wird, verknotet, so erkennt man die
wirkliche Unsterblichkeit, die es giebt, die der Bewegung: was einmal
bewegt hat, ist in dem Gesammtverbande alles Seienden, wie in einem
Bernstein ein Insect, eingeschlossen und verewigt.


209.

Freude im Alter. - Der Denker und ebenso der K�nstler, welcher sein
besseres Selbst in Werke gefl�chtet hat, empfindet eine fast boshafte
Freude, wenn er sieht, wie sein Leib und Geist langsam von der Zeit
angebrochen und zerst�rt werden, als ob er aus einem Winkel einen Dieb
an seinem Geldschranke arbeiten s�he, w�hrend er weiss, dass dieser
leer ist und alle Sch�tze gerettet sind.


210.

Ruhige Fruchtbarkeit. - Die geborenen Aristokraten des Geistes sind
nicht zu eifrig; ihre Sch�pfungen erscheinen und fallen an einem
ruhigen Herbstabend vom Baume, ohne hastig begehrt, gef�rdert, durch
Neues verdr�ngt zu werden. Das unabl�ssige Schaffenwollen ist gemein
und zeigt Eifersucht, Neid, Ehrgeiz an. Wenn man Etwas ist, so braucht
man eigentlich Nichts zu machen, - und thut doch sehr viel. Es giebt
�ber dem "productiven" Menschen noch eine h�here Gattung.


211.

Achilles und Homer. - Es ist immer wie zwischen Achilles und Homer:
der Eine hat das Erlebniss, die Empfindung, der Andere beschreibt
sie. Ein wirklicher Schriftsteller giebt dem Affect und der Erfahrung
Anderer nur Worte, er ist K�nstler, um aus dem Wenigen, was er
empfunden hat, viel zu errathen. K�nstler sind keineswegs die Menschen
der grossen Leidenschaft, aber h�ufig geben sie sich als solche in
der unbewussten Empfindung, dass man ihrer gemalten Leidenschaft mehr
traut, wenn ihr eigenes Leben f�r ihre Erfahrung auf diesem Gebiete
spricht. Man braucht sich ja nur gehen zu lassen, sich nicht zu
beherrschen, seinem Zorn, seiner Begierde offenen Spielraum zu g�nnen,
sofort schreit alle Welt: wie leidenschaftlich ist er! Aber mit der
tiefw�hlenden, das Individuum anzehrenden und oft verschlingenden
Leidenschaft hat es Etwas auf sich: wer sie erlebt, beschreibt sie
gewiss nicht in Dramen, T�nen oder Romanen. K�nstler sind h�ufig
z�gellose Individuen, soweit sie eben nicht K�nstler sind: aber das
ist etwas Anderes.


212.

Alte Zweifel �ber die Wirkung der Kunst. - Sollten Mitleid und Furcht
wirklich, wie Aristoteles will, durch die Trag�die entladen werden, so
dass der Zuh�rer k�lter und ruhiger nach Hause zur�ckkehre? Sollten
Geistergeschichten weniger furchtsam und abergl�ubisch machen? Es ist
bei einigen physischen Vorg�ngen, zum Beispiel bei dem Liebesgenuss,
wahr, dass mit der Befriedigung eines Bed�rfnisses eine Linderung und
zeitweilige Herabstimmung des Triebes eintritt. Aber die Furcht und
das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Bed�rfnisse bestimmter Organe,
welche erleichtert werden wollen. Und auf die Dauer wird selbst jeder
Trieb durch Uebung in seiner Befriedigung gest�rkt, trotz jener
periodischen Linderungen. Es w�re m�glich, dass Mitleid und Furcht
in jedem einzelnen Falle durch die Trag�die gemildert und entladen
w�rden: trotzdem k�nnten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung
�berhaupt gr�sser werden, und Plato behielte doch Recht, wenn er
meint, dass man durch die Trag�die insgesammt �ngstlicher und
r�hrseliger werde. Der tragische Dichter selbst w�rde dann nothwendig
eine d�stere, furchtvolle Weltbetrachtung und eine weiche, reizbare,
thr�nens�chtige Seele bekommen, desgleichen w�rde es zu Plato's
Meinung stimmen, wenn die tragischen Dichter und ebenso die ganzen
Stadtgemeinden, welche sich besonders an ihnen erg�tzen, zu immer
gr�sserer Maass- und Z�gellosigkeit ausarten. - Aber welches Recht
hat unsere Zeit �berhaupt, auf die grosse Frage Plato's nach dem
moralischen Einfluss der Kunst eine Antwort zu geben? H�tten wir
selbst die Kunst, - wo haben wir den Einfluss, irgend einen Einfluss
der Kunst?


213.

Freude am Unsinn. - Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben? So
weit n�mlich auf der Welt gelacht wird, ist diess der Fall; ja man
kann sagen, fast �berall wo es Gl�ck giebt, giebt es Freude am Unsinn.
Das Umwerfen der Erfahrung in's Gegentheil, des Zweckm�ssigen in's
Zwecklose, des Nothwendigen in's Beliebige, doch so, dass dieser
Vorgang keinen Schaden macht und nur einmal aus Uebermuth vorgestellt
wird, erg�tzt, denn es befreit uns momentan von dem Zwange des
Nothwendigen, Zweckm�ssigen und Erfahrungsgem�ssen, in denen wir f�r
gew�hnlich unsere unerbittlichen Herren sehen; wir spielen und lachen
dann, wenn das Erwartete (das gew�hnlich bange macht und spannt)
sich, ohne zu sch�digen, entladet. Es ist die Freude der Sclaven am
Saturnalienfeste.


214.

Veredelung der Wirklichkeit. - Dadurch, dass die Menschen in dem
aphrodisischen Triebe eine Gottheit sahen und ihn mit anbetender
Dankbarkeit in sich wirkend f�hlten, ist im Verlaufe der Zeit
jener Affect mit h�heren Vorstellungsreihen durchzogen und dadurch
thats�chlich sehr veredelt worden. So haben sich einige V�lker,
verm�ge dieser Kunst des Idealisirens, aus Krankheiten grosse
H�lfsm�chte der Cultur geschaffen: zum Beispiel die Griechen, welche
in fr�heren Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art der
Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen Typus
der Bacchantin herausgebildet haben. - Die Griechen besassen n�mlich
Nichts weniger, als eine vierschr�tige Gesundheit; - ihr Geheimniss
war, auch die Krankheit, wenn sie nur Macht hatte, als Gott zu
verehren.


215.

Musik. - Die Musik ist nicht an und f�r sich so bedeutungsvoll f�r
unser Inneres, so tief erregend, dass sie als unmittelbare Sprache des
Gef�hls gelten d�rfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie
hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in St�rke und
Schw�che des Tones gelegt, dass wir jetzt w�hnen, sie spr�che direct
zu in Inneren und k�me aus dem Inneren. Die dramatische Musik ist erst
m�glich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbolischer
Mittel erobert hat, durch Lied, Oper und hundertf�ltige Versuche der
Tonmalerei. Die "absolute Musik" ist entweder Form an sich, im rohen
Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener
St�rke �berhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum
Verst�ndniss redende Symbolik der Formen, nachdem in langer
Entwickelung beide K�nste verbunden waren und endlich die musicalische
Form ganz mit Begriffs- und Gef�hlsf�den durchsponnen ist. Menschen,
welche in der Entwickelung der Musik zur�ckgeblieben sind, k�nnen das
selbe Tonst�ck rein formalistisch empfinden, wo die Fortgeschrittenen
Alles symbolisch verstehen. An sich ist keine Musik tief und
bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom "Willen", vom "Dinge an sich";
das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter w�hnen, welches den
ganzen Umfang des inneren Lebens f�r die musicalische Symbolik erobert
hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang
hineingelegt, wie er in die Verh�ltnisse von Linien und Massen bei der
Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat, welche aber an sich
den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist.


216.

Geb�rde und Sprache. - Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von
Geb�rden, welches unwillk�rlich vor sich geht und jetzt noch, bei
einer allgemeinen Zur�ckdr�ngung der Geb�rdensprache und gebildeten
Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht
nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen k�nnen (man kann
beobachten, dass fingirtes G�hnen bei Einem, der es sieht, nat�rliches
G�hnen hervorruft). Die nachgeahmte Geb�rde leitete Den, der
nachahmte, zu der Empfindung zur�ck, welche sie im Gesicht oder K�rper
des Nachgeahmten ausdr�ckte. So lernte man sich verstehen: so lernt
noch das Kind die Mutter verstehen. Im Allgemeinen m�gen schmerzhafte
Empfindungen wohl auch durch Geb�rden ausgedr�ckt worden sein, welche
Schmerz ihrerseits verursachen (zum Beispiel durch Haar ausraufen,
die-Brust-schlagen, gewaltsame Verzerrungen und Anspannungen der
Gesichtsmuskeln). Umgekehrt: Geb�rden der Lust waren selber lustvoll
und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen des Verst�ndnisses
(Lachen als Aeusserung des Gekitzeltwerdens, welches lustvoll ist,
diente wiederum zum Ausdruck anderer lustvoller Empfindungen).
- Sobald man sich in Geb�rden verstand, konnte wiederum eine
Symbolik der Geb�rde entstehen: ich meine, man konnte �ber eine
Tonzeichensprache sich verst�ndigen, so zwar, dass man zuerst Ton
und Geb�rde (zu der er symbolisch hinzutrat), sp�ter nur den Ton
hervorbrachte. - Es scheint sich da in fr�her Zeit das Selbe oftmals
ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der
Entwickelung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich
geht: w�hrend zuerst die Musik, ohne erkl�renden Tanz und Mimus
(Geb�rdensprache), leeres Ger�usch ist, wird durch lange Gew�hnung
an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen
Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine H�he
des schnellen Verst�ndnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht
mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht. Man redet dann
von absoluter Musik, das heisst von Musik, in der Alles ohne weitere
Beih�lfe sofort symbolisch verstanden wird.


217.

Die Entsinnlichung der h�heren Kunst. - Unsere Ohren sind, verm�ge der
ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwickelung
der neuen Musik, immer intellectualer geworden. Desshalb ertragen wir
jetzt viel gr�ssere Tonst�rke, viel mehr "L�rm", weil wir viel besser
einge�bt sind, auf die Vernunft in ihm hin zu horchen, als unsere
Vorfahren. Thats�chlich sind nun alle unsere Sinne eben dadurch, dass
sie sogleich nach der Vernunft, also nach dem "es bedeutet" und nicht
mehr nach dem "es ist" fragen, etwas abgestumpft worden: wie sich eine
solche Abstumpfung zum Beispiel in der unbedingten Herrschaft der
Temperatur der T�ne verr�th; denn jetzt geh�ren Ohren, welche die
feineren Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen cis und des, noch
machen, zu den Ausnahmen. In dieser Hinsicht ist unser Ohr vergr�bert
worden. Sodann ist die h�ssliche, den Sinnen urspr�nglich feindselige
Seite der Welt f�r die Musik erobert worden; ihr Machtbereich,
namentlich zum Ausdruck des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnissvollen,
hat sich damit erstaunlich erweitert; unsere Musik bringt jetzt Dinge
zum Reden, welche fr�her keine Zunge hatten. In �hnlicher Weise haben
einige Maler das Auge intellectualer gemacht und sind weit �ber Das
hinausgegangen, was man fr�her Farben- und Formenfreude nannte. Auch
hier ist die urspr�nglich als h�sslich geltende Seite der Welt vom
k�nstlerischen Verstande erobert worden. - Was ist von alledem die
Consequenz? je gedankenf�higer Auge und Ohr werden, um so mehr kommen
sie an die Gr�nze, wo sie unsinnlich werden: die Freude wird in's
Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das
Symbolische tritt immer mehr an Stelle des Seienden, - und so gelangen
wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem
anderen. Einstweilen heisst es noch: die Welt ist h�sslicher als je,
aber sie bedeutet eine sch�nere Welt als je gewesen. Aber je mehr
der Ambraduft der Bedeutung sich zerstreut und verfl�chtigt, um so
seltener werden Die, welche ihn noch wahrnehmen: und die Uebrigen
bleiben endlich bei dem H�sslichen stehen und suchen es direct zu
geniessen, was ihnen aber immer misslingen muss. So giebt es in
Deutschland eine doppelte Str�mung der musicalischen Entwickelung:
hier eine Schaar von Zehntausend mit immer h�heren, zarteren
Anspr�chen und immer mehr nach dem "es bedeutet" hinh�rend, und dort
die ungeheuere Ueberzahl, welche allj�hrlich immer unf�higer wird, das
Bedeutende auch in der Form der sinnlichen H�sslichkeit zu verstehen
und desshalb nach dem an sich H�sslichen und Ekelhaften, das heisst
dem niedrig Sinnlichen, in der Musik mit immer mehr Behagen greifen
lernt.


218.

Der Stein ist mehr Stein als fr�her. - Wir verstehen im Allgemeinen
Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir
Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren
herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entw�hnt
sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom
ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen
oder christlichen Geb�ude bedeutete urspr�nglich Alles Etwas, und zwar
in Hinsicht auf eine h�here Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer
unaussch�pflichen Bedeutsamkeit lag um das Geb�ude gleich einem
zauberhaften Schleier. Sch�nheit kam nur nebenbei in das System
hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch
G�ttern�he und Magie Geweihten, wesentlich zu beeintr�chtigen;
Sch�nheit milderte h�chstens das Grauen, - aber dieses Grauen war
�berall die Voraussetzung. - Was ist uns jetzt die Sch�nheit eines
Geb�udes? Das Selbe wie das sch�ne Gesicht einer geistlosen Frau:
etwas Maskenhaftes.


219.

Religi�se Herkunft der neueren Musik. - Die seelenvolle Musik entsteht
in dem wiederhergestellten Katholicismus nach dem tridentinischen
Concil, durch Palestrina, welcher dem neu erwachten innigen und
tief bewegten Geiste zum Klange verhalf; sp�ter, mit Bach, auch im
Protestantismus, soweit dieser durch die Pietisten vertieft und von
seinem urspr�nglich dogmatischen Grundcharakter losgebunden worden
war. Voraussetzung und nothwendige Vorstufe f�r beide Entstehungen ist
die Befassung mit Musik, wie sie dem Zeitalter der Renaissance und
Vor-Renaissance zu eigen war, namentlich jene gelehrte Besch�ftigung
mit Musik, jene im Grunde wissenschaftliche Lust an den Kunstst�cken
der Harmonik und Stimmf�hrung. Andererseits musste auch die Oper
vorhergegangen sein: in welcher der Laie seinen Protest gegen eine
zu gelehrt gewordene kalte Musik zu erkennen gab und der Polyhymnia
wieder eine Seele schenken wollte. - Ohne jene tief religi�se
Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst-erregten Gem�thes
w�re die Musik gelehrt oder opernhaft geblieben; der Geist der
Gegenreformation ist der Geist der modernen Musik (denn jener
Pietismus in Bach's Musik ist auch eine Art Gegenreformation). So
tief sind wir dem religi�sen Leben verschuldet. - Die Musik war die
Gegenrenaissance im Gebiete der Kunst, zu ihr geh�rt die sp�tere
Malerei des Murillo, zu ihr vielleicht auch der Barockstil: mehr
jedenfalls als die Architektur der Renaissance oder des Alterthums.
Und noch jetzt d�rfte man fragen: wenn unsere neuere Musik die
Steine bewegen k�nnte, w�rde sie diese zu einer antiken Architektur
zusammensetzen? Ich zweifle sehr. Denn Das, was in dieser Musik
regiert, der Affect, die Lust an erh�hten, weit gespannten Stimmungen,
das Lebendig-werden-wollen um jeden Preis, der rasche Wechsel der
Empfindung, die starke Reliefwirkung in Licht und Schatten, die
Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven, - das hat Alles
schon einmal in den bildenden K�nsten regiert und neue Stilgesetze
geschaffen: - es war aber weder im Alterthum noch in der Zeit der
Renaissance.


220.

Das Jenseits in der Kunst. - Nicht ohne tiefen Schmerz gesteht
man sich ein, dass die K�nstler aller Zeiten in ihrem h�chsten
Aufschwunge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verkl�rung
hinaufgetragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind
die Verherrlicher der religi�sen und philosophischen Irrth�mer der
Menschheit, und sie h�tten diess nicht sein k�nnen ohne den Glauben an
die absolute Wahrheit derselben. Nimmt nun der Glaube an eine solche
Wahrheit �berhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die
�ussersten Enden des menschlichen Erkennens und W�hnens: so kann
jene Gattung von Kunst nie wieder aufbl�hen, welche, wie die divina
commedia, die Bilder Rafael's, die Fresken Michelangelo's, die
gothischen M�nster, nicht nur eine kosmische, sondern auch eine
metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzt. Es wird eine
r�hrende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen
K�nstlerglauben gegeben habe.


221.

Die Revolution in der Poesie. - Der strenge Zwang, welchen sich die
franz�sischen Dramatiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit der
Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl
der Worte und Gedanken, war eine so wichtige Schule, wie die des
Contrapuncts und der Fuge in der Entwickelung der modernen Musik oder
wie die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredtsamkeit. Sich
so zu binden, kann absurd erscheinen; trotzdem giebt es kein anderes
Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, als sich zuerst auf
das allerst�rkste (vielleicht allerwillk�rlichste) zu beschr�nken.
Man lernt so allm�hlich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen
schreiten, welche schwindelnde Abgr�nde �berbr�cken, und bringt die
h�chste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute mit heim: wie die
Geschichte der Musik vor den Augen aller Jetztlebenden beweist. Hier
sieht man, wie Schritt vor Schritt die Fesseln lockerer werden, bis
sie endlich ganz abgeworfen scheinen k�nnen: dieser Schein ist das
h�chste Ergebniss einer nothwendigen Entwickelung in der Kunst.
In der modernen Dichtkunst gab es keine so gl�ckliche allm�hliche
Herauswickelung aus den selbstgelegten Fesseln. Lessing machte die
franz�sische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum
Gesp�tt in Deutschland und verwies auf Shakespeare, und so verlor
man die Stetigkeit jener Entfesselung und machte einen Sprung in den
Naturalismus - das heisst in die Anf�nge der Kunst zur�ck. Aus ihm
versuchte sich Goethe zu retten, indem er sich immer von Neuem wieder
auf verschiedene Art zu binden wusste; aber auch der Begabteste bringt
es nur zu einem fortw�hrenden Experimentiren, wenn der Faden der
Entwickelung einmal abgerissen ist. Schiller verdankt die ungef�hre
Sicherheit seiner Form dem unwillk�rlich verehrten, wenn auch
verleugneten Vorbilde der franz�sischen Trag�die und hielt sich
ziemlich unabh�ngig von Lessing (dessen dramatische Versuche er
bekanntlich ablehnte). Den Franzosen selber fehlten nach Voltaire auf
einmal die grossen Talente, welche die Entwickelung der Trag�die aus
dem Zwange zu jenem Scheine der Freiheit fortgef�hrt h�tten; sie
machten sp�ter nach deutschem Vorbilde auch den Sprung in eine Art von
Rousseau'schem Naturzustand der Kunst und experimentirten. Man lese
nur von Zeit zu Zeit Voltaire's Mahomet, um sich klar vor die Seele zu
stellen, was durch jenen Abbruch der Tradition ein f�r alle Mal der
europ�ischen Cultur verloren gegangen ist. Voltaire war der letzte der
grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den gr�ssten
tragischen Gewitterst�rmen gewachsene Seele durch griechisches Maass
b�ndigte, - er vermochte Das, was noch kein Deutscher vermochte, weil
die Natur des Franzosen der griechischen viel verwandter ist, als die
Natur des Deutschen -; wie er auch der letzte grosse Schriftsteller
war, der in der Behandlung der Prosa-Rede griechisches Ohr,
griechische K�nstler-Gewissenhaftigkeit, griechische Schlichtheit
und Anmuth hatte; ja wie er einer der letzten Menschen gewesen ist,
welche die h�chste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings
unrevolution�re Gesinnung in sich vereinigen k�nnen, ohne inconsequent
und feige zu sein. Seitdem ist der moderne Geist mit seiner Unruhe,
seinem Hass gegen Maass und Schranke, auf allen Gebieten zur
Herrschaft gekommen, zuerst entz�gelt durch das Fieber der Revolution
und dann wieder sich Z�gel anlegend, wenn ihn Angst und Grauen vor
sich selber anwandelte, - aber die Z�gel der Logik, nicht mehr des
k�nstlerischen Maasses. Zwar geniessen wir durch jene Entfesselung
eine Zeit lang die Poesien aller V�lker, alles an verborgenen Stellen
Aufgewachsene, Urw�chsige, Wildbl�hende, Wunderlich-Sch�ne und
Riesenhaft-Unregelm�ssige, vom Volksliede an bis zum "grossen
Barbaren" Shakespeare hinauf; wir schmecken die Freuden der Localfarbe
und des Zeitcost�ms, die allen k�nstlerischen V�lkern bisher
fremd waren; wir benutzen reichlich die "barbarischen Avantagen"
unserer Zeit, welche Goethe gegen Schiller geltend machte, um die
Formlosigkeit seines Faust in das g�nstigste Licht zu stellen. Aber
auf wie lange noch? Die hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile
aller V�lker muss ja allm�hlich das Erdreich hinwegschwemmen, auf dem
ein stilles verborgenes Wachsthum noch m�glich gewesen w�re; alle
Dichter m�ssen ja experimentirende Nachahmer, wagehalsige Copisten
werden, mag ihre Kraft von Anbeginn noch so gross sein; das Publicum
endlich, welches verlernt hat, in der B�ndigung der darstellenden
Kraft, in der organisirenden Bew�ltigung aller Kunstmittel die
eigentlich k�nstlerische That zu sehen, muss immer mehr die Kraft
um der Kraft willen, die Farbe um der Farbe willen, den Gedanken um
des Gedankens willen, ja die Inspiration um der Inspiration willen
sch�tzen, es wird demgem�ss die Elemente und Bedingungen des
Kunstwerks gar nicht, wenn nicht isolirt, geniessen und zu guterletzt
die nat�rliche Forderung stellen, dass der K�nstler isolirt sie ihm
auch darreichen m�sse. Ja, man hat die "unvern�nftigen" Fesseln der
franz�sisch-griechischen Kunst abgeworfen, aber unvermerkt sich daran
gew�hnt, alle Fesseln, alle Beschr�nkung unvern�nftig zu finden; - und
so bewegt sich die Kunst ihrer Aufl�sung entgegen und streift dabei
- was freilich h�chst belehrend ist - alle Phasen ihrer Anf�nge,
ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse
und Ausschreitungen: sie interpretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre
Entstehung, ihr Werden. Einer der Grossen, auf dessen Instinct man
sich wohl verlassen kann und dessen Theorie Nichts weiter, als ein
dreissig Jahre Mehr von Praxis fehlte, - Lord Byron hat einmal
ausgesprochen: "Was die Poesie im Allgemeinen anlangt, so bin ich, je
mehr ich dar�ber nachdenke, immer fester der Ueberzeugung, dass wir
allesammt auf dem falschen Wege sind, Einer wie der Andere. Wir folgen
Alle einem innerlich falschen revolution�ren System, - unsere oder die
n�chste Generation wird noch zu der selben Ueberzeugung gelangen." Es
ist diess der selbe Byron, welcher sagt: "Ich betrachte Shakespeare
als das schlechteste Vorbild, wenn auch als den ausserordentlichsten
Dichter." Und sagt im Grunde Goethe's gereifte k�nstlerische Einsicht
aus der zweiten H�lfte seines Lebens nicht genau das Selbe? - jene
Einsicht, mit welcher er einen solchen Vorsprung �ber eine Reihe von
Generationen gewann, dass man im Grossen und Ganzen behaupten kann,
Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen?
Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen
Revolution festhielt, gerade weil er am gr�ndlichsten auskostete, was
Alles indirect durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden,
Aussichten, H�lfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der
Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine sp�tere Umwandelung
und Bekehrung so viel: sie bedeutet, dass er das tiefste Verlangen
empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den stehen
gebliebenen Tr�mmern und S�uleng�ngen des Tempels mit der Phantasie
des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten,
wenn die Kraft des Armes sich viel zu schwach erweisen sollte, zu
bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerst�ren n�thig waren. So
lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst: sein
Dichten war zum H�lfsmittel der Erinnerung, des Verst�ndnisses alter,
l�ngst entr�ckter Kunstzeiten geworden. Seine Forderungen waren zwar
in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerf�llbar; der
Schmerz dar�ber wurde aber reichlich durch die Freude aufgewogen,
dass sie einmal erf�llt gewesen sind und dass auch wir noch an
dieser Erf�llung theilnehmen k�nnen. Nicht Individuen, sondern mehr
oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine
allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast
Unsichtbaren abged�mpft und mythisch gemacht; das gegenw�rtige
Empfinden und die Probleme der gegenw�rtigen Gesellschaft auf die
einfachsten Formen zusammengedr�ngt, ihrer reizenden, spannenden,
pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem
artistischen Sinne wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und
Charaktere, sondern die alten, l�ngst gewohnten in immerfort w�hrender
Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe
sp�ter verstand, so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen �bten.


222.

Was von der Kunst �brig bleibt. - Es ist wahr, bei gewissen
metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel gr�sseren Werth,
zum Beispiel wenn der Glaube gilt, dass der Charakter unver�nderlich
sei und das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen
fortw�hrend ausspreche: da wird das Werk des K�nstlers zum Bild des
ewig Beharrenden, w�hrend f�r unsere Auffassung der K�nstler seinem
Bilde immer nur G�ltigkeit f�r eine Zeit geben kann, weil der Mensch
im Ganzen geworden und wandelbar und selbst der einzelne Mensch
nichts Festes und Beharrendes ist. - Ebenso steht es bei einer andern
metaphysischen Voraussetzung: gesetzt, dass unsere sichtbare Welt
nur Erscheinung w�re, wie es die Metaphysiker annehmen, so k�me die
Kunst der wirklichen Welt ziemlich nahe zu stehen: denn zwischen der
Erscheinungswelt und der Traumbild-Welt des K�nstlers g�be es dann gar
zu viel Aehnliches; und die �brigbleibende Verschiedenheit stellte
sogar die Bedeutung der Kunst h�her, als die Bedeutung der Natur,
weil die Kunst das Gleichf�rmige, die Typen und Vorbilder der Natur
darstellte. - Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung
bleibt nach dieser Erkenntniss jetzt noch der Kunst? Vor Allem hat sie
durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse und Lust auf das
Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung so weit zu
bringen, dass wir endlich rufen: "wie es auch sei, das Leben, es
ist gut." Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das
Menschenleben wie ein St�ck Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als
Gegenstand gesetzm�ssiger Entwickelung anzusehen, - diese Lehre ist in
uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bed�rfniss des
Erkennens wieder an's Licht. Man k�nnte die Kunst aufgeben, w�rde
damit aber nicht die von ihr gelernte F�higkeit einb�ssen: ebenso wie
man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen
Gem�ths-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und
die Musik der Maassstab des durch die Religion wirklich erworbenen
und hinzugewonnenen Gef�hls-Reichthumes ist, so w�rde nach einem
Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensit�t und
Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern.
Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des
k�nstlerischen.


223.

Abendr�the der Kunst. - Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und
Ged�chtnissfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im
Verh�ltniss einer r�hrenden Erinnerung an die Freuden der Jugend.
Vielleicht dass niemals fr�her die Kunst so tief und seelenvoll
erfasst wurde, wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen
scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche
an Einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter
Wehmuth und Thr�nen dar�ber, dass immer mehr die ausl�ndische Barbarei
�ber ihre mitgebrachten Sitten triumphire; niemals hat man wohl das
Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher
Wollust geschl�rft, als unter diesen absterbenden Hellenen. Den
K�nstler wird man bald als ein herrliches Ueberbleibsel ansehen und
ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Sch�nheit
das Gl�ck fr�herer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nicht
leicht Unseresgleichen g�nnen. Das Beste an uns ist vielleicht
aus Empfindungen fr�herer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf
unmittelbarem Wege kaum mehr kommen k�nnen; die Sonne ist schon
hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens gl�ht und leuchtet
noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.




F�nftes Hauptst�ck.

Anzeichen h�herer und niederer Cultur.

224.

Veredelung durch Entartung. - Aus der Geschichte ist zu lernen, dass
der Stamm eines Volkes sich am besten erh�lt, in welchem die meisten
Menschen lebendigen Gemeinsinn in Folge der Gleichheit ihrer gewohnten
und undiscutirbaren Grunds�tze, also in Folge ihres gemeinsamen
Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, t�chtige Sitte, hier wird die
Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit
schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr
dieser starken, auf gleichartige, charaktervolle Individuen
gegr�ndeten Gemeinwesen ist die allm�hlich durch Vererbung gesteigerte
Verdummung, welche nun einmal aller Stabilit�t wie ihr Schatten folgt.
Es sind die ungebundneren, viel unsichereren und moralisch schw�cheren
Individuen, an denen das geistige Fortschreiten in solchen Gemeinwesen
h�ngt: es sind die Menschen, welche Neues und �berhaupt Vielerlei
versuchen. Unz�hlige dieser Art gehen, ihrer Schw�che wegen, ohne sehr
ersichtliche Wirkung zu Grunde; aber im Allgemeinen, zumal wenn sie
Nachkommen haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem
stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser
wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas
Neues gleichsam inoculirt; seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug
sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren.
Die abartenden Naturen sind �berall da von h�chster Bedeutung, wo ein
Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im Grossen muss eine
theilweise Schw�chung vorhergehen. Die st�rksten Naturen halten den
Typus fest, die schw�cheren helfen ihn fortbilden. - Etwas Aehnliches
ergiebt sich f�r den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung,
eine Verst�mmelung, selbst ein Laster und �berhaupt eine k�rperliche
oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite.
Der kr�nkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines
kriegerischen und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, f�r sich
zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der Ein�ugige wird
Ein st�rkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in's Innere schauen
und jedenfalls sch�rfer h�ren. Insofern scheint mir der ber�hmte Kampf
um's Dasein nicht der einzige Gesichtspunct zu sein, aus dem das
Fortschreiten oder St�rkerwerden eines Menschen, einer Rasse erkl�rt
werden kann. Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen: einmal die
Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und
Gemeingef�hl; sodann die M�glichkeit, zu h�heren Zielen zu gelangen,
dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise
Schw�chungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade
die schw�chere Natur, als die zartere und freiere, macht alles
Fortschreiten �berhaupt m�glich. Ein Volk, das irgendwo anbr�ckelt und
schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die
Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben.
Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung so: ihn so
fest und sicher hinzustellen, dass er als Ganzes gar nicht mehr aus
seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm
Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schl�gt,
zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bed�rfniss entstanden
sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles
inoculirt werden. Seine gesammte Natur wird es in sich hineinnehmen
und sp�ter, in ihren Fr�chten, die Veredelung sp�ren lassen. - Was den
Staat betrifft, so sagt Macchiavelli, dass "die Form der Regierungen
von sehr geringer Bedeutung ist, obgleich halbgebildete Leute anders
denken. Das grosse Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche
alles Andere aufwiegt, indem sie weit werthvoller ist, als Freiheit".
Nur bei sicher begr�ndeter und verb�rgter gr�sster Dauer ist stetige
Entwickelung und veredelnde Inoculation �berhaupt m�glich. Freilich
wird gew�hnlich die gef�hrliche Genossin aller Dauer, die Autorit�t,
sich dagegen wehren.


225.

Freigeist ein relativer Begriff. - Man nennt Den einen Freigeist,
welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft,
Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden
Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister
sind die Regel; diese werfen ihm vor, dass seine freien Grunds�tze
ihren Ursprung entweder in der Sucht, aufzufallen, haben oder gar auf
freie Handlungen, das heisst auf solche, welche mit der gebundenen
Moral unvereinbar sind, schliessen lassen. Bisweilen sagt man auch,
diese oder jene freien Grunds�tze seien aus Verschrobenheit und
Ueberspanntheit des Kopfes herzuleiten; doch spricht so nur die
Bosheit, welche selber an Das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit
schaden will: denn das Zeugniss f�r die gr�ssere G�te und Sch�rfe
seines Intellectes ist dem Freigeist gew�hnlich in's Gesicht
geschrieben, so lesbar, dass es die gebundenen Geister gut genug
verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei sind
redlich gemeint; in der That entstehen auch viele Freigeister auf die
eine oder die andere Art. Desshalb k�nnten aber die S�tze, zu denen
sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverl�ssiger sein, als
die der gebundenen Geister. Bei der Erkenntniss der Wahrheit kommt es
darauf an, dass man sie hat, nicht darauf, aus welchem Antrieb man sie
gesucht, auf welchem Wege man sie gefunden hat. Haben die Freigeister
Recht, so haben die gebundenen Geister Unrecht, gleichg�ltig, ob die
ersteren aus Unmoralit�t zur Wahrheit gekommen sind, die anderen aus
Moralit�t bisher an der Unwahrheit festgehalten haben. - Uebrigens
geh�rt es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere
Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herk�mmlichen
gel�st hat, sei es mit Gl�ck oder mit einem Misserfolg. F�r gew�hnlich
wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der
Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gr�nde, die
Anderen Glauben.


226.

Herkunft des Glaubens. - Der gebundene Geist nimmt seine Stellung
nicht aus Gr�nden ein, sondern aus Gew�hnung; er ist zum Beispiel
Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und
die Wahl zwischen ihnen gehabt h�tte; er ist Engl�nder, nicht weil er
sich f�r England entschieden hat, sondern er fand das Christenthum und
das Engl�nderthum vor und nahm sie an ohne Gr�nde, wie jemand, der in
einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Sp�ter, als er
Christ und Engl�nder war, hat er vielleicht auch einige Gr�nde zu
Gunsten seiner Gew�hnung ausfindig gemacht; man mag diese Gr�nde
umwerfen, damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man
n�thige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Gr�nde gegen die
Bigamie vorzubringen, dann wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer
f�r die Monogamie auf Gr�nden oder auf Angew�hnung beruht. Angew�hnung
geistiger Grunds�tze ohne Gr�nde nennt man Glauben.


227.

Aus den Folgen auf Grund und Ungrund zur�ckgeschlossen. - Alle Staaten
und Ordnungen der Gesellschaft: die St�nde, die Ehe, die Erziehung,
das Recht, alles diess hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben
der gebundenen Geister an sie, - also in der Abwesenheit der Gr�nde,
mindestens in der Abwehr des Fragens nach Gr�nden. Das wollen die
gebundenen Geister nicht gern zugeben und sie f�hlen wohl, dass es
ein Pudendum ist. Das Christenthum, das sehr unschuldig in seinen
intellectuellen Einf�llen war, merkte von diesem Pudendum Nichts,
forderte Glauben und Nichts als Glauben und wies das Verlangen nach
Gr�nden mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens
hin: ihr werdet den Vortheil des Glaubens schon sp�ren, deutete es
an, ihr sollt durch ihn selig werden. Thats�chlich verf�hrt der
Staat ebenso und jeder Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn:
halte diess nur f�r wahr, sagt er, du wirst sp�ren, wie gut diess
thut. Diess bedeutet aber, dass aus dem pers�nlichen Nutzen, den
eine Meinung eintr�gt, ihre Wahrheit erwiesen werden soll, die
Zutr�glichkeit einer Lehre soll f�r die intellectuelle Sicherheit und
Begr�ndetheit Gew�hr leisten. Es ist diess so, wie wenn der Angeklagte
vor Gericht spr�che: mein Vertheidiger sagt die ganze Wahrheit, denn
seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen. -
Weil die gebundenen Geister ihre Grunds�tze ihres Nutzens wegen haben,
so vermuthen sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen Ansichten
ebenfalls seinen Nutzen suche und nur Das f�r wahr halte, was ihm
gerade frommt. Da ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu n�tzen
scheint, was seinen Landes- oder Standesgenossen n�tzt, so nehmen
diese an, dass seine Grunds�tze ihnen gef�hrlich sind; sie sagen oder
f�hlen: er darf nicht Recht haben, denn er ist uns sch�dlich.


228.

Der starke, gute Charakter. - Die Gebundenheit der Ansichten, durch
Gew�hnung zum Instinct geworden, f�hrt zu dem, was man Charakterst�rke
nennt. Wenn jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven
handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse Energie; stehen
diese Handlungen im Einklange mit den Grunds�tzen der gebundenen
Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen nebenbei in Dem, der sie
thut, die Empfindung des guten Gewissens. Wenige Motive, energisches
Handeln und gutes Gewissen machen Das aus, was man Charakterst�rke
nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntniss der vielen
M�glichkeiten und Richtungen des Handelns; sein Intellect ist unfrei,
gebunden, weil er ihm in einem gegebenen Falle vielleicht nur zwei
M�glichkeiten zeigt; zwischen diesen muss er jetzt gem�ss seiner
ganzen Natur mit Nothwendigkeit w�hlen, und er thut diess leicht und
schnell, weil er nicht zwischen f�nfzig M�glichkeiten zu w�hlen hat.
Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen, indem sie
ihm immer die geringste Zahl von M�glichkeiten vor Augen stellt. Das
Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas
Neues sei, aber eine Wiederholung werden solle. Erscheint der Mensch
zun�chst als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas
Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt
man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das
Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister
stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der
Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es sp�ter seinem Staate oder
Stande n�tzlich.


229.

Maass der Dinge bei den gebundenen Geistern. - Von vier Gattungen der
Dinge sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle
Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche
uns nicht l�stig fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche
uns Vortheil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, f�r welche
wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erkl�rt zum
Beispiel, wesshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen
wurde, mit Begeisterung fortgef�hrt wird, sobald erst Opfer gebracht
sind. - Die Freigeister, welche ihre Sache vor dem Forum der
gebundenen Geister f�hren, haben nachzuweisen, dass es immer
Freigeister gegeben hat, also dass die Freigeisterei Dauer hat,
sodann, dass sie nicht l�stig fallen wollen, und endlich, dass sie
den gebundenen Geistern im Ganzen Vortheil bringen; aber weil sie von
diesem Letzten die gebundenen Geister nicht �berzeugen k�nnen, n�tzt
es ihnen Nichts, den ersten und zweiten Punct bewiesen zu haben.


230.

Esprit fort. - Verglichen mit Dem, welcher das Herkommen auf seiner
Seite hat und keine Gr�nde f�r sein Handeln braucht, ist der Freigeist
immer schwach, namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive
und Gesichtspuncte und hat desshalb eine unsichere, unge�bte Hand.
Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch verh�ltnissm�ssig stark zu
machen, so dass er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zu
Grunde geht? Wie entsteht der starke Geist (esprit fort)? Es ist diess
in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius'.
Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit
welcher der Einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle
Erkenntniss der Welt zu erwerben trachtet?


231.

Die Entstehung des Genie's. - Der Witz des Gefangenen, mit welchem
er nach Mitteln zu seiner Befreiung sucht, die kaltbl�tigste und
langwierigste Ben�tzung jedes kleinsten Vortheils kann lehren, welcher
Handhabe sich mitunter die Natur bedient, um das Genie - ein Wort, das
ich bitte, ohne allen mythologischen und religi�sen Beigeschmack zu
verstehen - zu Stande zu bringen: sie f�ngt es in einen Kerker ein und
reizt seine Begierde, sich zu befreien, auf das �usserste. - Oder mit
einem anderen Bilde: jemand, der sich auf seinem Wege im Walde v�llig
verirrt hat, aber mit ungemeiner Energie nach irgend einer Richtung
hin in's Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen
Niemand kennt: so entstehen die Genies, denen man Originalit�t
nachr�hmt. - Es wurde schon erw�hnt, dass eine Verst�mmelung,
Verkr�ppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs h�ufig die
Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungew�hnlich gut
entwickelt, weil es seine eigene Function und noch eine andere zu
versehen hat. Hieraus ist der Ursprung mancher gl�nzenden Begabung zu
errathen. - Aus diesen allgemeinen Andeutungen �ber die Entstehung
des Genius' mache man die Anwendung auf den speciellen Fall, die
Entstehung des vollkommenen Freigeistes.


232.

Vermuthung �ber den Ursprung der Freigeisterei. - Ebenso wie die
Gletscher zunehmen, wenn in den Aequatorialgegenden die Sonne mit
gr�sserer Gluth als fr�her auf die Meere niederbrennt, so mag auch
wohl eine sehr starke, um sich greifende Freigeisterei Zeugniss
daf�r sein, dass irgendwo die Gluth der Empfindung ausserordentlich
gewachsen ist.


233.

Die Stimme der Geschichte. - Im Allgemeinen scheint die Geschichte
�ber die Erzeugung des Genius' folgende Belehrung zu geben:
misshandelt und qu�lt die Menschen, - so ruft sie den Leidenschaften
Neid, Hass und Wetteifer zu - treibt sie zum Aeussersten, den Einen
wider den Andern, das Volk gegen das Volk, und zwar durch Jahrhunderte
hindurch, dann flammt vielleicht, gleichsam aus einem bei Seite
fliegenden Funken der dadurch entz�ndeten furchtbaren Energie, auf
einmal das Licht des Genius' empor; der Wille, wie ein Ross durch den
Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und springt auf ein
anderes Gebiet �ber. - Wer zum Bewusstsein �ber die Erzeugung des
Genius' k�me und die Art, wie die Natur gew�hnlich verf�hrt, auch
praktisch durchf�hren wollte, w�rde gerade so b�se und r�cksichtslos
wie die Natur sein m�ssen. - Aber vielleicht haben wir uns verh�rt.


234.

Werth der Mitte des Wegs. - Vielleicht ist die Erzeugung des Genius'
nur einem begr�nzten Zeitraume der Menschheit vorbehalten. Denn man
darf von der Zukunft der Menschheit nicht zugleich alles Das erwarten,
was ganz bestimmte Bedingungen irgend welcher Vergangenheit allein
hervorzubringen vermochten; zum Beispiel nicht die erstaunlichen
Wirkungen des religi�sen Gef�hles. Dieses selbst hat seine Zeit gehabt
und vieles sehr Gute kann nie wieder wachsen, weil es allein aus
ihm wachsen konnte. So wird es nie wieder einen religi�s umgr�nzten
Horizont des Lebens und der Cultur geben. Vielleicht ist selbst der
Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes
m�glich, mit der es, wie es scheint, f�r alle Zukunft vorbei ist. Und
so ist die H�he der Intelligenz vielleicht einem einzelnen Zeitalter
der Menschheit aufgespart gewesen: sie trat hervor - und tritt hervor,
denn wir leben noch in diesem Zeitalter -, als eine ausserordentliche,
lang angesammelte Energie des Willens sich ausnahmsweise auf geistige
Ziele durch Vererbung �bertrug. Es wird mit jener H�he vorbei sein,
wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr gross gez�chtet werden.
Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der
mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele n�her, als am
Ende. Es k�nnten Kr�fte, durch welche zum Beispiel die Kunst bedingt
ist, geradezu aussterben; die Lust am L�gen, am Ungenauen, am
Symbolischen, am Rausche, an der Ekstase k�nnte in Missachtung kommen.
Ja, ist das Leben erst im vollkommenen Staate geordnet, so ist aus der
Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es w�rden
allein die zur�ckgebliebenen Menschen sein, welche nach dichterischer
Unwirklichkeit verlangten. Diese w�rden dann jedenfalls mit Sehnsucht
r�ckw�rts schauen, nach den Zeiten des unvollkommenen Staates, der
halb-barbarischen Gesellschaft nach unseren Zeiten.


235.

Genius und idealer Staat in Widerspruch. - Die Socialisten begehren
f�r m�glichst Viele ein Wohlleben herzustellen. Wenn die dauernde
Heimath dieses Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht
w�re, so w�rde durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der grosse
Intellect und �berhaupt das m�chtige Individuum w�chst, zerst�rt sein:
ich meine die starke Energie. Die Menschheit w�rde zu matt geworden
sein, wenn dieser Staat erreicht ist, um den Genius noch erzeugen
zu k�nnen. M�sste man somit nicht w�nschen, dass das Leben seinen
gewaltsamen Charakter behalte und dass immer von Neuem wieder wilde
Kr�fte und Energien hervorgerufen werden? Nun will das warme,
mitf�hlende Herz gerade die Beseitigung jenes gewaltsamen und wilden
Charakters, und das w�rmste Herz, das man sich denken kann, w�rde eben
darnach am leidenschaftlichsten verlangen: w�hrend doch gerade seine
Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charakter des Lebens ihr
Feuer, ihre W�rme, ja ihre Existenz genommen hat; das w�rmste Herz
will also Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst,
das heisst doch: es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent.
Die h�chste Intelligenz und das w�rmste Herz k�nnen nicht in einer
Person beisammen sein, und der Weise, welcher �ber das Leben das
Urtheil spricht, stellt sich auch �ber die G�te und betrachtet diese
nur als Etwas, das bei der Gesammtrechnung des Lebens mit abzusch�tzen
ist. Der Weise muss jenen ausschweifenden W�nschen der unintelligenten
G�te widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus' und an dem
endlichen Entstehen des h�chsten Intellectes gelegen ist; mindestens
wird er der Begr�ndung des "vollkommenen Staates" nicht f�rderlich
sein, insofern in ihm nur ermattete Individuen Platz haben. Christus
dagegen, den wir uns einmal als das w�rmste Herz denken wollen,
f�rderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der
geistig Armen und hielt die Erzeugung des gr�ssten Intellectes auf:
und diess war consequent. Sein Gegenbild, der vollkommene Weise
- diess darf man wohl vorhersagen - wird ebenso nothwendig der
Erzeugung eines Christus hinderlich sein. - Der Staat ist eine kluge
Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegen einander: �bertreibt man
seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschw�cht,
ja aufgel�st, - also der urspr�ngliche Zweck des Staates am
gr�ndlichsten vereitelt.


236.

Die Zonen der Cultur. - Man kann gleichnissweise sagen, dass
die Zeitalter der Cultur den G�rteln der verschiedenen Klimate
entsprechen, nur dass diese hinter einander und nicht, wie die
geographischen Zonen, neben einander liegen. Im Vergleich mit der
gem�ssigten Zone der Cultur, in welche �berzugehen unsere Aufgabe
ist, macht die vergangene im Ganzen und Grossen den Eindruck eines
tropischen Klima's. Gewaltsame Gegens�tze, schroffer Wechsel von Tag
und Nacht, Gluth und Farbenpracht, die Verehrung alles Pl�tzlichen,
Geheimnissvollen, Schrecklichen, die Schnelligkeit der
hereinbrechenden Unwetter, �berall das verschwenderische Ueberstr�men
der F�llh�rner der Natur: und dagegen, in unserer Cultur, ein heller,
doch nicht leuchtender Himmel, reine, ziemlich gleich verbleibende
Luft, Sch�rfe, ja K�lte gelegentlich: so heben sich beide Zonen gegen
einander ab. Wenn wir dort sehen, wie die w�thendsten Leidenschaften
durch metaphysische Vorstellungen mit unheimlicher Gewalt
niedergerungen und zerbrochen werden, so ist es uns zu Muthe, als
ob vor unsern Augen in den Tropen wilde Tiger unter den Windungen
ungeheurer Schlangen zerdr�ckt w�rden; unserem geistigen Klima fehlen
solche Vorkommnisse, unsere Phantasie ist gem�ssigt, selbst im Traume
kommt uns Das nicht bei, was fr�here V�lker im Wachen sahen. Aber
sollten wir �ber diese Ver�nderung nicht gl�cklich sein d�rfen, selbst
zugegeben, dass die K�nstler durch das Verschwinden der tropischen
Cultur wesentlich beeintr�chtigt sind und uns Nicht-K�nstler ein
Wenig zu n�chtern finden? Insofern haben K�nstler wohl das Recht,
den "Fortschritt" zu leugnen, denn in der That: ob die letzten drei
Jahrtausende in den K�nsten einen fortschreitenden Verlauf zeigen,
das l�sst sich mindestens bezweifeln; ebenso wird ein metaphysischer
Philosoph, wie Schopenhauer, keinen Anlass haben, den Fortschritt
zu erkennen, wenn er die letzten vier Jahrtausende in Bezug auf
metaphysische Philosophie und Religion �berblickt. - Uns gilt aber die
Existenz der gem�ssigten Zone der Cultur selbst als Fortschritt.


237.

Renaissance und Reformation. - Die itali�nische Renaissance bar -
in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur
verdankt - also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autorit�ten,
Sieg der Bildung �ber den D�nkel der Abkunft, - Begeisterung f�r die
Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen,
Entfesselung des Individuums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und
Abneigung gegen Schein und blosen Effect (welche Gluth in einer ganzen
F�lle k�nstlerischer Charaktere hervorloderte, die Vollkommenheit in
ihren Werken und Nichts als Vollkommenheit mit h�chster sittlicher
Reinheit von sich forderten); ja, die Renaissance hatte positive
Kr�fte, welche in unserer bisherigen modernen Cultur noch nicht
wieder so m�chtig geworden sind. Es war das goldene Zeitalter dieses
Jahrtausends, trotz aller Flecken und Laster. Dagegen hebt sich
nun die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest
zur�ckgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters
noch keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Aufl�sung, die
ausserordentliche Verflachung und Ver�usserlichung des religi�sen
Lebens, anstatt mit Frohlocken, wie sich geb�hrt, mit tiefem Unmuthe
empfanden. Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit
die Menschen wieder zur�ck, erzwangen die Gegenreformation, das heisst
ein katholisches Christenthum der Nothwehr, mit den Gewaltsamkeiten
eines Belagerungszustandes und verz�gerten um zwei bis drei
Jahrhunderte ebenso das v�llige Erwachen und Herrschen der
Wissenschaften, als sie das v�llige In-Eins-Verwachsen des antiken
und des modernen Geistes vielleicht f�r immer unm�glich machten. Die
grosse Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu Ende gebracht werden,
der Protest des inzwischen zur�ckgebliebenen deutschen Wesens (welches
im Mittelalter Vernunft genug gehabt hatte, um immer und immer wieder
zu seinem Heile �ber die Alpen zu steigen) verhinderte diess. Es lag
in dem Zufall einer ausserordentlichen Constellation der Politik, dass
damals Luther erhalten blieb und jener Protest Kraft gewann: denn der
Kaiser sch�tzte ihn, um seine Neuerung gegen den Papst als Werkzeug
des Druckes zu verwenden, und ebenfalls beg�nstigte ihn im Stillen der
Papst, um die protestantischen Reichsf�rsten als Gegengewicht gegen
den Kaiser zu benutzen. Ohne diess seltsame Zusammenspiel der
Absichten w�re Luther verbrannt worden wie Huss - und die Morgenr�the
der Aufkl�rung vielleicht etwas fr�her und mit sch�nerem Glanze, als
wir jetzt ahnen k�nnen, aufgegangen.


238.

Gerechtigkeit gegen den werdenden Gott. - Wenn sich die ganze
Geschichte der Cultur vor den Blicken aufthut als ein Gewirr von b�sen
und edlen, wahren und falschen Vorstellungen und es Einem beim Anblick
dieses Wellenschlags fast seekrank zu Muthe wird, so begreift man, was
f�r ein Trost in der Vorstellung eines werdenden Gottes liegt: dieser
enth�llt sich immer mehr in den Verwandelungen und Schicksalen der
Menschheit, es ist nicht Alles blinde Mechanik, sinn- und zweckloses
Durcheinanderspielen von Kr�ften. Die Vergottung des Werdens ist ein
metaphysischer Ausblick - gleichsam von einem Leuchtthurm am Meere
der Geschichte herab -, an welchem eine allzuviel historisirende
Gelehrtengeneration ihren Trost fand; dar�ber darf man nicht b�se
werden, so irrth�mlich jene Vorstellung auch sein mag. Nur wer, wie
Schopenhauer, die Entwickelung leugnet, f�hlt auch Nichts von dem
Elend dieses historischen Wellenschlags und darf desshalb, weil er von
jenem werdenden Gotte und dem Bed�rfniss seiner Annahme Nichts weiss,
Nichts f�hlt, billigerweise seinen Spott auslassen.


239.

Die Fr�chte nach der Jahreszeit. - Jede bessere Zukunft, welche man
der Menschheit anw�nscht, ist nothwendigerweise auch in manchem
Betracht eine schlechtere Zukunft: denn es ist Schw�rmerei, zu
glauben, dass eine h�here neue Stufe der Menschheit alle die Vorz�ge
fr�herer Stufen in sich vereinigen werde und zum Beispiel auch die
h�chste Gestaltung der Kunst erzeugen m�sse. Vielmehr hat jede
Jahreszeit ihre Vorz�ge und Reize f�r sich und schliesst die der
anderen aus. Das, was aus der Religion und in ihrer Nachbarschaft
gewachsen ist, kann nicht wieder wachsen, wenn diese zerst�rt ist;
h�chstens k�nnen verirrte, sp�t kommende Absenker zur T�uschung
dar�ber verleiten, ebenso wie die zeitweilig ausbrechende Erinnerung
an die alte Kunst: ein Zustand, der wohl das Gef�hl des Verlustes, der
Entbehrung verr�th, aber kein Beweis f�r die Kraft ist, aus der eine
neue Kunst geboren werden k�nnte.


240.

Zunehmende Severit�t der Welt. - je h�her die Cultur eines Menschen
steigt, um so mehr Gebiete entziehen sich dem Scherz, dem Spotte.
Voltaire war f�r die Erfindung der Ehe und der Kirche von Herzen dem
Himmel dankbar: als welcher damit so gut f�r unsere Aufheiterung
gesorgt habe. Aber er und seine Zeit, und vor ihm das sechszehnte
Jahrhundert, haben diese Themen zu Ende gespottet; es ist Alles, was
jetzt Einer auf diesem Gebiete noch witzelt, versp�tet und vor Allem
gar zu wohlfeil, als dass es die K�ufer begehrlich machen k�nnte.
Jetzt fragt man nach den Ursachen; es ist das Zeitalter des Ernstes.
Wem liegt jetzt noch daran, die Differenzen zwischen Wirklichkeit und
anspruchsvollem Schein, zwischen dem, was der Mensch ist und was er
vorstellen will, in scherzhaftem Lichte zu sehen; das Gef�hl dieser
Contraste wirkt alsbald ganz anders, wenn man nach den Gr�nden sucht.
Je gr�ndlicher Jemand das Leben versteht, desto weniger wird er
spottet, nur dass er zuletzt vielleicht noch �ber die "Gr�ndlichkeit
seines Verstehens" spottet.


241.

Genius der Cultur. - Wenn jemand einen Genius der Cultur imaginiren
wollte, wie w�rde dieser beschaffen sein? Er handhabt die L�ge,
die Gewalt, den r�cksichtslosesten Eigennutz so sicher als seine
Werkzeuge, dass er nur ein b�ses d�monisches Wesen zu nennen w�re;
aber seine Ziele, welche hie und da durchleuchten, sind gross und gut.
Es ist ein Centaur, halb Thier, halb Mensch und hat noch Engelsfl�gel
dazu am Haupte.


242.

Wunder-Erziehung. - Das Interesse in der Erziehung wird erst von dem
Augenblick an grosse St�rke bekommen, wo man den Glauben an einen Gott
und seine F�rsorge aufgiebt: ebenso wie die Heilkunst erst erbl�hen
konnte, als der Glaube an Wunder-Curen aufh�rte. Bis jetzt glaubt aber
alle Welt noch an die Wunder-Erziehung: aus der gr�ssten Unordnung,
Verworrenheit der Ziele, Ungunst der Verh�ltnisse sah man ja die
fruchtbarsten, m�chtigsten Menschen erwachsen: wie konnte diess doch
mit rechten Dingen zugehen? - jetzt wird man, bald auch in diesen
F�llen, n�her zusehen, sorgsamer pr�fen: Wunder wird man dabei niemals
entdecken. Unter gleichen Verh�ltnissen gehen fortw�hrend zahlreiche
Menschen zu Grunde, das einzelne gerettete Individuum ist daf�r
gew�hnlich st�rker geworden, weil es diese schlimmen Umst�nde verm�ge
unverw�stlicher eingeborener Kraft ertrug und diese Kraft noch ge�bt
und vermehrt hat: so erkl�rt sich das Wunder. Eine Erziehung, welche
an kein Wunder mehr glaubt, wird auf dreierlei zu achten haben:
erstens, wie viel Energie ist vererbt? zweitens, wodurch kann noch
neue Energie entz�ndet werden? drittens, wie kann das Individuum jenen
so �beraus vielartigen Anspr�chen der Cultur angepasst werden, ohne
dass diese es beunruhigen und seine Einartigkeit zersplittern, -
kurz, wie kann das Individuum in den Contrapunct der privaten und
�ffentlichen Cultur eingereiht werden, wie kann es zugleich die
Melodie f�hren und als Melodie begleiten?


243.

Die Zukunft des Arztes. - Es giebt jetzt keinen Beruf, der eine so
hohe Steigerung zuliesse, wie der des Arztes; namentlich nachdem die
geistlichen Aerzte, die sogenannten Seelsorger ihre Beschw�rungsk�nste
nicht mehr unter �ffentlichem Beifall treiben d�rfen und ein
Gebildeter ihnen aus dem Wege geht. Die h�chste geistige Ausbildung
eines Arztes ist jetzt nicht erreicht, wenn er die besten neuesten
Methoden kennt und auf sie einge�bt ist und jene fliegenden Schl�sse
von Wirkungen auf Ursachen zu machen versteht, derentwegen die
Diagnostiker ber�hmt sind: er muss ausserdem eine Beredtsamkeit haben,
die sich jedem Individuum anpasst und ihm das Herz aus dem Leibe
zieht, eine M�nnlichkeit, deren Anblick schon den Kleinmuth (den
Wurmfrass aller Kranken) verscheucht, eine Diplomaten-Geschmeidigkeit
im Vermitteln zwischen Solchen, welche Freude zu ihrer Genesung n�thig
haben und Solchen, die aus Gesundheitsgr�nden Freude machen m�ssen
(und k�nnen), die Feinheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die
Geheimnisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu verrathen, - kurz
ein guter Arzt bedarf jetzt der Kunstgriffe und Kunstvorrechte aller
andern Berufsclassen: so ausger�stet, ist er dann im Stande, der
ganzen Gesellschaft ein Wohlth�ter zu werden, durch Vermehrung guter
Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch Verh�tung von b�sen
Gedanken, Vors�tzen, Schurkereien (deren ekler Quell so h�ufig
der Unterleib ist), durch Herstellung einer geistig-leiblichen
Aristokratie (als Ehestifter und Eheverhinderer), durch wohlwollende
Abschneidung aller sogenannten Seelenqualen und Gewissensbisse: so
erst wird er aus einem "Medicinmann" ein Heiland und braucht doch
keine Wunder zu thun, hat auch nicht n�thig, sich kreuzigen zu lassen.


244.

In der Nachbarschaft des Wahnsinns. - Die Summe der Empfindungen,
Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so
gross geworden, dass eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkr�fte
die allgemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der
europ�ischen L�nder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer
gr�sseren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe ger�ckt ist. Nun
kommt man zwar der Gesundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in
der Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gef�hls,
jener niederdr�ckenden Cultur-Last vonn�then, welche, wenn sie selbst
mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen
Hoffnung einer neuen Renaissance Spielraum giebt. Man hat dem
Christenthum, den Philosophen, Dichtern, Musikern eine Ueberf�lle tief
erregter Empfindungen zu danken: damit diese uns nicht �berwuchern,
m�ssen wir den Geist der Wissenschaft beschw�ren, welcher im Ganzen
etwas k�lter und skeptischer macht und namentlich den Gluthstrom des
Glaubens an letzte endg�ltige Wahrheiten abk�hlt; er ist vornehmlich
durch das Christenthum so wild geworden.


245.

Glockenguss der Cultur. - Die Cultur ist entstanden wie eine Glocke,
innerhalb eines Mantels von gr�berem, gemeinerem Stoffe: Unwahrheit,
Gewaltsamkeit, unbegr�nzte Ausdehnung aller einzelnen Ich's, aller
einzelnen V�lker, waren dieser Mantel. Ist es an der Zeit, ihn jetzt
abzunehmen? Ist das Fl�ssige erstarrt, sind die guten, n�tzlichen
Triebe, die Gewohnheiten des edleren Gem�thes so sicher und allgemein
geworden, dass es keiner Anlehnung an Metaphysik und die Irrth�mer
der Religionen mehr bedarf, keiner H�rten und Gewaltsamkeiten als
m�chtigster Bindemittel zwischen Mensch und Mensch, Volk und Volk?
- Zur Beantwortung dieser Frage ist kein Wink eines Gottes uns
mehr h�lfreich: unsere eigene Einsicht muss da entscheiden. Die
Erdregierung des Menschen im Grossen hat der Mensch selber in die Hand
zu nehmen, seine "Allwissenheit" muss �ber dem weiteren Schicksal der
Cultur mit scharfem Auge wachen.


246.

Die Cyklopen der Cultur. - Wer jene zerfurchten Kessel sieht, in denen
Gletscher gelagert haben, h�lt es kaum f�r m�glich, dass eine Zeit
kommt, wo an der selben Stelle ein Wiesen- und Waldthal mit B�chen
darin sich hinzieht. So ist es auch in der Geschichte der Menschheit;
die wildesten Kr�fte brechen Bahn, zun�chst zerst�rend, aber trotzdem
war ihre Th�tigkeit n�thig, damit sp�ter eine mildere Gesittung hier
ihr Haus aufschlage. Die schrecklichen Energien - Das, was man das
B�se nennt - sind die cyklopischen Architekten und Wegebauer der
Humanit�t.


247.

Kreislauf des Menschenthums. - Vielleicht ist das ganze Menschenthum
nur eine Entwickelungsphase einer bestimmten Thierart von begr�nzter
Dauer. so dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder
zum Affen werden wird, w�hrend Niemand da ist, der an diesem
verwunderlichen Kom�dienausgang irgend ein Interesse nehme. So wie mit
dem Verfalle der r�mischen Cultur und seiner wichtigsten Ursache, der
Ausbreitung des Christenthums, eine allgemeine Verh�sslichung des
Menschen innerhalb des r�mischen Reiches �berhand nahm, so k�nnte auch
durch den einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdcultur eine viel
h�her gesteigerte Verh�sslichung und endlich Verthierung des Menschen,
bis in's Affenhafte, herbeigef�hrt werden. - Gerade weil wir diese
Perspective in's Auge fassen k�nnen, sind wir vielleicht im Stande,
einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen.


248.

Trostrede eines desperaten Fortschritts. - Unsere Zeit macht den
Eindruck eines Interim-Zustandes; die alten Weltbetrachtungen, die
alten Culturen sind noch theilweise vorhanden, die neuen noch nicht
sicher und gewohnheitsm�ssig und daher ohne Geschlossenheit und
Consequenz. Es sieht aus, als ob Alles chaotisch w�rde, das Alte
verloren gienge, das Neue nichts tauge und immer schw�chlicher werde.
Aber so geht es dem Soldaten, welcher marschiren lernt; er ist eine
Zeit lang unsicherer und unbeholfener als je, weil die Muskeln bald
nach dem alten System, bald nach dem neuen bewegt werden und noch
keines entschieden den Sieg behauptet. Wir schwanken, aber es ist
n�thig, dadurch nicht �ngstlich zu werden und das Neu-Errungene etwa
preiszugeben. Ueberdiess k�nnen wir in's Alte nicht zur�ck, wir haben
die Schiffe verbrannt; es bleibt nur �brig, tapfer zu sein, mag nun
dabei diess oder jenes herauskommen. - Schreiten wir nur zu, kommen
wir nur von der Stelle! Vielleicht sieht sich unser Gebahren doch
einmal wie Fortschritt an; wenn aber nicht, so mag Friedrich's des
Grossen Wort auch zu uns gesagt sein und zwar zum Troste: Ah, mon cher
Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette race maudite, � laquelle
nous appartenons.


249.

An der Vergangenheit der Cultur leiden. - Wer sich das Problem der
Cultur klar gemacht hat, leidet dann an einem �hnlichen Gef�hle wie
Der, welcher einen durch unrechtm�ssige Mittel erworbenen Reichthum
ererbt hat, oder wie der F�rst, der durch Gewaltthat seiner Vorfahren
regiert. Er denkt mit Trauer an seinen Ursprung und ist oft besch�mt,
oft reizbar. Die ganze Summe von Kraft, Lebenswillen, Freude, welche
er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft mit einer tiefen
M�digkeit: er kann seinen Ursprung nicht vergessen. Die Zukunft sieht
er wehm�thig an, seine Nachkommen, er weiss es voraus, werden an der
Vergangenheit leiden wie er.


250.

Manieren. - Die guten Manieren verschwinden in dem Maasse, in welchem
der Einfluss des Hofes und einer abgeschlossenen Aristokratie
nachl�sst: man kann diese Abnahme von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich
beobachten, wenn man ein Auge f�r die �ffentlichen Acte hat: als
welche ersichtlich immer p�belhafter werden. Niemand versteht mehr,
auf geistreiche Art zu huldigen und zu schmeicheln; daraus ergiebt
sich die l�cherliche Thatsache, dass man in F�llen, wo man gegenw�rtig
Huldigungen darbringen muss (zum Beispiel einem grossen Staatsmanne
oder K�nstler), die Sprache des tiefsten Gef�hls, der treuherzigen,
ehrenfesten Biederkeit borgt - aus Verlegenheit und Mangel an Geist
und Grazie. So scheint die �ffentliche festliche Begegnung der
Menschen immer ungeschickter, aber gef�hlvoller und biederer, ohne
diess zu sein. - Sollte es aber mit den Manieren immerfort bergab
gehen? Es scheint mir vielmehr, dass die Manieren eine tiefe Curve
machen und wir uns ihrem niedrigsten Stande n�hern. Wenn erst die
Gesellschaft ihrer Absichten und Principien sicherer geworden ist, so
dass diese formbildend wirken (w�hrend jetzt die angelernten Manieren
fr�herer formbildender Zust�nde immer schw�cher vererbt und angelernt
werden), so wird es Manieren des Umgangs, Geb�rden und Ausdr�cke des
Verkehrs geben, welche so nothwendig und schlicht nat�rlich erscheinen
m�ssen, als es diese Absichten und Principien sind. Die bessere
Vertheilung der Zeit und Arbeit, die zur Begleiterin jeder sch�nen
Mussezeit umgewandelte gymnastische Uebung, das vermehrte und
strenger gewordene Nachdenken, welches selbst dem K�rper Klugheit und
Geschmeidigkeit giebt, bringt diess Alles mit sich. - Hier k�nnte man
nun freilich mit einigem Spotte unserer Gelehrten gedenken, ob denn
sie, die doch Vorl�ufer jener neuen Cultur sein wollen, sich in der
That durch bessere Manieren auszeichnen? Es ist diess wohl nicht der
Fall, obgleich ihr Geist willig genug dazu sein mag: aber ihr Fleisch
ist schwach. Die Vergangenheit ist noch zu m�chtig in ihren Muskeln:
sie stehen noch in einer unfreien Stellung und sind zur H�lfte
weltliche Geistliche, zur H�lfte abh�ngige Erzieher vornehmer Leute
und St�nde, und �berdiess durch Pedanterie der Wissenschaft, durch
veraltete geistlose Methoden verkr�ppelt und unlebendig gemacht. Sie
sind also, jedenfalls ihrem K�rper nach und oft auch zu Dreiviertel
ihres Geistes, immer noch die H�flinge einer alten, ja greisenhaften
Cultur und als solche selber greisenhaft; der neue Geist, der
gelegentlich in diesen alten Geh�usen rumort, dient einstweilen nur
dazu, sie unsicherer und �ngstlicher zu machen. In ihnen gehen sowohl
die Gespenster der Vergangenheit, als die Gespenster der Zukunft um:
was Wunder, wenn sie dabei nicht die beste Miene machen, nicht die
gef�lligste Haltung haben?


251.

Zukunft der Wissenschaft. - Die Wissenschaft giebt Dem, welcher in
ihr arbeitet und sucht, viel Vergn�gen, Dem, welcher ihre Ergebnisse
lernt, sehr wenig. Da allm�hlich aber alle wichtigen Wahrheiten
der Wissenschaft allt�glich und gemein werden m�ssen, so h�rt
auch dieses wenige Vergn�gen auf: so wie wir beim Lernen des so
bewunderungsw�rdigen Einmaleins l�ngst aufgeh�rt haben, uns zu freuen.
Wenn nun die Wissenschaft immer weniger Freude durch sich macht und
immer mehr Freude, durch Verd�chtigung der tr�stlichen Metaphysik,
Religion und Kunst, nimmt: so verarmt jene gr�sste Quelle der Lust,
welcher die Menschheit fast ihr gesammtes Menschenthum verdankt.
Desshalb muss eine h�here Cultur dem Menschen ein Doppelgehirn,
gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann
um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: neben einander liegend, ohne
Verwirrung, trennbar, abschliessbar; es ist diess eine Forderung der
Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der
Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss
geheizt werden, mit H�lfe der erkennenden Wissenschaft muss den
b�sartigen und gef�hrlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt
werden. - Wird dieser Forderung der h�heren Cultur nicht gen�gt,
so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwickelung fast mit
Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren h�rt auf, je weniger
es Lust gew�hrt; die Illusion, der Irrthum, die Phantastik erk�mpfen
sich Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren
ehemals behaupteten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das
Zur�cksinken in Barbarei ist die n�chste Folge; von Neuem muss die
Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es,
gleich Penelope, des Nachts zerst�rt hat. Aber wer b�rgt uns daf�r,
dass sie immer wieder die Kraft dazu findet?


252.

Die Lust am Erkennen. - Wesshalb ist das Erkennen, das Element des
Forschers und Philosophen, mit Lust verkn�pft? Erstens und vor Allem,
weil man sich dabei seiner Kraft bewusst wird, also aus dem selben
Grunde, aus dem gymnastische Uebungen auch ohne Zuschauer lustvoll
sind. Zweitens, weil man, im Verlauf der Erkenntniss, �ber �ltere
Vorstellungen und deren Vertreter, hinauskommt, Sieger wird oder
wenigstens es zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch
so kleine neue Erkenntniss �ber Alle erhaben und uns als die Einzigen
f�hlen, welche hierin das Richtige wissen. Diese drei Gr�nde zur
Lust sind die wichtigsten, doch giebt es, je nach der Natur des
Erkennenden, noch viele Nebengr�nde. - Ein nicht unbetr�chtliches
Verzeichniss von solchen giebt, an einer Stelle, wo man es nicht
suchen w�rde, meine paraenetische Schrift �ber Schopenhauer: mit deren
Aufstellungen sich jeder erfahrene Diener der Erkenntniss zufrieden
geben kann, sei es auch, dass er den ironischen Anflug, der auf jenen
Seiten zu liegen scheint, wegw�nschen wird. Denn wenn es wahr ist,
dass zum Entstehen des Gelehrten "eine Menge sehr menschlicher Triebe
und Triebchen zusammengegossen werden muss", dass der Gelehrte
zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und "aus einem
verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht":
so gilt doch das Selbe ebenfalls von Entstehung und Wesen des
K�nstlers, Philosophen, moralischen Genie's - und wie die in jener
Schrift glorificirten grossen Namen lauten. Alles Menschliche verdient
in Hinsicht auf seine Entstehung die ironische Betrachtung: desshalb
ist die Ironie in der Welt so �berfl�ssig.


253.

Treue als Beweis der Stichhaltigkeit. - Es ist ein vollkommenes
Zeichen f�r die G�te einer Theorie, wenn ihr Urheber vierzig Jahre
lang kein Misstrauen gegen sie bekommt; aber ich behaupte, dass es
noch keinen Philosophen gegeben hat, welcher auf die Philosophie, die
seine Jugend erfand, nicht endlich mit Geringsch�tzung - mindestens
mit Argwohn - herabgesehen h�tte. - Vielleicht hat er aber nicht
�ffentlich von dieser Umstimmung gesprochen, aus Ehrsucht oder - wie
es bei edlen Naturen wahrscheinlicher ist - aus zarter Schonung seiner
Anh�nger.


254.

Zunahme des Interessanten. - Im Verlaufe der h�heren Bildung wird dem
Menschen Alles interessant, er weiss die belehrende Seite einer Sache
rasch zu finden und den Punct anzugeben, wo eine L�cke seines Denkens
mit ihr ausgef�llt oder ein Gedanke durch sie best�tigt werden
kann. Dabei verschwindet immer mehr die Langeweile, dabei auch die
�berm�ssige Erregbarkeit des Gem�thes. Er geht zuletzt wie ein
Naturforscher unter Pflanzen, so unter Menschen herum und nimmt sich
selber als ein Ph�nomen wahr, welches nur seinen erkennenden Trieb
stark anregt.


255.

Aberglauben im Gleichzeitigen. - Etwas Gieichzeitiges h�ngt zusammen,
meint man. Ein Verwandter stirbt in der Ferne, zu gleicher Zeit
tr�umen wir von ihm, - also! Aber zahllose Verwandte sterben und wir
tr�umen nicht von ihnen. Es ist wie bei den Schiffbr�chigen, welche
Gel�bde thun: man sieht sp�ter im Tempel die Votivtafeln Derer, welche
zu Grunde giengen, nicht. - Ein Mensch stirbt, eine Eule kr�chzt,
eine Uhr steht still, alles in Einer Nachtstunde: sollte da nicht ein
Zusammenhang sein? Eine solche Vertraulichkeit mit der Natur, wie
diese Ahnung sie annimmt, schmeichelt den Menschen. - Diese Gattung
des Aberglaubens findet sich in verfeinerter Form bei Historikern und
Culturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen Nebeneinander, an dem
doch das Leben der Einzelnen und der V�lker so reich ist, eine Art
Wasserscheu zu haben pflegen.


256.

Das K�nnen, nicht das Wissen, durch die Wissenschaft ge�bt. - Der
Werth davon, dass man zeitweilig eine strenge Wissenschaft streng
betrieben hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen: denn diese
werden, im Verh�ltniss zum Meere des Wissenswerthen, ein verschwindend
kleiner Tropfen sein. Aber es ergiebt einen Zuwachs an Energie, an
Schlussverm�gen, an Z�higkeit der Ausdauer; man hat gelernt, einen
Zweck zweckm�ssig zu erreichen. Insofern ist es sehr sch�tzbar,
in Hinsicht auf Alles, was man sp�ter treibt, einmal ein
wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein.


257.

Jugendreiz der Wissenschaft. - Das Forschen nach Wahrheit hat jetzt
noch den Reiz, dass sie sich �berall stark gegen den grau und
langweilig gewordenen Irrthum abhebt; dieser Reiz verliert sich immer
mehr; jetzt zwar leben wir noch im Jugendzeitalter der Wissenschaft
und pflegen der Wahrheit wie einem sch�nen M�dchen nachzugehen; wie
aber, wenn sie eines Tages zum �ltlichen, m�rrisch blickenden Weibe
geworden ist? Fast in allen Wissenschaften ist die Grundeinsicht
entweder erst in j�ngster Zeit gefunden oder wird noch gesucht; wie
anders reizt diess an, als wenn alles Wesentliche gefunden ist und nur
noch eine k�mmerliche Herbstnachlese dem Forscher �brig bleibt (welche
Empfindung man in einigen historischen Disciplinen kennen lernen
kann).


258.

Die Statue der Menschheit. - Der Genius der Cultur verf�hrt wie
Cellini, als dieser den Guss seiner Perseus-Statue machte: die
fl�ssige Masse drohte, nicht auszureichen, aber sie sollte es: so warf
er Sch�sseln und Teller und was ihm sonst in die H�nde kam, hinein.
Und ebenso wirft jener Genius Irrth�mer, Laster, Hoffnungen,
Wahnbilder und andere Dinge von schlechterem wie von edlerem Metalle
hinein, denn die Statue der Menschheit muss herauskommen und fertig
werden; was liegt daran, dass hie und da geringerer Stoff verwendet
wurde?


259.

Eine Cultur der M�nner. - Die griechische Cultur der classischen Zeit
ist eine Cultur der M�nner. Was die Frauen anlangt, so sagt Perikles
in der Grabrede Alles mit den Worten: sie seien am besten, wenn
unter M�nnern so wenig als m�glich von ihnen gesprochen werde. -
Die erotische Beziehung der M�nner zu den J�nglingen war in einem,
unserem Verst�ndniss unzug�nglichen Grade die nothwendige, einzige
Voraussetzung aller m�nnlichen Erziehung (ungef�hr wie lange Zeit alle
h�here Erziehung der Frauen bei uns erst durch die Liebschaft und Ehe
herbeigef�hrt wurde), aller Idealismus der Kraft der griechischen
Natur warf sich auf jenes Verh�ltniss, und wahrscheinlich sind junge
Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so durchaus in
Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden, wie im sechsten und
f�nften Jahrhundert, - also gem�ss dem sch�nen Spruche H�lderlin's
"denn liebend giebt der Sterbliche vom Besten". Je h�her dieses
Verh�ltniss genommen wurde, um so tiefer sank der Verkehr mit der
Frau: der Gesichtspunct der Kindererzeugung und der Wollust - Nichts
weiter kam hier in Betracht; es gab keinen geistigen Verkehr, nicht
einmal eine eigentliche Liebschaft. Erw�gt man ferner, dass sie selbst
vom Wettkampfe und Schauspiele jeder Art ausgeschlossen waren, so
bleiben nur die religi�sen Culte als einzige h�here Unterhaltung der
Weiber. - Wenn man nun allerdings in der Trag�die Elektra und Antigone
vorf�hrte, so ertrug man diess eben in der Kunst, obschon man es im
Leben nicht mochte: so wie wir jetzt alles Pathetische im Leben nicht
vertragen, aber in der Kunst gern sehen. - Die Weiber hatten weiter
keine Aufgabe, als Sch�ne, machtvolle Leiber hervorzubringen, in denen
der Charakter des Vaters m�glichst ungebrochen weiter lebte, und damit
der �berhand nehmenden Nerven�berreizung einer so hochentwickelten
Cultur entgegenzuwirken. Diess hielt die griechische Cultur
verh�ltnissm�ssig so lange jung; denn in den griechischen M�ttern
kehrte immer wieder der griechische Genius zur Natur zur�ck.


260.

Das Vorurtheil Zu Gunsten der Gr�sse. - Die Menschen �bersch�tzen
ersichtlich alles Grosse und Hervorstechende. Diess kommt aus der
bewussten oder unbewussten Einsicht her, dass sie es sehr n�tzlich
finden, wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich
gleichsam Ein monstr�ses Organ macht. Sicherlich ist dem Menschen
selber eine gleichm�ssige Ausbildung seiner Kr�fte n�tzlicher und
gl�ckbringender; denn jedes Talent ist ein Vampyr, welcher den �brigen
Kr�ften Blut und Kraft aussaugt, und eine �bertriebene Production kann
den begabtesten Menschen fast zur Tollheit bringen. Auch innerhalb der
K�nste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit;
aber es ist auch eine viel geringere Cultur n�thig, um von ihnen sich
fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem,
was Macht haben will.


261.

Die Tyrannen des Geistes. - Nur wohin der Strahl des mythus f�llt, da
leuchtet das Leben der Griechen; sonst ist es d�ster. Nun berauben
sich die griechischen Philosophen eben dieses Mythus': ist es
nicht, als ob sie aus dem Sonnenschein sich in den Schatten, in die
D�sterkeit setzen wollten? Aber keine Pflanze geht dem Lichte aus
dem Wege; im Grunde suchten jene Philosophen nur eine hellere Sonne,
der Mythus war ihnen nicht rein, nicht leuchtend genug. Sie fanden
diess Licht in ihrer Erkenntniss, in dem, was jeder von ihnen seine
"Wahrheit" nannte. Damals aber hatte die Erkenntniss noch einen
gr�sseren Glanz; sie war noch jung und wusste noch wenig von allen
Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Pfade; sie konnte damals noch
hoffen, mit einem einzigen Sprung an den Mittelpunct alles Seins
zu kommen und von dort aus das R�thsel der Welt zu l�sen. Diese
Philosophen hatten - einen handfesten Glauben an sich und ihre
"Wahrheit" und warfen mit ihr alle ihre Nachbarn und Vorg�nger nieder;
jeder von ihnen war ein streitbarer gewaltth�tiger Tyrann. Vielleicht
war das Gl�ck im Glauben an den Besitz der Wahrheit nie gr�sser in
der Welt, aber auch nie die H�rte, der Uebermuth, das Tyrannische und
B�se eines solchen Glaubens. Sie waren Tyrannen, also Das, was jeder
Grieche sein wollte und was jeder war, wenn er es sein konnte.
Vielleicht macht nur Solon eine Ausnahme; in seinen Gedichten sagt er
es, wie er die pers�nliche Tyrannis verschm�ht habe. Aber er that es
aus Liebe zu seinem Werke, zu seiner Gesetzgebung; und Gesetzgeber
sein ist eine sublimirtere Form des Tyrannenthums. Auch Parmenides gab
Gesetze, wohl auch Pythagoras und Empedokles; Anaximander gr�ndete
eine Stadt. Plato war der fleischgewordene Wunsch, der h�chste
philosophische Gesetzgeber und Staatengr�nder zu werden; er scheint
schrecklich an der Nichterf�llung seines Wesens gelitten zu haben, und
seine Seele wurde gegen sein Ende hin voll der schw�rzesten Galle. Je
mehr das griechische Philosophenthum an Macht verlor, um so mehr litt
es innerlich durch diese Galligkeit und Schm�hsucht; als erst die
verschiedenen Secten ihre Wahrheiten auf den Strassen verfochten, da
waren die Seelen aller dieser Freier der Wahrheit durch Eifer- und
Geifersucht v�llig verschlammt, das tyrannische Element w�thete jetzt
als Gift in ihrem K�rper. Diese vielen kleinen Tyrannen h�tten sich
roh fressen m�gen; es war kein Funke mehr von Liebe und allzuwenig
Freude an ihrer eigenen Erkenntniss in ihnen �brig geblieben. -
Ueberhaupt gilt der Satz, dass Tyrannen meistens ermordet werden
und dass ihre Nachkommenschaft kurz lebt, auch von den Tyrannen des
Geistes. Ihre Geschichte ist kurz, gewaltsam, ihre Nachwirkung bricht
pl�tzlich ab. Fast von allen grossen Hellenen kann man sagen, dass
sie zu sp�t gekommen scheinen, so von Aeschylus, von Pindar, von
Demosthenes, von Thukydides; ein Geschlecht nach ihnen - und dann ist
es immer v�llig vorbei. Das ist das St�rmische und Unheimliche in der
griechischen Geschichte. Jetzt zwar bewundert man das Evangelium der
Schildkr�te. Geschichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob zu
allen Zeiten nach dem Satze Geschichte gemacht worden w�re: "m�glichst
wenig in m�glichst langer Zeit!" Ach, die griechische Geschichte l�uft
so rasch! Es ist nie wieder so verschwenderisch, so maasslos gelebt
worden. Ich kann mich nicht �berzeugen, dass die Geschichte der
Griechen jenen nat�rlichen Verlauf genommen habe, der so an ihr
ger�hmt wird. Sie waren viel zu mannichfach begabt dazu, um in jener
schrittweisen Manier allm�hlich zu sein, wie es die Schildkr�te
im Wettlauf mit Achilles ist: und das nennt man ja nat�rliche
Entwickelung. Bei den Griechen geht es schnell vorw�rts, aber eben so
schnell abw�rts; die Bewegung der ganzen Maschine ist so gesteigert,
dass ein einziger Stein, in ihre R�der geworfen, sie zerspringen
macht. Ein solcher Stein war zum Beispiel Sokrates; in einer Nacht
war die bis dahin so wunderbar regelm�ssige, aber freilich allzu
schleunige Entwickelung der philosophischen Wissenschaft zerst�rt.
Es ist keine m�ssige Frage, ob nicht Plato, von der sokratischen
Verzauberung frei geblieben, einen noch h�heren Typus des
philosophischen Menschen gefunden h�tte, der uns auf immer verloren
ist. Man sieht in die Zeiten vor ihm wie in einer Bildner-Werkst�tte
solcher Typen hinein. Das sechste und f�nfte Jahrhundert scheint aber
doch noch mehr und H�heres zu verheissen, als es selber hervorgebracht
hat; aber es blieb bei dem Verheissen und Ank�ndigen. Und doch giebt
es kaum einen schwereren Verlust, als den Verlust eines Typus', einer
neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen h�chsten M�glichkeit des
philosophischen Lebens. Selbst von den �lteren Typen sind die meisten
schlecht �berliefert; es scheinen mir alle Philosophen von Thales bis
Demokrit ausserordentlich schwer erkennbar; wem es aber gelingt, diese
Gestalten nachzuschaffen, der wandelt unter Gebilden von m�chtigstem
und reinstem Typus. Diese F�higkeit ist freilich selten, sie fehlte
selbst den sp�teren Griechen, welche sich mit der Kunde der �lteren
Philosophie befassten; Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im
Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht. Und so scheint es,
als ob diese herrlichen Philosophen umsonst gelebt h�tten oder als ob
sie gar nur die streit- und redelustigen Schaaren der sokratischen
Schulen h�tten vorbereiten sollen. Es ist hier, wie gesagt, eine
L�cke, ein Bruch in der Entwickelung; irgend ein grosses Ungl�ck muss
geschehen sein und die einzige Statue, an welcher man Sinn und Zweck
jener grossen bildnerischen Vor�bung erkannt haben w�rde, zerbrach
oder misslang: was eigentlich geschehen ist, ist f�r immer ein
Geheimniss der Werkst�tte geblieben. - Das, was bei den Griechen sich
ereignete - dass jeder grosse Denker im Glauben daran, Besitzer der
absoluten Wahrheit zu sein, zum Tyrannen wurde, so dass auch die
Geschichte des Geistes bei den Griechen jenen gewaltsamen, �bereilten
und gef�hrlichen Charakter bekommen hat, den ihre politische
Geschichte zeigt - diese Art von Ereignissen war damit nicht
ersch�pft: es hat sich vieles Gleiche bis in die neueste Zeit hinein
begeben, obwohl allm�hlich seltener und jetzt schwerlich mehr mit dem
reinen naiven Gewissen der griechischen Philosophen. Denn im Ganzen
redet jetzt die Gegenlehre und die Skepsis zu m�chtig, zu laut. Die
Periode der Tyrannen des Geistes ist vorbei. In den Sph�ren der
h�heren Cultur wird es freilich immer eine Herrschaft geben m�ssen, -
aber diese Herrschaft liegt von jetzt ab in den H�nden der Oligarchen
des Geistes. Sie bilden, trotz aller r�umlichen und politischen
Trennung, eine zusammengeh�rige Gesellschaft, deren Mitglieder sich
erkennen und anerkennen, was auch die �ffentliche Meinung und die
Urtheile der auf die Masse wirkenden Tages- und Zeitschriftsteller
f�r Sch�tzungen der Gunst oder Abgunst in Umlauf bringen m�gen. Die
geistige Ueberlegenheit, welche fr�her trennte und verfeindete, pflegt
jetzt zu binden: wie k�nnten die Einzelnen sich selbst behaupten
und auf eigener Bahn, allen Str�mungen entgegen, durch das Leben
schwimmen, wenn sie nicht ihres Gleichen hier und dort unter gleichen
Bedingungen leben s�hen und deren Hand ergriffen, im Kampfe eben so
sehr gegen den ochlokratischen Charakter des Halbgeistes und der
Halbbildung, als gegen die gelegentlichen Versuche, mit H�lfe der
Massenwirkung eine Tyrannei aufzurichten? Die Oligarchen sind einander
n�thig, sie haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre
Abzeichen, - aber trotzdem ist ein jeder von ihnen frei, er k�mpft und
siegt an seiner Stelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen.


262.

Homer. - Die gr�sste Thatsache in der griechischen Bildung bleibt doch
die, dass Homer so fr�hzeitig panhellenisch wurde. Alle geistige und
menschliche Freiheit, welche die Griechen erreichten, geht auf diese
Thatsache zur�ck. Aber zugleich ist es das eigentliche Verh�ngniss
der griechischen Bildung gewesen, denn Homer verflachte, indem er
centralisirte, und l�ste die ernsteren Instincte der Unabh�ngigkeit
auf. Von Zeit zu Zeit erhob sich aus dem tiefsten Grunde des
Hellenischen der Widerspruch gegen Homer; aber er blieb immer
siegreich. Alle grossen geistigen M�chte �ben neben ihrer befreienden
Wirkung auch eine unterdr�ckende aus; aber freilich ist es ein
Unterschied, ob Homer oder die Bibel oder die Wissenschaft die
Menschen tyrannisiren.


263.

Begabung. - In einer so hoch entwickelten Menschheit, wie die jetzige
ist, bekommt von Natur Jeder den Zugang zu vielen Talenten mit. Jeder
hat angeborenes Talent, aber nur Wenigen ist der Grad von Z�higkeit,
Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein
Talent wird, also wird, was er ist, das heisst: es in Werken und
Handlungen entladet.


264.

Der Geistreiche entweder �bersch�tzt oder untersch�tzt. -
Unwissenschaftliche, aber begabte Menschen sch�tzen jedes Anzeichen
von Geist, sei es nun, dass er auf wahrer oder falscher F�hrte ist;
sie wollen vor Allem, dass der Mensch, der mit ihnen verkehrt, sie gut
mit seinem Geist unterhalte, sie ansporne, entflamme, zu Ernst und
Scherz fortreisse und jedenfalls vor der Langenweile als kr�ftigstes
Amulet sch�tze. Die wissenschaftlichen Naturen wissen dagegen, dass
die Begabung, allerhand Einf�lle zu haben, auf das strengste durch den
Geist der Wissenschaft gez�gelt werden m�sse; nicht Das, was gl�nzt,
scheint, erregt, sondern die oft unscheinbare Wahrheit ist die Frucht,
welche er vom Baum der Erkenntniss zu sch�tteln w�nscht. Er darf,
wie Aristoteles, zwischen "Langweiligen" und "Geistreichen" keinen
Unterschied machen, sein D�mon f�hrt ihn durch die W�ste ebenso wie
durch tropische Vegetation, damit er �berall nur an dem Wirklichen,
Haltbaren, Aechten seine Freude habe. - Daraus ergiebt sich, bei
unbedeutenden Gelehrten, eine Missachtung und Verd�chtigung des
Geistreichen �berhaupt, und wiederum haben geistreiche Leute h�ufig
eine Abneigung gegen die Wissenschaft: wie zum Beispiel fast alle
K�nstler.


265.

Die Vernunft in der Schule. - Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe,
als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen
zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht f�r
diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der Religion. Sie
kann ja darauf rechnen, dass menschliche Unklarheit, Gew�hnung und
Bed�rfniss sp�ter doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens
abspannen. Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie Das erzwingen,
was das Wesentliche und Auszeichnende am Menschen ist- "Vernunft
und Wissenschaft des Menschen allerh�chste Kraft" - wie wenigstens
Goethe urtheilt. - Der grosse Naturforscher von Baer findet die
Ueberlegenheit aller Europ�er im Vergleich zu Asiaten in der
eingeschulten F�higkeit, dass sie Gr�nde f�r Das, was sie glauben,
angeben k�nnen, wozu Diese aber v�llig unf�hig sind. Europa ist in die
Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss
immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden
und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueberzeugungen aus eigener
Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus Phantasien stammen. - Die
Vernunft in der Schule hat Europa zu Europa gemacht: im Mittelalter
war es auf dem Wege, wieder zu einem St�ck und Anh�ngsel Asiens zu
werden, - also den wissenschaftlichen Sinn, welchen es den Griechen
verdankte, einzub�ssen.


266.

Untersch�tzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. - Man sucht den
Werth des Gymnasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort
gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in
denen, welche man lehrt, welche der Sch�ler sich aber nur mit
Widerwillen aneignet, um sie, so schnell er darf, von sich
abzusch�tteln. Das Lesen der Classiker - das giebt jeder Gebildete
zu - ist so, wie es �berall getrieben wird, eine monstr�se Procedur:
vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von
Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen
Mehlthau �ber einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Werth, der
gew�hnlich verkannt wird, - dass diese Lehrer die abstracte Sprache
der h�hern Cultur reden, schwerf�llig und schwer zum Verstehen,
wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; dass Begriffe,
Kunstausdr�cke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortw�hrend
vorkommen, welche die jungen Leute im Gespr�che ihrer Angeh�rigen und
auf der Gasse fast nie h�ren. Wenn die Sch�ler nur h�ren, so wird ihr
Intellect zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillk�rlich
pr�formirt. Es ist nicht m�glich, aus dieser Zucht v�llig unber�hrt
von der Abstraction als reines Naturkind herauszukommen.


267.

Viele Sprachen lernen. - Viele Sprachen lernen f�llt das Ged�chtniss
mit Worten, statt mit Thatsachen und Gedanken, aus, w�hrend diess ein
Beh�ltniss ist, welches bei jedem Menschen nur eine bestimmt begr�nzte
Masse von Inhalt aufnehmen kann. Sodann schadet das Lernen vieler
Sprachen, insofern es den Glauben, Fertigkeiten zu haben, erweckt und
thats�chlich auch ein gewisses verf�hrerisches Ansehen im Verkehre
verleiht; es schadet sodann auch indirect dadurch, dass es dem
Erwerben gr�ndlicher Kenntnisse und der Absicht, auf redliche Weise
die Achtung der Menschen zu verdienen, entgegenwirkt. Endlich ist es
die Axt, welche dem feineren Sprachgef�hl innerhalb der Muttersprache
an die Wurzel gelegt wird: diess wird dadurch unheilbar besch�digt und
zu Grunde gerichtet. Die beiden V�lker, welche die gr�ssten Stilisten
erzeugten, Griechen und Franzosen, lernten keine fremden Sprachen. -
Weil aber der Verkehr der Menschen immer kosmopolitischer werden muss,
und zum Beispiel ein rechter Kaufmann in London jetzt schon sich in
acht Sprachen schriftlich und m�ndlich verst�ndlich zu machen hat, so
ist freilich das Viele-Sprachen-lernen ein nothwendiges Uebel; welches
aber zuletzt zum Aeussersten kommend, die Menschheit zwingen wird,
ein Heilmittel zu finden: und in irgend einer fernen Zukunft wird es
eine neue Sprache, zuerst als Handelssprache, dann als Sprache des
geistigen Verkehres �berhaupt, f�r Alle geben, so gewiss, als es
einmal Luft-Schifffahrt giebt. Wozu h�tte auch die Sprachwissenschaft
ein Jahrhundert lang die Gesetze der Sprache studirt und das
Nothwendige, Werthvolle, Gelungene an jeder einzelnen Sprache
abgesch�tzt!


268.

Zur Kriegsgeschichte des Individuums. - Wir finden in ein einzelnes
Menschenleben, welches durch mehrere Culturen geht, den Kampf
zusammengedr�ngt, welcher sich sonst zwischen zwei Generationen,
zwischen Vater und Sohn, abspielt: die N�he der Verwandtschaft
versch�rft diesen Kampf, weil jede Partei schonungslos das ihr so gut
bekannte Innere der anderen Partei mit hineinzieht; und so wird dieser
Kampf im einzelnen Individuum am erbittertsten sein; hier schreitet
jede neue Phase �ber die fr�heren mit grausamer Ungerechtigkeit und
Verkennung von deren Mitteln und Zielen hinweg.


269.

Um eine Viertelstunde fr�her. - Man findet gelegentlich Einen, der mit
seinen Ansichten �ber seiner Zeit steht, aber doch nur um so viel,
dass er die Vulg�ransichten des n�chsten Jahrzehnts vorwegnimmt. Er
hat die �ffentliche Meinung eher, als sie �ffentlich ist, das heisst:
er ist einer Ansicht, die es verdient trivial zu werden, eine
Viertelstunde eher in die Arme gefallen, als Andere. Sein Ruhm pflegt
aber viel lauter zu sein, als der Ruhm der wirklichen Grossen und
Ueberlegenen.


270.

Die Kunst, zu lesen. - jede starke Richtung ist einseitig; sie n�hert
sich der Richtung der geraden Linie und ist wie diese ausschliessend,
das heisst sie ber�hrt nicht viele andere Richtungen, wie diess
schwache Parteien und Naturen in ihrem wellenhaften Hin- und Hergehen
thun: das muss man also auch den Philologen nachsehen, dass sie
einseitig sind. Herstellung und Reinhaltung der Texte, nebst der
Erkl�rung derselben, in einer Zunft jahrhundertelang fortgetrieben,
hat endlich jetzt die richtigen Methoden finden lassen; das ganze
Mittelalter war tief unf�hig zu einer streng philologischen Erkl�rung,
das heisst zum einfachen Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt,
- es war Etwas, diese Methoden zu finden, man untersch�tze es nicht!
Alle Wissenschaft hat dadurch erst Continuit�t und Stetigkeit
gewonnen, dass die Kunst des richtigen Lesens, das heisst die
Philologie, auf ihre H�he kam.


271.

Die Kunst, zu schliessen. - Der gr�sste Fortschritt, den die Menschen
gemacht haben, liegt darin, dass sie richtig schliessen lernen. Das
ist gar nicht so etwas Nat�rliches, wie Schopenhauer annimmt, wenn er
sagt: "zu schliessen sind Alle, zu urtheilen Wenige f�hig", sondern
ist sp�t erlernt und jetzt noch nicht zur Herrschaft gelangt.
Das faische Schliessen ist in �lteren Zeiten die Regel: und
die Mythologien aller V�lker, ihre Magie und ihr Aberglaube,
ihr religi�ser Cultus, ihr Recht sind die unersch�pflichen
Beweis-Fundst�tten f�r diesen Satz.


272.

Jahresringe der individuellen Cultur. - Die St�rke und Schw�che
der geistigen Productivit�t h�ngt lange nicht so an der angeerbten
Begabung, als an dem mitgegebenen Maasse von Spannkraft. Die meisten
jungen Gebildeten von dreissig Jahren gehen um diese Fr�hsonnenwende
ihres Lebens zur�ck und sind f�r neue geistige Wendungen von da an
unlustig. Desshalb ist dann gleich wieder zum Heile einer fort und
fort wachsenden Cultur eine neue Generation n�thig, die es nun
aber ebenfalls nicht weit bringt: denn um die Cultur des Vaters
nachzuholen, muss der Sohn die angeerbte Energie, welche der Vater
auf jener Lebensstufe, als er den Sohn zeugte, selber besass, fast
aufbrauchen; mit dem kleinen Ueberschuss kommt er weiter (denn weil
hier der Weg zum zweiten Mal gemacht wird, geht es ein Wenig schneller
vorw�rts; der Sohn verbraucht, um das Selbe zu lernen, was der Vater
wusste, nicht ganz so viel Kraft). Sehr spannkr�ftige M�nner, wie zum
Beispiel Goethe, durchmessen so viel als kaum vier Generationen hinter
einander verm�gen; desshalb kommen sie aber zu schnell voraus, so
dass die anderen Menschen sie erst in dem n�chsten Jahrhundert
einholen, vielleicht nicht einmal v�llig, weil durch die h�ufigen
Unterbrechungen die Geschlossenheit der Cultur, die Consequenz der
Entwickelung geschw�cht worden ist. - Die gew�hnlichen Phasen der
geistigen Cultur, welche im Verlauf der Geschichte errungen ist,
holen die Menschen immer schneller nach. Sie beginnen gegenw�rtig in
die Cultur als religi�s bewegte Kinder einzutreten und bringen es
vielleicht im zehnten Lebensjahre zur h�chsten Lebhaftigkeit dieser
Empfindungen, gehen dann in abgeschw�chtere Formen (Pantheismus)
�ber, w�hrend sie sich der Wissenschaft n�hern; kommen �ber Gott,
Unsterblichkeit und dergleichen ganz hinaus, aber verfallen den
Zaubern einer metaphysischen Philosophie. Auch diese wird ihnen
endlich unglaubw�rdig; die Kunst scheint dagegen immer mehr zu
gew�hren, so dass eine Zeit lang die Metaphysik kaum noch in einer
Umwandelung zur Kunst oder als k�nstlerisch verkl�rende Stimmung
�brig bleibt und fortlebt. Aber der wissenschaftliche Sinn wird immer
gebieterischer und f�hrt den Mann hin zur Naturwissenschaft und
Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens,
w�hrend der Kunst eine immer mildere und anspruchslosere Bedeutung
zuf�llt. Diess Alles pflegt sich jetzt innerhalb der ersten dreissig
Jahre eines Mannes zu ereignen. Es ist die Recapitulation eines
Pensums, an welchem die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre
sich abgearbeitet hat.


273.

Zur�ckgegangen, nicht zur�ckgeblieben. - Wer gegenw�rtig seine
Entwickelung noch aus religi�sen Empfindungen heraus anhebt und
vielleicht l�ngere Zeit nachher in Metaphysik und Kunst weiterlebt,
der hat sich allerdings ein gutes St�ck zur�ckbegeben und beginnt
sein Wettrennen mit anderen modernen Menschen unter ung�nstigen
Voraussetzungen: er verliert scheinbar Raum und Zeit. Aber dadurch,
dass er sich in jenen Bereichen aufhielt, wo Gluth und Energie
entfesselt werden und fortw�hrend Macht als vulcanischer Strom aus
unversiegbarer Quelle str�mt, kommt er dann, sobald er sich nur
zur rechten Zeit von jenen Gebieten getrennt hat, um so schneller
vorw�rts, sein Fuss ist befl�gelt, seine Brust hat ruhiger, l�nger,
ausdauernder athmen gelernt. - Er hat sich nur zur�ckgezogen, um
zu seinem Sprunge gen�genden Raum zu haben: so kann selbst etwas
F�rchterliches, Drohendes in diesem R�ckgange liegen.


274.

Ein Ausschnitt unseres Selbst als k�nstlerisches Object. - Es ist ein
Zeichen �berlegener Cultur, gewisse Phasen der Entwickelung, welche
die geringeren Menschen fast gedankenlos durchleben und von der Tafel
ihrer Seele dann wegwischen, mit Bewusstsein festzuhalten und ein
getreues Bild davon zu entwerfen: denn diess ist die h�here Gattung
der Malerkunst, welche nur Wenige verstehen. Dazu wird es n�thig, jene
Phasen k�nstlich zu isoliren. Die historischen Studien bilden die
Bef�higung zu diesem Malerthum aus, denn sie fordern uns fortw�hrend
auf, bei Anlass eines St�ckes Geschichte, eines Volkes - oder
Menschenlebens uns einen ganz bestimmten Horizont von Gedanken,
eine bestimmte St�rke von Empfindungen, das Vorwalten dieser, das
Zur�cktreten jener vorzustellen. Darin, dass man solche Gedanken- und
Gef�hlssysteme aus gegebenen Anl�ssen schnell reconstruiren kann, wie
den Eindruck eines Tempels aus einigen zuf�llig stehen gebliebenen
S�ulen und Mauerresten, besteht der historische Sinn. Das n�chste
Ergebniss desselben ist, dass wir unsere Mitmenschen als ganz
bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener Culturen
verstehen, das heisst als nothwendig, aber als ver�nderlich.
Und wiederum, dass wir in unserer eigenen Entwickelung St�cke
heraustrennen und selbst�ndig hinstellen k�nnen.


275.

Cyniker und Epikureer. - Der Cyniker erkennt den Zusammenhang zwischen
den vermehrten und st�rkeren Schmerzen des h�her cultivirten Menschen
und der F�lle von Bed�rfnissen; er begreift also, dass die Menge von
Meinungen �ber das Sch�ne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebenso
sehr reiche Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen
musste. Gem�ss dieser Einsicht bildet er sich zur�ck, indem er viele
dieser Meinungen aufgiebt und sich gewissen Anforderungen der Cultur
entzieht; damit gewinnt er ein Gef�hl der Freiheit und der Kr�ftigung;
und allm�hlich, wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise ertr�glich
macht, hat er in der That seltnere und schw�chere Unlustempfindungen,
als die cultivirten Menschen, und n�hert sich dem Hausthier an;
�berdiess empfindet er Alles im Reiz des Contrastes und - schimpfen
kann er ebenfalls nach Herzenslust; so dass er dadurch wieder hoch
�ber die Empfindungswelt des Thieres hinauskommt. - Der Epikureer hat
den selben Gesichtspunct wie der Cyniker; zwischen ihm und jenem ist
gew�hnlich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der
Epikureer seine h�here Cultur, um sich von den herrschenden Meinungen
unabh�ngig zu machen; er erhebt sich �ber dieselben, w�hrend
der Cyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in
windstillen, wohlgesch�tzten, halbdunkelen G�ngen, w�hrend �ber ihm,
im Winde, die Wipfel der B�ume brausen und ihm verrathen, wie heftig
bewegt da draussen die Welt ist. Der Cyniker dagegen geht gleichsam
nackt draussen im Windeswehen umher und h�rtet sich bis zur
Gef�hllosigkeit ab.


276.

Mikrokosmus und Makrokosmus der Cultur. - Die besten Entdeckungen
�ber die Cultur macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei
heterogene M�chte waltend findet. Gesetzt, es lebe Einer eben so sehr
in der Liebe zur bildenden Kunst oder zur Musik als er vom Geiste der
Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unm�glich an,
diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung
der anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur �brig, ein so grosses
Geb�ude der Cultur aus sich zu gestalten, dass jene beiden M�chte,
wenn auch an verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen k�nnen,
w�hrend zwischen ihnen vers�hnende Mittelm�chte, mit �berwiegender
Kraft, um n�thigen falls den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre
Herberge haben. Ein solches Geb�ude der Cultur im einzelnen Individuum
wird aber die gr�sste Aehnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen
Zeitperioden haben und eine fortgesetzte analogische Belehrung �ber
denselben abgeben. Denn �berall, wo sich die grosse Architektur der
Cultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden
M�chte zur Eintracht verm�ge einer �berm�chtigen Ansammelung der
weniger unvertr�glichen �brigen M�chte zu zwingen, ohne sie desshalb
zu unterdr�cken und in Fesseln zu schlagen.


277.

Gl�ck und Cultur. - Der Anblick der Umgebungen unserer Kindheit
ersch�ttert uns: das Gartenhaus, die Kirche mit den Gr�bern, der Teich
und der Wald, - diess sehen wir immer als Leidende wieder. Mitleid
mit uns selbst ergreift uns, denn was haben wir seitdem Alles
durchgelitten! Und hier steht jegliches noch so still, so ewig da:
nur wir sind so anders, so bewegt; selbst etliche Menschen finden wir
wieder, an welchen die Zeit nicht mehr ihren Zahn gewetzt hat, als
an einem Eichenbaume: Bauern, Fischer, Waldbewohner - sie sind die
selben. - Ersch�tterung, Selbstmitleid im Angesichte der niederen
Cultur ist das Zeichen der h�heren Cultur; woraus sich ergiebt, dass
durch diese das Gl�ck jedenfalls nicht gemehrt worden ist. Wer eben
Gl�ck und Behagen vom Leben ernten will, der mag nur immer der h�heren
Cultur aus dem Wege gehen.


278.

Gleichniss vom Tanze. - Jetzt ist es als das entscheidende Zeichen
grosser Cultur zu betrachten, wenn jemand jene Kraft und Biegsamkeit
besitzt, um ebenso rein und streng im Erkennen zu sein als, in
andern Momenten, auch bef�higt, der Poesie, Religion und Metaphysik
gleichsam hundert Schritte vorzugeben und ihre Gewalt und Sch�nheit
nachzuempfinden. Eine solche Stellung zwischen zwei so verschiedenen
Anspr�chen ist sehr schwierig, denn die Wissenschaft dr�ngt zur
absoluten Herrschaft ihrer Methode, und wird diesem Dr�ngen nicht
nachgegeben, so entsteht die andere Gefahr eines schw�chlichen Auf-
und Niederschwankens zwischen verschiedenen Antrieben. Indessen: um
wenigstens mit einem Gleichniss einen Blick auf die L�sung dieser
Schwierigkeit zu er�ffnen, m�ge man sich doch daran erinnern, dass
der Tanz nicht das Selbe wie ein mattes Hin- und Hertaumeln zwischen
verschiedenen Antrieben ist. Die hohe Cultur wird einem k�hnen Tanze
�hnlich sehen: wesshalb, wie gesagt, viel Kraft und Geschmeidigkeit
noth thut.


279.

Von der Erleichterung des Lebens. - Ein Hauptmittel, um sich das Leben
zu erleichtern, ist das Idealisiren aller Vorg�nge desselben; man
soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisiren
heisst. Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht zu genau, zu
scharf zusehe, er zwingt ihn in eine gewisse Ferne zur�ck, damit
er von dort aus betrachte; er ist gen�thigt, eine ganz bestimmte
Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen; ja er muss
sogar ein ebenso bestimmtes Maass von Sch�rfe des Auges bei seinem
Betrachter annehmen; in solchen Dingen darf er durchaus nicht
schwanken. Jeder also, der sein Leben idealisiren will, muss es
nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse
Entfernung zur�ckbannen. Dieses Kunstst�ck verstand zum Beispiel
Goethe.


280.

Erschwerung als Erleichterung und umgekehrt. - Vieles, was auf
gewissen Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer
h�heren Stufe als Erleichterung, weil solche Menschen st�rkere
Erschwerungen des Lebens kennen gelernt haben. Ebenso kommt das
Umgekehrte vor: so hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes
Gesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinaufblickt, um von ihr sich
seine Last und Noth abnehmen zu lassen, oder auf sie hinabsieht, wie
auf die Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die
L�fte steige.


281.

Die h�here Cultur wird nothwendig missverstanden. - Wer sein
Instrument nur mit zwei Saiten bespannt hat, wie die Gelehrten, welche
ausser dem Wissenstrieb nur noch einen anerzogenen religi�sen haben,
der versteht solche Menschen nicht, welche auf mehr Saiten spielen
k�nnen. Es liegt im Wesen der h�heren vielsaitigeren Cultur, dass sie
von der niederen immer falsch gedeutet wird; wie diess zum Beispiel
geschieht, wenn die Kunst als eine verkappte Form des Religi�sen gilt.
Ja Leute, die nur religi�s sind, verstehen selbst die Wissenschaft als
Suchen des religi�sen Gef�hls, so wie Taubstumme nicht wissen, was
Musik ist, wenn nicht sichtbare Bewegung.


282.

Klagelied. - Es sind vielleicht die Vorz�ge unserer Zeiten, welche
ein Zur�cktreten und eine gelegentliche Untersch�tzung der vita
contemplativa mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich,
dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten, dass Pascal, Epictet,
Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiss -
sonst im Gefolge der grossen G�ttin Gesundheit - mitunter wie eine
Krankheit zu W�then scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken
fehlt, so erw�gt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begn�gt
sich, sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens
wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen
gew�hnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von
der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbst�ndige und vorsichtige Haltung
der Erkenntniss sch�tzt man beinahe als eine Art Verr�cktheit ab, der
Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an
seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gr�ndlichkeit und ihren
Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der
Wissenschaft bannen m�chten: w�hrend er die ganz andere und h�here
Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen
Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen
und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen. - Eine solche
Klage, wie die eben abgesungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben
und von selber einmal, bei einer gewaltigen R�ckkehr des Genius' der
Meditation, verstummen.


283.

Hauptmangel der th�tigen Menschen. - Den Th�tigen fehlt gew�hnlich die
h�here Th�tigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte,
Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen th�tig, aber nicht
als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht
sind sie faul. - Es ist das Ungl�ck der Th�tigen, dass ihre Th�tigkeit
fast immer ein Wenig unvern�nftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem
geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Th�tigkeit
nicht fragen: sie ist unvern�nftig. Die Th�tigen rollen, wie der Stein
rollt, gem�ss der Dummheit der Mechanik. - Alle Menschen zerfallen,
wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer
von seinem Tage nicht zwei Drittel f�r sich hat, ist ein Sclave, er
sei �brigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.


284.

Zu Gunsten der M�ssigen. - Zum Zeichen daf�r, dass die Sch�tzung des
beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt
mit den th�tigen Menschen in einer Art von hastigem Genusse, so dass
sie also diese Art, zu geniessen, h�her zu sch�tzen scheinen, als
die, welche ihnen eigentlich zukommt und welche in der That viel mehr
Genuss ist. Die Gelehrten sch�men sich des otium. Es ist aber ein edel
Ding um Musse und M�ssiggehen. - Wenn M�ssiggang wirklich der Anfang
aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der n�chsten
N�he aller Tugenden; der m�ssige Mensch ist immer noch ein besserer
Mensch als der th�tige. - Ihr meint doch nicht, dass ich mit Musse und
M�ssiggehen auf euch ziele, ihr Faulthiere? -


285.

Die moderne Unruhe. - Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit
immer gr�sser, so dass den Amerikanern die Bewohner Europa's
insgesammt sich als ruheliebende und geniessende Wesen darstellen,
w�hrend diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinander fliegen.
Diese Bewegtheit wird so gross, dass die h�here Cultur ihre Fr�chte
nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf
einander folgten. Aus Mangel an Ruhe l�uft unsere Civilisation in eine
neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Th�tigen, das heisst die
Ruhelosen, mehr gegolten. Es geh�rt desshalb zu den nothwendigen
Correcturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss,
das beschauliche Element in grossem Maasse zu verst�rken. Doch hat
schon jeder Einzelne, welcher in Herz und Kopf ruhig und stetig ist,
das Recht zu glauben, dass er nicht nur ein gutes Temperament, sondern
eine allgemein n�tzliche Tugend besitze und durch die Bewahrung dieser
Tugend sogar eine h�here Aufgabe erf�lle.


286.

Inwiefern der th�tige faul ist. - Ich glaube, dass jeder �ber jedes
Ding, �ber welches Meinungen m�glich sind, eine eigene Meinung haben
muss, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu
allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt.
Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Th�tigen liegt,
verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu
sch�pfen. - Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der
Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein
g�ltiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu
seiner Gesundheit n�thig hat, ist f�r ein anderes schon Grund zur
Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes d�rfen
h�her entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten.


287.

Censor vitae. Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet f�r eine
lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen, welcher frei in seinem
Urtheile �ber das Leben werden will; er vergisst nicht und tr�gt den
Dingen Alles nach, Gutes und B�ses. Zuletzt, wenn die ganze Tafel
seiner Seele mit Erfahrungen voll geschrieben ist, wird er das Dasein
nicht verachten und hassen, aber es auch nicht lieben, sondern �ber
ihm liegen bald mit dem Auge der Freude, bald mit dem der Trauer, und,
wie die Natur, bald sommerlich, bald herbstlich gesinnt sein.


288.

Nebenerfolg. - Wer ernstlich frei werden will, wird dabei ohne allen
Zwang die Neigung zu Fehlern und Lastern mit verlieren; auch Aerger
und Verdruss werden ihn immer seltener anfallen. Sein Wille n�mlich
will Nichts angelegentlicher, als Erkennen und das Mittel dazu, das
heisst: den andauernden Zustand, in dem er am t�chtigsten zum Erkennen
ist.


289.

Werth der Krankheit. - Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt
mitunter dahinter, dass er f�r gew�hnlich an seinem Amte, Gesch�fte
oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit
�ber sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Musse, zu
welcher ihn seine Krankheit zwingt.


290.

Empfindung auf dem Lande. - Wenn man nicht feste, ruhige Linien am
Horizonte seines Lebens hat, Gebirgs- und Waldlinien gleichsam, so
wird der innerste Wille des Menschen selber unruhig, zerstreut und
begehrlich wie das Wesen des St�dters: er hat kein Gl�ck und giebt
kein Gl�ck.


291.

Vorsicht der freien Geister. - Freigesinnte, der Erkenntniss allein
lebende Menschen werden ihr �usserliches Lebensziel, ihre endg�ltige
Stellung zu Gesellschaft und Staat bald erreicht finden und zum
Beispiel mit einem kleinen Amte oder einem Verm�gen, das gerade zum
Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben; denn sie werden sich
einrichten so zu leben, dass eine grosse Verwandelung der �usseren
G�ter, ja ein Umsturz der politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit
umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie m�glich an
Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und gleichsam
mit einem langen Athem in das Element des Erkennens hinabtauchen.
So k�nnen sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund
zu sehen. - Von einem Ereigniss wird ein solcher Geist gerne nur
einen Zipfel nehmen, er liebt die Dinge in der ganzen Breite und
Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht: denn er will sich nicht in
diese verwickeln. - Auch er kennt die Wochentage der Unfreiheit, der
Abh�ngigkeit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit muss ihm ein
Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das Leben nicht aushalten.
- Es ist wahrscheinlich, dass selbst seine Liebe zu den Menschen
vorsichtig und etwas kurzathmig sein wird, denn er will sich nur,
so weit es zum Zwecke der Erkenntniss n�thig ist, mit der Welt der
Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muss darauf vertrauen, dass
der Genius der Gerechtigkeit Etwas f�r seinen J�nger und Sch�tzling
sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen
sollten. - Es giebt in seiner Lebens- und Denkweise einen verfeinerten
Heroismus, welcher es verschm�ht, sich der grossen Massen-Verehrung,
wie sein gr�berer Bruder es thut, anzubieten und still durch die
Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. Was f�r Labyrinthe er auch
durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig
durchgequ�lt hat - kommt er an's Licht, so geht er hell, leicht und
fast ger�uschlos seinen Gang und l�sst den Sonnenschein bis in seinen
Grund hinab spielen.


292.

Vorw�rts. - Und damit vorw�rts auf der Bahn der Weisheit, guten
Schrittes, guten Vertrauens! Wie du auch bist, so diene dir selber
als Quell der Erfahrung! Wirf das Missvergn�gen �ber dein Wesen ab,
verzeihe dir dein eignes Ich, denn in jedem Falle hast du an dir eine
Leiter mit hundert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntniss steigen
kannst. Das Zeitalter, in welches du dich mit Leidwesen geworfen
f�hlst, preist dich selig dieses Gl�ckes wegen; es ruft dir zu, dass
dir jetzt noch an Erfahrungen zu Theil werde, was Menschen sp�terer
Zeit vielleicht entbehren m�ssen. Missachte es nicht, noch religi�s
gewesen zu sein; ergr�nde es v�llig, wie du noch einen �chten Zugang
zur Kunst gehabt hast. Kannst du nicht gerade mit H�lfe dieser
Erfahrungen ungeheuren Wegstrecken der fr�heren Menschheit
verst�ndnisvoller nachgehen? Sind nicht gerade auf dem Boden, welcher
dir mitunter so missf�llt, auf dem Boden des unreinen Denkens, viele
der herrlichsten Fr�chte �lterer Cultur aufgewachsen? Man muss
Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, - sonst kann
man nicht weise werden. Aber man muss �ber sie hinaus sehen, ihnen
entwachsen k�nnen; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie
nicht. Ebenso muss dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige
Spiel mit den Wagschalen: "einerseits-andererseits". Wandle zur�ck, in
die Fussstapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren leidvollen
grossen Gang durch die W�ste der Vergangenheit machte: so bist du am
gewissesten belehrt, wohin alle sp�tere Menschheit nicht wieder gehen
kann oder darf. Und indem du mit aller Kraft vorausersp�hen willst,
wie der Knoten der Zukunft noch gekn�pft wird, bekommt dein eigenes
Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast
es in der Hand zu erreichen, dass all dein Erlebtes: die Versuche,
Irrwege, Fehler, T�uschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine
Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest aufgehn. Dieses Ziel ist, selber
eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser
Nothwendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen
Cultur zu schliessen. Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den
Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse
zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen
Sternbilder zuk�nftiger Culturen sichtbar werden. Glaubst du, ein
solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu m�hevoll, zu ledig aller
Annehmlichkeiten? So hast du noch nicht gelernt, dass kein Honig
s�sser als der der Erkenntniss ist und dass die h�ngenden Wolken der
Tr�bsal dir noch zum Euter dienen m�ssen, aus dem du die Milch zu
deiner Labung melken wirst. Kommt das Alter, so merkst du erst recht,
wie du der Stimme der Natur Geh�r gegeben, jener Natur, welche die
ganze Welt durch Lust beherrscht: das selbe Leben, welches seine
Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem
milden Sonnenglanz einer best�ndigen geistigen Freudigkeit; beiden,
dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf Einem Bergr�cken des
Lebens, so wollte es die Natur. Dann ist es Zeit und kein Anlass zum
Z�rnen, dass der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu - deine letzte
Bewegung; ein jauchzen der Erkenntniss - dein letzter Laut.




Sechstes Hauptst�ck.

Der Mensch im Verkehr.

293.

Wohlwollende Verstellung. - Es ist h�ufig im Verkehre mit Menschen
eine wohlwollende Verstellung n�thig, als ob wir die Motive ihres
Handelns nicht durchschauten.


294.

Copien. - Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen; und
den Meisten gefallen, wie bei Gem�lden, so auch hier, die Copien
besser als die Originale.


295.

Der Redner. - Man kann h�chst passend reden und doch so, dass alle
Weldt �ber das Gegentheil schreit: n�mlich dann, wenn man nicht zu
aller Welt redet.


296.

Mangel an Vertraulichkeit. - Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden
ist ein Fehler, der nicht ger�gt werden kann, ohne unheilbar zu
werden.


297.

Zur Kunst des Schenkens. - Eine Gabe ausschlagen zu m�ssen, blos weil
sie nicht auf die rechte Weise angeboten wurde, erbittert gegen den
Geber.


298.

Der gef�hrlichste Parteimann. - In jeder Partei ist Einer, der durch
sein gar zu gl�ubiges Aussprechen der Parteigrunds�tze die Uebrigen
zum Abfall reizt.


299.

Rathgeber des Kranken. Wer einem Kranken seine Rathschl�ge giebt,
erwirbt sich ein Gef�hl von Ueberlegenheit �ber ihn, sei es, dass sie
angenommen oder dass sie verworfen werden. Desshalb hassen reizbare
und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als ihre Krankheit.


300.

Doppelte Art der Gleichheit. - Die Sucht nach Gleichheit kann sich so
�ussern, dass man entweder alle Anderen zu sich hinunterziehen m�chte
(durch Verkleinern, Secretiren, Beinstellen) oder sich mit Allen
hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem Gelingen).


301.

Gegen Verlegenheit. - Das beste Mittel, sehr verlegenen Leuten zu
H�lfe zu kommen und sie zu beruhigen, besteht darin, dass man sie
entschieden lobt.


302.

Vorliebe f�r einzelne Tugenden. - Wir legen nicht eher besonderen
Werth auf den Besitz einer Tugend, bis wir deren v�llige Abwesenheit
an unserem Gegner wahrnehmen.


303.

Warum man widerspricht. - Man widerspricht oft einer Meinung,
w�hrend uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde,
unsympathisch ist.


304.

Vertrauen und Vertraulichkeit. - Wer die Vertraulichkeit mit einer
anderen Person geflissentlich zu erzwingen sucht, ist gew�hnlich nicht
sicher dar�ber, ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher
ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth.


305.

Gleichgewicht der Freundschaft. - Manchmal kehrt, im Verh�ltniss
von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der
Freundschaft zur�ck, wenn wir in unsre eigene Wagschale einige Gran
Unrecht legen.


306.

Die gef�hrlichsten Aerzte. - Die gef�hrlichsten Aerzte sind die,
welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit
vollkommener Kunst der T�uschung nachmachen.


307.

Wann Paradoxien am Platze sind. - Geistreichen Personen braucht man
mitunter, um sie f�r einen Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form
einer ungeheuerlichen Paradoxie vorzulegen.


308.

Wie muthige Leute gewonnen werden. - Muthige Leute �berredet man
dadurch zu einer Handlung, dass man dieselbe gef�hrlicher darstellt,
als sie ist.


309.

Artigkeiten. - Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten,
welche sie uns erweisen, zum Vergehen an.


310.

Warten lassen. - Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen
b�se Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen.
Diess macht unmoralisch.


311.

Gegen die Vertraulichen. - Leute, welche uns ihr volles Vertrauen
schenken, glauben dadurch ein Recht auf das unsrige zu haben. Diess
ist ein Fehlschluss; durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.


312.

Ausgleichsmittel. - Es gen�gt oft, einem Andern, dem man einen
Nachtheil zugef�gt hat, Gelegenheit zu einem Witze �ber uns zu geben,
um ihm pers�nlich Genugthuung zu schaffen, ja um ihn f�r uns gut zu
stimmen.


313.

Eitelkeit der Zunge. - Ob der Mensch seine schlechten Eigenschaften
und Laster verbirgt oder mit Offenheit sie eingesteht, so w�nscht doch
in beiden F�llen seine Eitelkeit einen Vortheil dabei zu haben: man
beachte nur, wie fein er unterscheidet, vor wem er jene Eigenschaften
verbirgt, vor wem er ehrlich und offenherzig wird.


314.

R�cksichtsvoll. - Niemanden kr�nken, Niemanden beeintr�chtigen wollen
kann ebensowohl das Kennzeichen einer gerechten, als einer �ngstlichen
Sinnesart sein.


315.

Zum Disputiren erforderlich. - Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu
legen versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Streites begeben.


316.

Umgang und Anmaassung. - Man verlernt die Anmaassung, wenn man sich
immer unter verdienten Menschen weiss; Allein-sein pflanzt Uebermuth.
Junge Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit Ihresgleichen um,
welche alle Nichts sind, aber gerne viel bedeuten.


317.

Motiv des Angriffs. - Man greift nicht nur an, um jemandem wehe zu
thun, ihn zu besiegen, sondern vielleicht auch nur, um sich seiner
Kraft bewusst zu werden.


318.

Schmeichelei. - Personen, welche unsere Vorsicht im Verkehr mit ihnen
durch Schmeicheleien bet�uben wollen, wenden ein gef�hrliches Mittel
an, gleichsam einen Schlaftrunk, welcher, wenn er nicht einschl�fert,
nur um so mehr wach erh�lt.


319.

Guter Briefschreiber. - Der, welcher keine B�cher schreibt, viel denkt
und in unzureichender Gesellschaft lebt, wird gew�hnlich ein guter
Briefschreiber sein.


320.

Am h�sslichsten. - Es ist zu bezweifeln, ob ein Vielgereister irgendwo
in der Welt h�sslichere Gegenden gefunden hat, als im menschlichen
Gesichte.


321.

Die Mitleidigen. - Die mitleidigen, im Ungl�ck jederzeit h�lfreichen
Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Gl�ck der
Anderen haben sie Nichts zu thun, sind �berfl�ssig, f�hlen sich
nicht im Besitz ihrer Ueberlegenheit und zeigen desshalb leicht
Missvergn�gen.


322.

Verwandte eines Selbstm�rders. - Verwandte eines Selbstm�rders rechnen
es ihm �bel an, dass er nicht aus R�cksicht auf ihren Ruf am Leben
geblieben ist.


323.

Undank vorauszusehen. - Der, welcher etwas Grosses schenkt, findet
keine Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu
viel Last.


324.

In geistloser Gesellschaft. - Niemand dankt dem geistreichen Menschen
die H�flichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der
es nicht h�flich ist, Geist zu zeigen.


325.

Gegenwart von Zeugen. - Man springt einem Menschen, der in's Wasser
f�llt, noch einmal so gern nach, wenn Leute zugegen sind, die es nicht
wagen.


326.

Schweigen. - Die f�r beide Parteien unangenehmste Art, eine Polemik zu
erwidern, ist, sich �rgern und schweigen: denn der Angreifende erkl�rt
sich das Schweigen gew�hnlich als Zeichen der Verachtung.


327.

Das Geheimniss des Freundes. - Es wird Wenige geben, welche, wenn
sie um Stoff zur Unterhaltung verlegen sind, nicht die geheimeren
Angelegenheiten ihrer Freunde preisgeben.


328.

Humanit�t. - Die Humanit�t der Ber�hmtheiten des Geistes besteht
darin, im Verkehre mit Unber�hmten auf eine verbindliche Art Unrecht
zu behalten.


329.

Der Befangene. - Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht sicher
f�hlen, benutzen jede Gelegenheit, um an einem Nahegestellten, dem sie
�berlegen sind, diese Ueberlegenheit �ffentlich, vor der Gesellschaft,
zu zeigen, zum Beispiel durch Neckereien.


330.

Dank. - Eine feine Seele bedr�ckt es, sich Jemanden zum Dank
verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich Jemandem.


331.

Merkmal der Entfremdung. - Das st�rkste Anzeichen von Entfremdung der
Ansichten bei zwei Menschen ist diess, dass beide sich gegenseitig
einiges Ironische sagen, aber keiner von beiden das Ironische daran
f�hlt.


332.

Anmaassung bei Verdiensten. - Anmaassung bei Verdiensten beleidigt
noch mehr, als Anmaassung von Menschen ohne Verdienst. denn schon das
Verdienst beleidigt.


333.

Gefahr in der Stimme. - Mitunter macht uns im Gespr�che der Klang der
eigenen Stimme verlegen und verleitet uns zu Behauptungen, welche gar
nicht unserer Meinung entsprechen.


334.

Im Gespr�che. - Ob man im Gespr�che dem Andern vornehmlich Recht giebt
oder Unrecht, ist durchaus die Sache der Angew�hnung: das Eine wie das
Andere hat Sinn.


335.

Furcht vor dem N�chsten. - Wir f�rchten die feindselige Stimmung des
N�chsten, weil wir bef�rchten, dass er durch diese Stimmung hinter
unsere Heimlichkeiten kommt.


336.

Durch Tadel auszeichnen. - Sehr angesehene Personen ertheilen selbst
ihren Tadel so, dass sie uns damit auszeichnen wollen. Es soll uns
aufmerksam machen, wie angelegentlich sie sich mit uns besch�ftigen.
Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel sachlich nehmen
und uns gegen ihn vertheidigen; wir �rgern sie dadurch und entfremden
uns ihnen.


337.

Verdruss am Wohlwollen Anderer. - Wir irren uns �ber den Grad, in
welchem wir uns gehasst, gef�rchtet glauben: weil wir selber zwar gut
den Grad unserer Abweichung von einer Person, Richtung, Partei kennen,
jene Andern aber uns sehr oberfl�chlich kennen und desshalb auch nur
oberfl�chlich hassen. Wir begegnen oft einem Wohlwollen, welches uns
unerkl�rlich ist; verstehen wir es aber, so beleidigt es uns, weil es
zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug nimmt.


338.

Sich kreuzende Eitelkeiten. - Zwei sich begegnende Personen, deren
Eitelkeit gleich gross ist, behalten hinterdrein von einander einen
schlechten Eindruck, weil jede so mit dem Eindruck besch�ftigt war,
den sie bei der andern hervorbringen wollte, dass die andere auf
sie keinen Eindruck machte; beide merken endlich, dass ihr Bem�hen
verfehlt ist und schieben je der andern die Schuld zu.


339.

Unarten als gute Anzeichen. - Der �berlegene Geist hat an den
Tactlosigkeiten, Anmaassungen, ja Feindseligkeiten ehrgeiziger
J�nglinge gegen ihn sein Vergn�gen; es sind die Unarten feuriger
Pferde, welche noch keinen Reiter getragen haben und doch in Kurzem so
stolz sein werden, ihn zu tragen.


340.

Wann es rathsam ist, Unrecht zu behalten. - Man thut gut, gemachte
Anschuldigungen, selbst wenn sie uns Unrecht thun, ohne Widerlegung
hinzunehmen, im Fall der Anschuldigende darin ein noch gr�sseres
Unrecht unsererseits sehen w�rde, wenn wir ihm widerspr�chen und etwa
gar ihn widerlegten. Freilich kann Einer auf diese Weise immer Unrecht
haben und immer Recht behalten und zuletzt mit dem besten Gewissen
von der Welt der unertr�glichste Tyrann und Qu�lgeist werden; und was
vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft
vorkommen.


341.

Zuwenig geehrt. - Sehr eingebildete Personen, denen man Zeichen von
geringerer Beachtung gegeben hat, als sie erwarteten, versuchen lange,
sich selbst und Andere dar�ber irre zu f�hren und werden spitzfindige
Psychologiker, um herauszubekommen, dass der Andere sie doch gen�gend
geehrt hat: erreichen sie ihr Ziel nicht, reisst der Schleier der
T�uschung, so geben sie sich einer um so gr�sseren Wuth hin.


342.

Urzust�nde in der Rede nachklingend. - In der Art, wie jetzt die
M�nner im Verkehre Behauptungen aufstellen, erkennt man oft einen
Nachklang der Zeiten, wo dieselben sich besser auf Waffen, als auf
irgend Etwas verstanden: sie handhaben ihre Behauptungen bald wie
zielende Sch�tzen ihr Gewehr, bald glaubt man das Sausen und Klirren
der Klingen zu h�ren; und bei einigen M�nnern poltert eine Behauptung
herab wie ein derber Kn�ttel. - Frauen dagegen sprechen so, wie Wesen,
welche Jahrtausende lang am Webstuhl sassen oder die Nadel f�hrten
oder mit Kindern kindisch waren.


343.

Der Erz�hler. - Wer Etwas erz�hlt, l�sst leicht merken, ob er erz�hlt,
weil ihn das Factum interessirt oder weil er durch die Erz�hlung
interessiren will. Im letzteren Falle wird er �bertreiben, Superlative
gebrauchen und Aehnliches thun. Er erz�hlt dann gew�hnlich schlechter,
weil er nicht so sehr an die Sache, als an sich denkt.


344.

Der Vorleser. - Wer dramatische Dichtungen vorliest, macht
Entdeckungen �ber seinen Charakter: er findet f�r gewisse Stimmungen
und Scenen seine Stimme nat�rlicher, als f�r andere, etwa f�r
alles Pathetische oder f�r das Scurrile, w�hrend er vielleicht
im gew�hnlichen Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos oder
Scurrilit�t zu zeigen.


345.

Eine Lustspiel-Scene, welche im Leben vorkommt. - Jemand denkt
sich eine geistreiche Meinung �ber ein Thema aus, um sie in einer
Gesellschaft vorzutragen. Nun w�rde man im Lustspiel anh�ren und
ansehen, wie er mit allen Segeln an den Punct zu kommen und die
Gesellschaft dort einzuschiffen sucht, wo er seine Bemerkung machen
kann: wie er fortw�hrend die Unterhaltung nach Einem Ziele schiebt,
gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt, endlich den
Augenblick erreicht: fast versagt ihm der Athem - und da nimmt ihm
Einer aus der Gesellschaft die Bemerkung vom Munde weg. Was wird er
thun? Seiner eigenen Meinung opponiren?


346.

Wider Willen unh�flich. - Wenn jemand wider Willen einen Andern
unh�flich behandelt, zum Beispiel nicht gr�sst, weil er ihn nicht
erkennt, so wurmt ihn diess, obwohl er nicht seiner Gesinnung einen
Vorwurf machen kann; ihn kr�nkt die schlechte Meinung, welche er bei
dem Andern erzeugt hat, oder er f�rchtet die Folgen einer Verstimmung,
oder ihn schmerzt es, den Andern verletzt zu haben, - also Eitelkeit,
Furcht oder Mitleid k�nnen rege werden, vielleicht auch alles
zusammen.


347.

Verr�ther-Meisterst�ck. - Gegen den Mitverschworenen den kr�nkenden
Argwohn zu �ussern, ob man nicht von ihm verrathen werde, und diess
gerade in dem Augenblicke, wo man selbst Verrath �bt, ist ein
Meisterst�ck der Bosheit, weil es den Andern pers�nlich occupirt
und ihn zwingt, eine Zeit lang sich sehr unverd�chtig und offen zu
benehmen, so dass der wirkliche Verr�ther sich freie Hand gemacht hat.


348.

Beleidigen und beleidigt werden. - Es ist weit angenehmer, zu
beleidigen und sp�ter um Verzeihung zu bitten, als beleidigt zu werden
und Verzeihung zu gew�hren. Der, welcher das Erste thut, giebt ein
Zeichen von Macht und nachher von G�te des Charakters. Der Andere,
wenn er nicht als inhuman gelten will, muss schon verzeihen; der
Genuss an der Dem�thigung des Anderen ist dieser N�thigung wegen
gering.


349.

Im Disput. - Wenn man zugleich einer anderen Meinung widerspricht und
dabei seine eigene entwickelt, so verr�ckt gew�hnlich die fortw�hrende
R�cksicht auf die andere Meinung die nat�rliche Haltung der eigenen:
sie erscheint absichtlicher, sch�rfer, vielleicht etwas �bertrieben.


350.

Kunstgriff. - Wer etwas Schwieriges von einem Andern erlangen will,
muss die Sache �berhaupt nicht als Problem fassen, sondern schlicht
seinen Plan hinlegen, als sei er die einzige M�glichkeit; er muss
es verstehen, wenn im Auge des Gegners der Einwand, der Widerspruch
d�mmert, schnell abzubrechen und ihm keine Zeit zu geben.


351.

Gewissensbisse nach Gesellschaften. - Warum haben wir nach
gew�hnlichen Gesellschaften Gewissensbisse? Weil wir wichtige Dinge
leicht genommen haben, weil wir bei der Besprechung von Personen
nicht mit voller Treue gesprochen oder weil wir geschwiegen haben,
wo wir reden sollten, weil wir gelegentlich nicht aufgesprungen und
fortgelaufen sind, kurz weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als
ob wir zu ihr geh�rten.


352.

Man wird falsch beurtheilt. - Wer immer darnach hinhorcht, wie er
beurtheilt wird, hat immer Aerger. Denn wir werden schon von Denen,
welche uns am n�chsten stehen ("am besten kennen"), falsch beurtheilt.
Selbst gute Freunde lassen ihre Verstimmung mitunter in einem
missg�nstigen Worte aus; und w�rden sie unsere Freunde sein, wenn sie
uns genau kennten? - Die Urtheile der Gleichg�ltigen thun sehr weh,
weil sie so unbefangen, fast sachlich klingen. Merken wir aber gar,
dass Jemand, der uns feind ist, uns in einem geheim gehaltenen Puncte
so gut kennt, wie wir uns, wie gross ist dann erst der Verdruss!


353.

Tyrannei des Portraits. - K�nstler und Staatsm�nner, die schnell
aus einzelnen Z�gen das ganze Bild eines Menschen oder Ereignisses
combiniren, sind am meisten dadurch ungerecht, dass sie hinterdrein
verlangen, das Ereigniss oder der Mensch m�sse wirklich so sein,
wie sie es malten; sie verlangen geradezu, dass Einer so begabt, so
verschlagen, so ungerecht sei, wie er in ihrer Vorstellung lebt.


354.

Der Verwandte als der beste Freund. - Die Griechen, die so gut
wussten, was ein Freund sei, - sie allein von allen V�lkern haben eine
tiefe, vielfache philosophische Er�rterung der Freundschaft; sodass
ihnen zuerst, und bis jetzt zuletzt, der Freund als ein l�senswerthes
Problem erschienen ist - diese selben Griechen haben die Verwandten
mit einem Ausdrucke bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes
"Freund" ist. Diess bleibt mir unerkl�rlich.


355.

Verkannte Ehrlichkeit. - Wenn jemand im Gespr�che sich selber citirt
("ich sagte damals", "ich pflege zu sagen"), so macht diess den
Eindruck der Anmaassung, w�hrend es h�ufiger gerade aus der
entgegengesetzten Quelle hervorgeht, mindestens aus Ehrlichkeit,
welche den Augenblick nicht mit den Einf�llen schm�cken und
herausputzen will, welche einem fr�heren Augenblicke angeh�ren.


356.

Der Parasit. - Es bezeichnet einen v�lligen Mangel an vornehmer
Gesinnung, wenn Jemand lieber in Abh�ngigkeit, auf Anderer Kosten,
leben will, um nur nicht arbeiten zu m�ssen, gew�hnlich mit einer
heimlichen Erbitterung gegen Die, von denen er abh�ngt. - Eine solche
Gesinnung ist viel h�ufiger bei Frauen als bei M�nnern, auch viel
verzeihlicher (aus historischen Gr�nden).


357.

Auf dem Altar der Vers�hnung. - Es giebt Umst�nde, wo man eine Sache
von einem Menschen nur so erlangt, dass man ihn beleidigt und sich
verfeindet: dieses Gef�hl, einen Feind zu haben, qu�lt ihn so, dass
er gern das erste Anzeichen einer milderen Stimmung zur Vers�hnung
ben�tzt und jene Sache auf dem Altar dieser Vers�hnung opfert, an der
ihm fr�her so viel gelegen war, dass er sie um keinen Preis geben
wollte.


358.

Mitleid fordern als Zeichen der Anmaassung. - Es giebt Menschen,
welche, wenn sie in Zorn gerathen und die Anderen beleidigen, dabei
erstens verlangen, dass man ihnen Nichts �bel nehme und zweitens,
dass man mit ihnen Mitleid habe, weil sie so heftigen Paroxysmen
unterworfen sind. So weit geht die menschliche Anmaassung.


359.

K�der. - "Jeder Mensch hat seinen Preis", - das ist nicht wahr. Aber
es findet sich wohl f�r Jeden ein K�der, an den er anbeissen muss. So
braucht man, um manche Personen f�r eine Sache zu gewinnen, dieser
Sache nur den Glanz des Menschenfreundlichen, Edlen, Mildth�tigen,
Aufopfernden zu geben - und welcher Sache k�nnte man ihn nicht geben?
- Es ist das Zuckerwerk und die N�scherei ihrer Seele; andere haben
anderes.


360.

Verhalten beim Lobe. - Wenn gute Freunde die begabte Natur loben, so
wird sie sich �fters aus H�flichkeit und Wohlwollen dar�ber erfreut
zeigen, aber in Wahrheit ist es ihr gleichg�ltig. Ihr eigentliches
Wesen ist ganz tr�ge dagegen und um keinen Schritt dadurch aus der
Sonne oder dem Schatten, in dem sie liegt, herauszuw�lzen; aber
die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man w�rde sie
betr�ben, wenn man sich �ber ihr Lob nicht freute.


361.

Die Erfahrung des Sokrates. - Ist man in einer Sache Meister geworden,
so ist man gew�hnlich eben dadurch in den meisten andern Sachen ein
v�lliger St�mper geblieben; aber man urtheilt gerade umgekehrt, wie
diess schon Sokrates erfuhr. Diess ist der Uebelstand, welcher den
Umgang mit Meistern unangenehm macht.


362.

Mittel der Verthierung. - Im Kampf mit der Dummheit werden die
billigsten und sanftesten Menschen zuletzt brutal. Sie sind damit
vielleicht auf dem rechten Wege der Vertheidigung; denn an die dumme
Stirn geh�rt, als Argument, von Rechtswegen die geballte Faust. Aber
weil, wie gesagt, ihr Charakter sanft und billig ist, so leiden sie
durch diese Mittel der Nothwehr mehr als sie Leid zuf�gen.


363.

Neugierde. - Wenn die Neugierde nicht w�re, w�rde wenig f�r das Wohl
des N�chsten gethan werden. Aber die Neugierde schleicht sich unter
dem Namen der Pflicht oder des Mitleides in das Haus des Ungl�cklichen
und Bed�rftigen. - Vielleicht ist selbst an der vielber�hmten
Mutterliebe ein gut St�ck Neugierde.


364.

Verrechnung in der Gesellschaft. - Dieser w�nscht interessant zu sein
durch seine Urtheile, jener durch seine Neigungen und Abneigungen,
der Dritte durch seine Bekanntschaften, ein Vierter durch seine
Vereinsamung - und sie verrechnen sich Alle. Denn Der, vor dem das
Schauspiel aufgef�hrt wird, meint selber dabei das einzig in Betracht
kommende Schauspiel zu sein.


365.

Duell. - Zu Gunsten aller Ehrenh�ndel und Duelle ist zu sagen, dass,
wenn Einer ein so reizbares Gef�hl hat, nicht leben zu wollen, wenn
Der und Der das und das �ber ihn sagt oder denkt, er ein Recht hat,
die Sache auf den Tod des Einen oder des Andern ankommen zu lassen.
Dar�ber, dass er so reizbar ist, ist gar nicht zu rechten, damit
sind wir die Erben der Vergangenheit, ihrer Gr�sse sowohl wie ihrer
Uebertreibungen, ohne welche es nie eine Gr�sse gab. Existirt nun ein
Ehren-Kanon, welcher Blut an Stelle des Todes gelten l�sst, so dass
nach einem regelm�ssigen Duell das Gem�th erleichtert ist, so ist
diess eine grosse Wohlthat, weil sonst viele Menschenleben in Gefahr
w�ren. - So eine Institution erzieht �brigens die Menschen in Vorsicht
auf ihre Aeusserungen und macht den Umgang mit ihnen m�glich.


366.

Vornehmheit und Dankbarkeit. - Eine vornehme Seele wird sich gern zur
Dankbarkeit verpflichtet f�hlen und den Gelegenheiten, bei denen sie
sich verpflichtet, nicht �ngstlich aus dem Wege zu gehen; ebenso wird
sie nachher gelassen in den Aeusserungen der Dankbarkeit sein; w�hrend
niedere Seelen sich gegen alles Verpflichtet werden str�uben oder
nachher in den Aeusserungen ihrer Dankbarkeit �bertrieben und allzu
sehr beflissen sind. Letzteres kommt �brigens auch bei Personen von
niederer Herkunft oder gedr�ckter Stellung vor: eine Gunst, ihnen
erwiesen, deucht ihnen ein Wunder von Gnade.


367.

Die Stunden der Beredtsamkeit. - Der Eine hat, um gut zu sprechen,
jemanden n�thig, der ihm entschieden und anerkannt �berlegen ist, der
Andere kann nur vor Einem, den er �berragt, v�llige Freiheit der Rede
und gl�ckliche Wendungen der Beredtsamkeit finden: in beiden F�llen
ist es der selbe Grund; jeder von ihnen redet nur gut, wenn er
sans g�ne redet, der Eine, weil er vor dem H�heren den Antrieb der
Concurrenz, des Wettbewerbs nicht f�hlt, der Andere ebenfalls desshalb
angesichts des Niederen. - Nun giebt es eine ganz andere Gattung von
Menschen, die nur gut reden, wenn sie im Wetteifer, mit der Absicht zu
siegen, reden. Welche von beiden Gattungen ist die ehrgeizigere: die,
welche aus erregter Ehrsucht gut, oder die, welche aus eben diesen
Motiven schlecht oder gar nicht spricht?


368.

Das Talent zur Freundschaft. - Unter den Menschen, welche eine
besondere Gabe zur Freundschaft haben, treten zwei Typen hervor. Der
Eine ist in einem fortw�hrenden Aufsteigen und findet f�r jede Phase
seiner Entwickelung einen genau zugeh�rigen Freund. Die Reihe von
Freunden, welche er auf diese Weise erwirbt, ist unter sich selten im
Zusammenhang, mitunter in Misshelligkeit und Widerspruch: ganz dem
entsprechend, dass die sp�teren Phasen in seiner Entwickelung die
fr�heren Phasen aufheben oder beeintr�chtigen. Ein solcher Mensch
mag im Scherz eine Leiter heissen. - Den andern Typus vertritt Der,
welcher eine Anziehungskraft auf sehr verschiedene Charaktere und
Begabungen aus�bt, so dass er einen ganzen Kreis von Freunden gewinnt;
diese aber kommen dadurch selber unter einander in freundschaftliche
Beziehung, trotz aller Verschiedenheit. Einen solchen Menschen
nenne man einen Kreis: denn in ihm muss jene Zusammengeh�rigkeit
so verschiedener Anlagen und Naturen irgendwie vorgebildet sein. -
Uebrigens ist die Gabe, gute Freunde zu haben, in manchem Menschen
viel gr�sser, als die Gabe, ein guter Freund zu sein.


369.

Taktik im Gespr�ch. - Nach einem Gespr�ch mit jemandem ist man am
besten auf den Mitunterredner zu sprechen, wenn man Gelegenheit hatte,
seinen Geist, seine Liebensw�rdigkeit vor ihm im ganzen Glanze zu
zeigen. Diess benutzen kluge Menschen, welche jemanden sich g�nstig
stimmen wollen, indem sie bei der Unterredung ihm die besten
Gelegenheiten zu einem guten Witz und dergleichen zuschieben. Es w�re
ein lustiges Gespr�ch zwischen zwei sehr Klugen zu denken, welche
sich gegenseitig g�nstig stimmen wollen und sich desshalb die sch�nen
Gelegenheiten im Gespr�ch hin und her zuwerfen, w�hrend keiner sie
annimmt: so dass das Gespr�ch im Ganzen geistlos und unliebensw�rdig
verliefe, weil Jeder dem Andern die Gelegenheit zu Geist und
Liebensw�rdigkeit zuwiese.


370.

Entladung des Unmuthes. - Der Mensch, dem Etwas misslingt, f�hrt diess
Misslingen lieber auf den b�sen Willen eines Anderen, als auf den
Zufall zur�ck. Seine gereizte Empfindung wird dadurch erleichtert,
eine Person und nicht eine Sache sich als Grund seines Misslingens
zu denken; denn an Personen kann man sich r�chen, die Unbilden des
Zufalls aber muss man hinunterw�rgen. Die Umgebung eines F�rsten
pflegt desshalb, wenn diesem Etwas misslungen ist, einen einzelnen
Menschen als angebliche Ursache ihm zu bezeichnen und im Interesse
aller H�flinge aufzuopfern; denn der Missmuth des F�rsten w�rde sich
sonst an ihnen Allen auslassen, da er ja an der Schicksalsg�ttin
selber keine Rache nehmen kann.


371.

Die Farbe der Umgebung annehmen. - Warum ist Neigung und Abneigung so
ansteckend, dass man kaum in der N�he einer stark empfindenden Person
leben kann, ohne wie ein Gef�ss mit ihrem F�r und Wider angef�llt zu
werden? Erstens ist die v�llige Enthaltung des Urtheils sehr schwer,
mitunter f�r unsere Eitelkeit geradezu unertr�glich; sie tr�gt da
gleiche Farbe mit der Gedanken- und Empfindungsarmuth oder mit der
Aengstlichkeit, der Unm�nnlichkeit: und so werden wir wenigstens dazu
fortgerissen, Partei zu nehmen, vielleicht gegen die Richtung unserer
Umgebung, wenn diese Stellung unserm Stolze mehr Vergn�gen macht.
Gew�hnlich aber - das ist das Zweite - bringen wir uns den
Uebergang von Gleichg�ltigkeit zu Neigung oder Abneigung gar
nicht zum Bewusstsein, sondern allm�hlich gew�hnen wir uns an die
Empfindungsweise unserer Umgebung, und weil sympathisches Zustimmen
und Sichverstehen so angenehm ist, tragen wir bald alle Zeichen und
Parteifarben dieser Umgebung.


372.

Ironie. - Die Ironie ist nur als p�dagogisches Mittel am Platze, von
seiten eines Lehrers im Verkehr mit Sch�lern irgend welcher Art: ihr
Zweck ist Dem�thigung, Besch�mung, aber von jener heilsamen Art,
welche gute Vors�tze erwachen l�sst und Dem, welcher uns so
behandelte, Verehrung, Dankbarkeit als einem Arzte entgegenbringen
heisst. Der Ironische stellt sich unwissend und zwar so gut, dass die
sich mit ihm unterredenden Sch�ler, get�uscht sind und in ihrem guten
Glauben an ihr eigenes Besserwissen dreist werden und sich Bl�ssen
aller Art geben; sie verlieren die Behutsamkeit und zeigen sich, wie
sie sind, - bis in einem Augenblick die Leuchte, die sie dem Lehrer
in's Gesicht hielten, ihre Strahlen sehr dem�thigend auf sie selbst
zur�ckfallen l�sst. - Wo ein solches Verh�ltniss, wie zwischen Lehrer
und Sch�ler, nicht stattfindet, ist sie eine Unart, ein gemeiner
Affect. Alle ironischen Schriftsteller rechnen auf die alberne Gattung
von Menschen, welche sich gerne allen Anderen mit dem Autor zusammen
�berlegen f�hlen wollen, als welchen sie f�r das Mundst�ck ihrer
Anmaassung ansehen. - Die Gew�hnung an Ironie, ebenso wie die an
Sarkasmus, verdirbt �brigens den Charakter, sie verleiht allm�hlich
die Eigenschaft einer schadenfrohen Ueberlegenheit: man ist zuletzt
einem bissigen Hunde gleich, der noch das Lachen gelernt hat, ausser
dem Beissen.


373.

Anmaassung. - Vor Nichts soll man sich so h�ten, als vor dem
Aufwachsen jenes Unkrautes, welches Anmaassung heisst und uns jede
gute Ernte verdirbt; denn es giebt Anmaassung in der Herzlichkeit,
in der Ehrenbezeigung, in der wohlwollenden Vertraulichkeit, in der
Liebkosung, im freundschaftlichen Rathe, im Eingestehen von Fehlern,
in dem Mitleid f�r Andere, und alle diese sch�nen Dinge erwecken
Widerwillen, wenn jenes Kraut dazwischen w�chst. Der Anmaassende, das
heisst Der, welcher mehr bedeuten will als er ist oder gilt, macht
immer eine falsche Berechnung. Zwar hat er den augenblicklichen Erfolg
f�r sich, insofern die Menschen, vor denen er anmaassend ist, ihm
gew�hnlich das Maass von Ehre zollen, welches er fordert, aus Angst
oder Bequemlichkeit; aber sie nehmen eine schlimme Rache daf�r,
insofern sie ebensoviel, als er �ber das Maass forderte, von dem
Werthe subtrahiren, den sie ihm bis jetzt beilegten. Es ist Nichts,
was die Menschen sich theurer bezahlen lassen, als Dem�thigung. Der
Anmaassende kann sein wirkliches grosses Verdienst so in den Augen der
Andern verd�chtigen und klein machen, dass man mit staubigen F�ssen
darauf tritt. Selbst ein stolzes Benehmen sollte man sich nur dort
erlauben, wo man ganz sicher sein kann, nicht missverstanden und
als anmaassend betrachtet zu werden, zum Beispiel vor Freunden und
Gattinnen. Denn es giebt im Verkehre mit Menschen keine gr�ssere
Thorheit, als sich den Ruf der Anmaassung zuzuziehen; es ist noch
schlimmer, als wenn man nicht gelernt hat, h�flich zu l�gen.


374.

Zwiegespr�ch. - Das Zwiegespr�ch ist das vollkommene Gespr�ch, weil
Alles, was der Eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine
begleitende Geb�rde in strenger R�cksicht auf den Anderen, mit dem
gesprochen wird, erh�lt, also dem entsprechend, was beim Briefverkehr
geschieht, dass ein und der selbe zehn Arten des seelischen Ausdrucks
zeigt, je nachdem er bald an Diesen, bald an Jenen schreibt. Beim
Zwiegespr�ch giebt es nur eine einzige Strahlenbrechung des Gedankens:
diese bringt der Mitunterredner hervor, als der Spiegel, in welchem
wir unsere Gedanken m�glichst sch�n wiedererblicken wollen. Wie aber
ist es bei zweien, bei dreien und mehr Mitunterrednern? Da verliert
nothwendig das Gespr�ch an individualisirender Feinheit, die
verschiedenen R�cksichten kreuzen sich, heben sich auf; die Wendung,
welche dem Einen wohlthut, ist nicht der Sinnesart des Andern gem�ss.
Desshalb wird der Mensch im Verkehr mit Mehreren gezwungen, sich auf
sich zur�ckzuziehen, die Thatsachen hinzustellen, wie sie sind, aber
jenen spielenden Aether der Humanit�t den Gegenst�nden zu nehmen,
welcher ein Gespr�ch zu den angenehmsten Dingen der Welt macht. Man
h�re nur den Ton, in welchem M�nner im Verkehr mit ganzen Gruppen von
M�nnern zu reden pflegen, es ist als ob der Grundbass aller Rede der
sei: "das bin ich, das sage ich, nun haltet davon, was ihr wollt!"
Diess ist der Grund, wesshalb geistreiche Frauen bei Dem, welcher
sie in der Gesellschaft kennen lernte, meistens einen befremdenden,
peinlichen, abschreckenden Eindruck hinterlassen: es ist das Reden
zu Vielen, vor Vielen, welches sie aller geistigen Liebensw�rdigkeit
beraubt und nur das bewusste Beruhen auf sich selbst, ihre Taktik und
die Absicht auf �ffentlichen Sieg in grellem Lichte zeigt: w�hrend
die selben Frauen im Zwiegespr�che wieder zu Weibern werden und ihre
geistige Anmuth wiederfinden.


375.

Nachruhm. - Auf die Anerkennung einer fernen Zukunft hoffen, hat nur
Sinn, wenn man die Annahme macht, dass die Menschheit wesentlich
unver�ndert bleibe und dass alles Grosse nicht f�r Eine, sondern f�r
alle Zeiten als gross empfunden werden m�sse. Diess ist aber ein
Irrthum; die Menschheit, in allem Empfinden und Urtheilen �ber
Das, was sch�n und gut ist, verwandelt sich sehr stark; es ist
Phantasterei, von sich zu glauben, dass man eine Meile Wegs voraus
sei und dass die gesammte Menschheit unsere Strasse ziehe. Zudem: ein
Gelehrter, der verkannt wird, darf jetzt bestimmt darauf rechnen, dass
seine Entdeckung von Anderen auch gemacht wird, und dass ihm besten
Falls einmal sp�ter von einem Historiker zuerkannt wird, er habe diess
und jenes auch schon gewusst, sei aber nicht im Stande gewesen, seinem
Satz Glauben zu verschaffen. Nicht-anerkannt-werden wird von der
Nachwelt immer als Mangel an Kraft ausgelegt. - Kurz, man soll der
hochm�thigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden. Es giebt
�brigens Ausnahmef�lle; aber zumeist sind es unsere Fehler, Schw�chen
und Narrheiten, welche die Anerkennung unserer grossen Eigenschaften
verhindern.


376.

Von den Freunden. - Ueberlege nur mit dir selber einmal, wie
verschieden die Empfindungen, wie getheilt die Meinungen selbst unter
den n�chsten Bekannten sind; wie selbst gleiche Meinungen in den
K�pfen deiner Freunde eine ganz andere Stellung oder St�rke haben, als
in deinem; wie hundertf�ltig der Anlass kommt zum Missverstehen, zum
feindseligen Auseinanderfliehen. Nach alledem wirst du dir sagen:
wie unsicher ist der Boden, auf dem alle unsere B�ndnisse und
Freundschaften ruhen, wie nahe sind kalte Regeng�sse oder b�se Wetter,
wie vereinsamt ist jeder Mensch! Sieht Einer diess ein und noch dazu,
dass alle Meinungen und deren Art und St�rke bei seinen Mitmenschen
ebenso nothwendig und unverantwortlich sind wie ihre Handlungen,
gewinnt er das Auge f�r diese innere Nothwendigkeit der Meinungen aus
der unl�sbaren Verflechtung von Charakter, Besch�ftigung, Talent,
Umgebung, - so wird er vielleicht die Bitterkeit und Sch�rfe jener
Empfindung los, mit der jener Weise rief: "Freunde, es giebt keine
Freunde!" Er wird sich vielmehr eingestehen: ja es giebt Freunde, aber
der Irrthum, die T�uschung �ber dich f�hrte sie dir zu; und Schweigen
m�ssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben; denn fast immer
beruhen solche menschliche Beziehungen darauf, dass irgend ein paar
Dinge nie gesagt werden, ja dass an sie nie ger�hrt wird; kommen diese
Steinchen aber in's Rollen, so folgt die Freundschaft hinterdrein und
zerbricht. Giebt es Menschen, welche nicht t�dtlich zu verletzen sind,
wenn sie erf�hren, was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen
wissen? - Indem wir uns selbst erkennen und unser Wesen selber als
eine wandelnde Sph�re der Meinungen und Stimmungen ansehen und
somit ein Wenig geringsch�tzen lernen, bringen wir uns wieder in's
Gleichgewicht mit den Uebrigen. Es ist wahr, wir haben gute Gr�nde,
jeden unserer Bekannten, und seien es die gr�ssten, gering zu achten;
aber eben so gute, diese Empfindung gegen uns selber zu kehren. -
Und so wollen wir es mit einander aushalten, da wir es ja mit uns
aushalten; und vielleicht kommt jedem auch einmal die freudigere
Stunde, wo er sagt:

"Freunde, es giebt keine Freunde!" so rief der sterbende Weise;
"Feinde, es giebt keinen Feind!" - ruf' ich, der lebende Thor.




Siebentes Hauptst�ck.

Weib und Kind.

377.

Das vollkommene Weib. - Das vollkommene Weib ist ein h�herer Typus
des Menschen, als der vollkommene Mann: auch etwas viel Selteneres.
- Die Naturwissenschaft der Thiere bietet ein Mittel, diesen Satz
wahrscheinlich zu machen.


378.

Freundschaft und Ehe. - Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste
Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft
beruht.


379.

Fortleben der Eltern. - Die unaufgel�sten Dissonanzen im Verh�ltniss
von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes
fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus.


380.

Von der Mutter her. - Jedermann tr�gt ein Bild des Weibes von der
Mutter her in sich: davon wird er bestimmt, die Weiber �berhaupt zu
verehren oder sie geringzusch�tzen oder gegen sie im Allgemeinen
gleichg�ltig zu sein.


381.

Die Natur corrigiren. - Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man
sich einen anschaffen.


382.

V�ter und S�hne. - V�ter haben viel zu thun, um es wieder gut zu
machen, dass sie S�hne haben.


383.

Irrthum vornehmer Frauen. - Die vornehmen Frauen denken, dass eine
Sache gar nicht da ist, wenn es nicht m�glich ist, von ihr in der
Gesellschaft zu sprechen.


384.

Eine M�nnerkrankheit. - Gegen die M�nnerkrankheit der Selbstverachtung
hilft es am sichersten, von einem klugen Weibe geliebt zu werden.


385.

Eine Art der Eifersucht. - M�tter sind leicht eifers�chtig auf die
Freunde ihrer S�hne, wenn diese besondere Erfolge haben. Gew�hnlich
liebt eine Mutter sich mehr in ihrem Sohn, als den Sohn selber.


386.

Vern�nftige Unvernunft. - In der Reife des Lebens und des Verstandes
�berkommt den Menschen das Gef�hl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn
zu zeugen.


387.

M�tterliche G�te. - Manche Mutter braucht gl�ckliche geehrte Kinder,
manche ungl�ckliche: sonst kann sich ihre G�te als Mutter nicht
zeigen.


388.

Verschiedene Seufzer. - Einige M�nner haben �ber die Entf�hrung ihrer
Frauen geseufzt, die meisten dar�ber, dass Niemand sie ihnen entf�hren
wollte.


389.

Liebesheirathen. - Die Ehen, welche aus Liebe geschlossen werden (die
sogenannten Liebesheirathen), haben den Irrthum zum Vater und die Noth
(das Bed�rfniss) zur Mutter.


390.

Frauenfreundschaft. - Frauen k�nnen recht gut mit einem Manne
Freundschaft schliessen; aber um diese aufrecht zu erhalten - dazu
muss wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen.


391.

Langeweile. - Viele Menschen, namentlich Frauen, empfinden die
Langeweile nicht, weil sie niemals ordentlich arbeiten gelernt haben.


392.

Ein Element der Liebe. - In jeder Art der weiblichen Liebe kommt auch
Etwas von der m�tterlichen Liebe zum Vorschein.


393.

Die Einheit des Ortes und das Drama. - Wenn die Ehegatten nicht
beisammen lebten, w�rden die guten Ehen h�ufiger sein.


394.

Gew�hnliche Folgen der Ehe. - Jeder Umgang, der nicht hebt, zieht
nieder, und umgekehrt; desshalb sinken gew�hnlich die M�nner etwas,
wenn sie Frauen nehmen, w�hrend die Frauen etwas gehoben werden. Allzu
geistige M�nner bed�rfen eben so sehr der Ehe, als sie ihr wie einer
widrigen Medicin widerstreben.


395.

Befehlen lehren. - Kinder aus bescheidenen Familien muss man eben
so sehr das Befehlen durch Erziehung lehren, wie andere Kinder das
Gehorchen.


396.

Verliebt werden wollen. - Verlobte, welche die Convenienz
zusammengef�gt hat, bem�hen sich h�ufig, verliebt zu werden, um �ber
den Vorwurf der kalten, berechnenden N�tzlichkeit hinwegzukommen.
Ebenso bem�hen sich Solche, die ihres Vortheils wegen zum Christenthum
umlenken, wirklich fromm zu werden; denn so wird das religi�se
Mienenspiel ihnen leichter.


397.

Kein Stillstand in der Liebe. - Ein Musiker, der das langsame Tempo
liebt, wird die selben Tonst�cke immer langsamer nehmen. So giebt es
in keiner Liebe ein Stillstehen.


398.

Schamhaftigkeit. - Mit der Sch�nheit der Frauen nimmt im Allgemeinen
ihre Schamhaftigkeit zu.


399.

Ehe von gutem Bestand. - Eine Ehe, in der Jedes durch das Andere ein
individuelles Ziel erreichen will, h�lt gut zusammen, zum Beispiel
wenn die Frau durch den Mann ber�hmt, der Mann durch die Frau beliebt
werden will.


400.

Proteus-Natur.- Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in
der Vorstellung der M�nner, von denen sie geliebt werden, leben.


401.

Lieben und besitzen. - Frauen lieben meistens einen bedeutenden
Mann so, dass sie ihn allein haben wollen. Sie w�rden ihn gern in
Verschluss legen, wenn nicht ihre Eitelkeit widerriethe: diese will,
dass er auch vor Anderen bedeutend erscheine.


402.

Probe einer guten Ehe. - Die G�te einer Ehe bew�hrt sich dadurch, dass
sie einmal eine "Ausnahme" vertr�gt.


403.

Mittel, Alle zu Allem zu bringen. - Man kann Jedermann so durch
Unruhen, Aengste, Ueberh�ufung von Arbeit und Gedanken abmatten und
schwach machen, dass er einer Sache, die den Schein des Complicirten
hat, nicht mehr widersteht, sondern ihr nachgiebt, - das wissen die
Diplomaten und die Weiber.


404.

Ehrbarkeit und Ehrlichkeit. - Jene M�dchen, welche allein ihrem
Jugendreize die Versorgung f�r's ganze Leben verdanken wollen und
deren Schlauheit die gewitzigten M�tter noch souffliren, wollen ganz
das Selbe wie die Het�ren, nur dass sie kl�ger und unehrlicher als
diese sind.


405.

Masken. - Es giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein
Inneres haben, sondern reine Masken sind. Der Mann ist zu beklagen,
der sich mit solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden
Wesen einl�sst, aber gerade sie verm�gen das Verlangen des Mannes auf
das st�rkste zu erregen: er sucht nach ihrer Seele - und sucht immer
fort.


406.

Die Ehe als langes Gespr�ch. - Man soll sich beim Eingehen einer Ehe
die Frage vorlegen: glaubst du, dich mit dieser Frau bis in's Alter
hinein gut zu unterhalten? Alles Andere in der Ehe ist transitorisch,
aber die meiste Zeit des Verkehrs geh�rt dem Gespr�che an.


407.

M�dchentr�ume. - Unerfahrene M�dchen schmeicheln sich mit der
Vorstellung, dass es in ihrer Macht stehe, einen Mann gl�cklich zu
machen; sp�ter lernen sie, dass es so viel heisst als: einen Mann
geringsch�tzen, wenn man annimmt, dass es nur eines M�dchens bed�rfe,
um ihn gl�cklich zu machen. - Die Eitelkeit der Frauen verlangt, dass
ein Mann mehr sei, als ein gl�cklicher Gatte.


408.

Aussterben von Faust und Gretchen. - Nach der sehr einsichtigen
Bemerkung eines Gelehrten �hneln die gebildeten M�nner des
gegenw�rtigen Deutschland einer Mischung von Mephistopheles und
Wagner, aber durchaus nicht Fausten: welchen die Grossv�ter (in ihrer
Jugend wenigstens) in sich rumoren f�hlten. Zu ihnen passen also - um
jenen Satz fortzusetzen - aus zwei Gr�nden die Gretchen nicht. Und
weil sie nicht mehr begehrt werden, so sterben sie, scheint es, aus.


409.

M�dchen als Gymnasiasten. - Um Alles in der Welt nicht noch unsere
Gymnasialbildung auf die M�dchen �bertragen! Sie, die h�ufig aus
geistreichen, wissbegierigen, feurigen jungen - Abbilder ihrer Lehrer
macht!


410.

Ohne Nebenbuhlerinnen. - Frauen merken es einem Manne leicht an,
ob seine Seele schon in Besitz genommen ist; sie wollen ohne
Nebenbuhlerinnen geliebt sein und verargen ihm die Ziele seines
Ehrgeizes, seine politischen Aufgaben, seine Wissenschaften und
K�nste, wenn er eine Leidenschaft zu solchen Sachen hat. Es sei denn,
dass er durch diese gl�nze, - dann erhoffen sie, im Falle einer
Liebesverbindung mit ihm, zugleich einen Zuwachs ihres Glanzes; wenn
es so steht, beg�nstigen sie den Liebhaber.


411.

Der weibliche Intellect. - Der Intellect der Weiber zeigt sich als
vollkommene Beherrschung, Gegenw�rtigkeit des Geistes, Benutzung aller
Vortheile. Sie vererben ihn als ihre Grundeigenschaft auf ihre Kinder,
und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des Willens dazu. Sein
Einfluss bestimmt gleichsam Rhythmus und Harmonie, mit denen das
neue Leben abgespielt werden soll; aber die Melodie desselben stammt
vom Weibe. - F�r Solche gesagt, welche Etwas sich zurecht zu legen
wissen: die Weiber haben den Verstand, die M�nner das Gem�th und die
Leidenschaft. Dem widerspricht nicht, dass die M�nner thats�chlich es
mit ihrem Verstande so viel weiterbringen: sie haben die tieferen,
gewaltigeren Antriebe; diese tragen ihren Verstand, der an sich etwas
Passives ist, so weit. Die Weiber wundern sich im Stillen oft �ber die
grosse Verehrung, welche die M�nner ihrem Gem�the zollen. Wenn die
M�nner vor Allem nach einem tiefen, gem�thvollen Wesen, die Weiber
aber nach einem klugen, geistesgegenw�rtigen und gl�nzenden Wesen bei
der Wahl ihres Ehegenossen suchen, so sieht man im Grunde deutlich,
wie der Mann nach dem idealisirten Manne, das Weib nach dem
idealisirten Weibe sucht, also nicht nach Erg�nzung, sondern nach
Vollendung der eigenen Vorz�ge.


412.

Ein Urtheil Hesiod's bekr�ftigt. - Ein Zeichen f�r die Klugheit
der Weiber ist es, dass sie es fast �berall verstanden haben, sich
ern�hren zu lassen, wie Drohnen im Bienenkorbe. Man erw�ge doch, was
das aber urspr�nglich bedeuten will und warum die M�nner sich nicht
von den Frauen ern�hren lassen. Gewiss weil die m�nnliche Eitelkeit
und Ehrsucht gr�sser als die weibliche Klugheit ist; denn die Frauen
haben es verstanden, sich durch Unterordnung doch den �berwiegenden
Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern. Selbst das Pflegen der Kinder
k�nnte urspr�nglich von der Klugheit der Weiber als Vorwand benutzt
sein, um sich der Arbeit m�glichst zu entziehen. Auch jetzt noch
verstehen sie, wenn sie wirklich th�tig sind, zum Beispiel als
Haush�lterinnen, davon ein sinnverwirrendes Aufheben zu machen:
so dass von den M�nnern das Verdienst ihrer Th�tigkeit zehnfach
�bersch�tzt zu werden pflegt.


413.

Die Kurzsichtigen sind verliebt. - Mitunter gen�gt schon eine st�rkere
Brille, um den Verliebten zu heilen; und wer die Kraft der Einbildung
h�tte, um ein Gesicht, eine Gestalt sich zwanzig Jahre �lter
vorzustellen, gienge vielleicht sehr ungest�rt durch das Leben.


414.

Frauen im Hass. - Im Zustande des Hasses sind Frauen gef�hrlicher, als
M�nner; zuv�rderst weil sie durch keine R�cksicht auf Billigkeit in
ihrer einmal erregten feindseligen Empfindung gehemmt werden, sondern
ungest�rt ihren Hass bis zu den letzten Consequenzen anwachsen lassen,
sodann weil sie darauf einge�bt sind, wunde Stellen (die jeder Mensch,
jede Partei hat) zu finden und dort hinein zu stechen: wozu ihnen ihr
dolchspitzer Verstand treffliche Dienste leistet (w�hrend die M�nner
beim Anblick von Wunden zur�ckhaltend, oft grossm�thig und vers�hnlich
gestimmt werden).


415.

Liebe. - Die Abg�tterei, welche die Frauen mit der Liebe treiben, ist
im Grunde und urspr�nglich eine Erfindung der Klugheit, insofern sie
ihre Macht durch alle jene Idealisirungen der Liebe erh�hen und sich
in den Augen der M�nner als immer begehrenswerther darstellen. Aber
durch die Jahrhundertelange Gew�hnung an diese �bertriebene Sch�tzung
der Liebe ist es geschehen, dass sie in ihr eigenes Netz gelaufen sind
und jenen Ursprung vergessen haben. Sie selber sind jetzt noch mehr
die Get�uschten, als die M�nner, und leiden desshalb auch mehr an der
Entt�uschung, welche fast nothwendig im Leben jeder Frau eintreten
wird - sofern sie �berhaupt Phantasie und Verstand genug hat, um
get�uscht und entt�uscht werden zu k�nnen.


416.

Zur Emancipation der Frauen. - K�nnen die Frauen �berhaupt gerecht
sein, wenn sie so gewohnt sind, zu lieben, gleich f�r oder wider zu
empfinden? Daher sind sie auch seltener f�r Sachen, mehr f�r Personen
eingenommen: sind sie es aber f�r Sachen, so werden sie sofort deren
Parteig�nger und verderben damit die reine unschuldige Wirkung
derselben. So entsteht eine nicht geringe Gefahr, wenn ihnen die
Politik und einzelne Theile der Wissenschaft anvertraut werden (zum
Beispiel Geschichte). Denn was w�re seltener, als eine Frau, welche
wirklich w�sste, was Wissenschaft ist? Die besten n�hren sogar im
Busen gegen sie eine heimliche Geringsch�tzung, als ob sie irgend
wodurch ihr �berlegen w�ren. Vielleicht kann diess Alles anders
werden, einstweilen ist es so.


417.

Die Inspiration im Urtheile der Frauen. - Jene pl�tzlichen
Entscheidungen �ber das F�r und Wider, welche Frauen zu geben pflegen,
die blitzschnellen Erhellungen pers�nlicher Beziehungen durch ihre
hervorbrechenden Neigungen und Abneigungen, kurz die Beweise der
weiblichen Ungerechtigkeit sind von liebenden M�nnern mit einem Glanz
umgeben worden, als ob alle Frauen Inspirationen von Weisheit h�tten,
auch ohne den delphischen Kessel und die Lorbeerbinde: und ihre
Ausspr�che werden noch lange nachher wie sibyllinische Orakel
interpretirt und zurechtgelegt. Wenn man aber erw�gt, dass f�r jede
Person, f�r jede Sache sich etwas geltend machen l�sst, aber ebenso
gut auch Etwas gegen sie, dass alle Dinge nicht nur zwei-, sondern
drei- und vierseitig sind, so ist es beinahe Schwer, mit solchen
pl�tzlichen Entscheidungen g�nzlich fehl zu greifen; ja man k�nnte
sagen: die Natur der Dinge ist so eingerichtet, dass die Frauen immer
Recht behalten.


418.

Sich lieben lassen. - Weil die eine von zwei liebenden Personen
gew�hnlich die liebende, die andere die geliebte Person ist, so
ist der Glaube entstanden, es g�be in jedem Liebeshandel ein
gleichbleibendes Maass von Liebe: je mehr eine davon an sich reisse,
um so weniger bleibe f�r die andere Person �brig. Ausnahmsweise kommt
es vor, dass die Eitelkeit jede der beiden Personen �berredet, sie sei
die, welche geliebt werden m�sse; so dass sich beide lieben lassen
wollen: woraus sich namentlich in der Ehe mancherlei halb drollige,
halb absurde Scenen ergeben.


419.

Widerspr�che in weiblichen K�pfen. - Weil die Weiber so viel mehr
pers�nlich als sachlich sind, vertragen sich in ihrem Gedankenkreise
Richtungen, die logisch mit einander in Widerspruch sind: sie pflegen
sich eben f�r die Vertreter dieser Richtungen der Reihe nach zu
begeistern und nehmen deren Systeme in Bausch und Bogen an; doch
so, dass �berall dort eine todte Stelle entsteht, wo eine neue
Pers�nlichkeit sp�ter das Uebergewicht bekommt. Es kommt vielleicht
vor, dass die ganze Philosophie im Kopf einer alten Frau aus lauter
solchen todten Stellen besteht.


420.

Wer leidet mehr? - Nach einem pers�nlichen Zwiespalt und Zanke
zwischen einer Frau und einem Manne leidet der eine Theil am meisten
bei der Vorstellung, dem anderen Wehe gethan zu haben; w�hrend jener
am meisten bei der Vorstellung leidet, dem andern nicht genug Wehe
gethan zu haben, wesshalb er sich bem�ht, durch Thr�nen, Schluchzen
und verst�rte Mienen, ihm noch hinterdrein das Herz schwer zu machen.


421.

Gelegenheit zu weiblicher Grossmuth. - Wenn man sich �ber die
Anspr�che der Sitte einmal in Gedanken hinwegsetzt, so k�nnte man
wohl erw�gen, ob nicht Natur und Vernunft den Mann auf mehrfache
Verheirathung nach einander anweist, etwa in der Gestalt, dass er
zuerst im Alter von zwei und zwanzig Jahren ein �lteres M�dchen
heirathet, das ihm geistig und sittlich �berlegen ist und seine
F�hrerin durch die Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz, Hass,
Selbstverachtung, Leidenschaften aller Art) werden kann. Die Liebe
dieser w�rde sp�ter ganz in das M�tterliche �bertreten, und sie
ertr�ge es nicht nur, sondern f�rderte es auf die heilsamste Weise,
wenn der Mann in den dreissiger Jahren mit einem ganz jungen M�dchen
eine Verbindung eingienge, dessen Erziehung er selber in die Hand
n�hme. - Die Ehe ist f�r die zwanziger Jahre einn�thiges, f�r die
dreissiger ein n�tzliches, aber nicht n�thiges Institut: f�r das
sp�tere Leben wird sie oft sch�dlich und bef�rdert die geistige
R�ckbildung des Mannes.


422.

Trag�die der Kindheit. - Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass
edel- und hochstrebende Menschen ihren h�rtesten Kampf in der Kindheit
zu bestehen haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen einen
niedrig denkenden, dem Schein und der L�gnerei ergebenen Vater
durchsetzen m�ssen, oder fortw�hrend, wie Lord Byron, im Kampfe mit
einer kindischen und zornw�thigen Mutter leben. Hat man so Etwas
erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen,
wer Einem eigentlich der gr�sste, der gef�hrlichste Feind gewesen ist.


423.

Eltern-Thorheit. - Die gr�bsten Irrth�mer in der Beurtheilung eines
Menschen werden von dessen Eltern gemacht: diess ist eine Thatsache,
aber wie soll man sie erkl�ren? Haben die Eltern zu viele Erfahrung
von dem Kinde und k�nnen sie diese nicht mehr zu einer Einheit
zusammenbringen? Man bemerkt, dass Reisende unter fremden V�lkern nur
in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes die allgemeinen unterscheidenden
Z�ge eines Volkes richtig erfassen; je mehr sie das Volk kennen
lernen, desto mehr verlernen sie, das Typische und Unterscheidende an
ihm zu sehen. Sobald sie nah-sichtig werden, h�ren ihre Augen auf,
fern-sichtig zu sein. Sollten die Eltern desshalb falsch �ber das Kind
urtheilen, weil sie ihm nie fern genug gestanden haben? - Eine ganz
andere Erkl�rung w�re folgende: die Menschen pflegen �ber das N�chste,
was sie umgiebt, nicht mehr nachzudenken, sondern es nur hinzunehmen.
Vielleicht ist die gewohnheitsm�ssige Gedankenlosigkeit der Eltern der
Grund, wesshalb sie, einmal gen�thigt �ber ihre Kinder zu urtheilen,
so schief urtheilen.


424.

Aus der Zukunft der Ehe. - Jene edlen, freigesinnten Frauen, welche
die Erziehung und Erhebung des weiblichen Geschlechtes sich zur
Aufgabe stellen, sollen einen Gesichtspunct nicht �bersehen: die Ehe
in ihrer h�heren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft zweier
Menschen verschiedenen Geschlechts, also so, wie sie von der Zukunft
erhofft wird, zum Zweck der Erzeugung und Erziehung einer neuen
Generation geschlossen, - eine solche Ehe, welche das Sinnliche
gleichsam nur als ein seltenes, gelegentliches Mittel f�r einen
gr�sseren Zweck gebraucht, bedarf wahrscheinlich, wie man besorgen
muss, einer nat�rlichen Beih�lfe, des Concubinats; denn wenn aus
Gr�nden der Gesundheit des Mannes das Eheweib auch zur alleinigen
Befriedigung des geschlechtlichen Bed�rfnisses dienen soll, so wird
bei der Wahl einer Gattin schon ein falscher, den angedeuteten Zielen
entgegengesetzter Gesichtspunct maassgebend sein: die Erzielung der
Nachkommenschaft wird zuf�llig, die gl�ckliche Erziehung h�chst
unwahrscheinlich. Eine gute Gattin, welche Freundin, Geh�lfin,
Geb�rerin, Mutter, Familienhaupt, Verwalterin sein soll, ja vielleicht
abgesondert von dem Manne ihrem eigenen Gesch�ft und Amte vorzustehen
hat, kann nicht zugleich Concubine sein: es hiesse im Allgemeinen zu
viel von ihr verlangen. Somit k�nnte in Zukunft das Umgekehrte dessen
eintreten, was zu Perikles' Zeiten in Athen sich begab: die M�nner,
welche damals an ihren Eheweibern nicht viel mehr als Concubinen
hatten, wandten sich nebenbei zu den Aspasien, weil sie nach den
Reizen einer kopf- und herzbefreienden Geselligkeit verlangten, wie
eine solche nur die Anmuth und geistige Biegsamkeit der Frauen zu
schaffen vermag. Alle menschlichen Institutionen, wie die Ehe,
gestatten nur einen m�ssigen Grad von praktischer Idealisirung,
widrigenfalls sofort grobe Remeduren n�thig werden.


425.

Sturm- und Drangperiode der Frauen. - Man kann in den drei oder vier
civilisirten L�ndern Europa's aus den Frauen durch einige Jahrhunderte
von Erziehung Alles machen, was man will, selbst M�nner, freilich
nicht in geschlechtlichem Sinne, aber doch in jedem anderen Sinne. Sie
werden unter einer solchen Einwirkung einmal alle m�nnlichen Tugenden
und St�rken angenommen haben, dabei allerdings auch deren Schw�chen
und Laster mit in den Kauf nehmen m�ssen: so viel, wie gesagt, kann
man erzwingen. Aber wie werden wir den dadurch herbeigef�hrten
Zwischenzustand aushalten, welcher vielleicht selber ein paar
Jahrhunderte dauern kann, w�hrend denen die weiblichen Narrheiten und
Ungerechtigkeiten, ihr uraltes Angebinde, noch die Uebermacht �ber
alles Hinzugewonnene, Angelernte behaupten? Diese Zeit wird es sein,
in welcher der Zorn den eigentlich m�nnlichen Affect ausmacht,
der Zorn dar�ber, dass alle K�nste und Wissenschaften durch einen
unerh�rten Dilettantismus �berschwemmt und verschlammt sind, die
Philosophie durch sinnverwirrendes Geschw�tz zu Tode geredet, die
Politik phantastischer und parteiischer als je, die Gesellschaft in
voller Aufl�sung ist, weil die Bewahrerinnen der alten Sitte sich
selber l�cherlich geworden und in jeder Beziehung ausser der Sitte zu
stehen bestrebt sind. Hatten n�mlich die Frauen ihre gr�sste Macht in
der Sitte, wonach werden sie greifen m�ssen, um eine �hnliche F�lle
der Macht wiederzugewinnen, nachdem sie die Sitte aufgegeben haben?


426.

Freigeist und Ehe. - Ob die Freigeister mit Frauen leben werden? Im
Allgemeinen glaube ich, dass sie, gleich den wahrsagenden V�geln des
Alterthums, als die Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden der Gegenwart es
vorziehen m�ssen, allein zu fliegen.


427.

Gl�ck der Ehe. - Alles Gewohnte zieht ein immer fester werdendes Netz
von Spinneweben um uns zusammen; und alsobald merken wir, dass die
F�den zu Stricken geworden sind und dass wir selber als Spinne in der
Mitte sitzen, die sich hier gefangen hat und von ihrem eigenen Blute
zehren muss. Desshalb hasst der Freigeist alle Gew�hnungen und Regeln,
alles Dauernde und Definitive, desshalb reisst er, mit Schmerz, das
Netz um sich immer wieder auseinander: wiewohl er in Folge dessen an
zahlreichen kleinen und grossen Wunden leiden wird, - denn jene F�den
muss er von sich, von seinem Leibe, seiner Seele abreissen. Er muss
dort lieben lernen, wo er bisher hasste, und umgekehrt. Ja es darf
f�r ihn nichts Unm�gliches sein, auf das selbe Feld Drachenz�hne
auszus�en, auf welches er vorher die F�llh�rner seiner G�te ausstr�men
liess. - Daraus l�sst sich abnehmen, ob er f�r das Gl�ck der Ehe
geschaffen ist.


428.

Zunahe. - Leben wir zu nahe mit einem Menschen zusammen, so geht es
uns so, wie wenn wir einen guten Kupferstich immer wieder mit blossen
Fingern anfassen: eines Tages haben wir schlechtes beschmutztes Papier
und Nichts weiter mehr in den H�nden. Auch die Seele eines Menschen
wird durch best�ndiges Angreifen endlich abgegriffen; mindestens
erscheint sie uns endlich so, - wir sehen ihre urspr�ngliche
Zeichnung und Sch�nheit nie wieder. - Man verliert immer durch den
allzuvertraulichen Umgang mit Frauen und Freunden; und mitunter
verliert man die Perle seines Lebens dabei.


429.

Die goldene Wiege. - Der Freigeist wird immer aufathmen, wenn er sich
endlich entschlossen hat, jenes mutterhafte Sorgen und Bewachen, mit
welchem die Frauen um ihn walten, von sich abzusch�tteln. Was schadet
ihm denn ein rauherer Luftzug, den man so �ngstlich von ihm wehrte,
was bedeutet ein wirklicher Nachtheil, Verlust, Unfall, eine
Erkrankung, Verschuldung, Beth�rung mehr oder weniger in seinem
Leben, verglichen mit der Unfreiheit der goldenen Wiege, des
Pfauenschweif-Wedels und der dr�ckenden Empfindung, noch dazu dankbar
sein zu m�ssen, weil er wie ein S�ugling gewartet und verw�hnt wird?
Desshalb kann sich die Milch, welche die m�tterliche Gesinnung der ihn
umgebenden Frauen reicht, so leicht in Galle verwandeln.


430.

Freiwilliges Opferthier. - Durch Nichts erleichtern bedeutende Frauen
ihren M�nnern, falls diese ber�hmt und gross sind, das Leben so sehr,
als dadurch dass sie gleichsam das Gef�ss der allgemeinen Ungunst
und gelegentlichen Verstimmung der �brigen Menschen werden. Die
Zeitgenossen pflegen ihren grossen M�nnern viel Fehlgriffe und
Narrheiten, ja Handlungen grober Ungerechtigkeit nachzusehen, wenn
sie nur Jemanden finden, den sie als eigentliches Opferthier zur
Erleichterung ihres Gem�thes misshandeln und schlachten d�rfen. Nicht
selten findet eine Frau den Ehrgeiz in sich, sich zu dieser Opferung
anzubieten, und dann kann freilich der Mann sehr zufrieden sein, -
falls er n�mlich Egoist genug ist, um sich einen solchen freiwilligen
Blitz-, Sturm- und Regenableiter in seiner N�he gefallen zu lassen.


431.

Angenehme Widersacher. - Die naturgem�sse Neigung der Frauen zu
ruhigem, gleichm�ssigem, gl�cklich zusammenstimmendem Dasein und
Verkehren, das Oelgleiche und Beschwichtigende ihrer Wirkungen auf
dem Meere des Lebens, arbeitet unwillk�rlich dem heroischeren inneren
Drange des Freigeistes entgegen. Ohne dass sie es merken, handeln die
Frauen so, als wenn man dem wandernden Mineralogen die Steine vom
Wege nimmt, damit sein Fuss nicht daran stosse, - w�hrend er gerade
ausgezogen ist, um daran zu stossen.


432.

Missklang zweier Consonanzen. - Die Frauen wollen dienen und haben
darin ihr Gl�ck: und der Freigeist will nicht bedient sein und hat
darin sein Gl�ck.


433.

Xanthippe. - Sokrates fand eine Frau, wie er sie brauchte, - aber auch
er h�tte sie nicht gesucht, falls er sie gut genug gekannt h�tte: so
weit w�re auch der Heroismus dieses freien Geistes nicht gegangen.
Thats�chlich trieb ihn Xanthippe in seinen eigenth�mlichen Beruf immer
mehr hinein, indem sie ihm Haus und Heim unh�uslich und unheimlich
machte: sie lehrte ihn, auf den Gassen und �berall dort zu leben,
wo man schw�tzen und m�ssig sein konnte und bildete ihn damit zum
gr�ssten athenischen Gassen-Dialektiker aus: der sich zuletzt selber
mit einer zudringlichen Bremse vergleichen musste, welche dem sch�nen
Pferde Athen von einem Gotte auf den Nacken gesetzt sei, um es nicht
zur Ruhe kommen zu lassen.


434.

F�r die Ferne blind. - Ebenso wie die M�tter eigentlich nur Sinn und
Auge f�r die augen- und sinnf�lligen Schmerzen ihrer Kinder haben, so
verm�gen die Gattinnen hoch strebender M�nner es nicht �ber sich zu
gewinnen, ihre Ehegenossen leidend, darbend und gar missachtet zu
sehen, - w�hrend vielleicht alles diess nicht nur die Wahrzeichen
einer richtigen Wahl ihrer Lebenshaltung, sondern schon die
B�rgschaften daf�r sind, dass ihre grossen Ziele irgendwann einmal
erreicht werden m�ssen. Die Frauen intriguiren im Stillen immer gegen
die h�here Seele ihrer M�nner; sie wollen dieselbe um ihre Zukunft, zu
Gunsten einer schmerzlosen, behaglichen Gegenwart, betr�gen.


435.

Macht und Freiheit. - So hoch Frauen ihre M�nner ehren, so ehren sie
doch die von der Gesellschaft anerkannten Gewalten und Vorstellungen
noch mehr: sie sind seit Jahrtausenden gewohnt, vor allem Herrschenden
geb�ckt, die H�nde auf die Brust gefaltet, einherzugehen und
missbilligen alle Auflehnung gegen die �ffentliche Macht. Desshalb
h�ngen sie sich, ohne es auch nur zu beabsichtigen, vielmehr wie
aus Instinct, als Hemmschuh in die R�der eines freigeisterischen
unabh�ngigen Strebens und machen unter Umst�nden ihre Gatten aufs
H�chste ungeduldig, zumal wenn diese sich noch vorreden, dass Liebe es
sei, was die Frauen im Grunde dabei antreibe. Die Mittel der Frauen
missbilligen und grossm�thig die Motive dieser Mittel ehren, - das ist
M�nner-Art und oft genug M�nner-Verzweiflung.


436.

Ceterum censeo. - Es ist zum Lachen, wenn eine Gesellschaft von
Habenichtsen die Abschaffung des Erbrechts decretirt, und nicht minder
zum Lachen ist es, wenn Kinderlose an der praktischen Gesetzgebung
eines Landes arbeiten: - sie haben ja nicht genug Schwergewicht in
ihrem Schiffe, um sicher in den Ocean der Zukunft hineinsegeln zu
k�nnen. Aber ebenso ungereimt erscheint es, wenn Der, welcher die
allgemeinste Erkenntniss und die Absch�tzung des gesammten Daseins zu
seiner Aufgabe erkoren hat, sich mit pers�nlichen R�cksichten auf eine
Familie, auf Ern�hrung, Sicherung, Achtung von Weib und Kind, belastet
und vor sein Teleskop jenen tr�ben Schleier aufspannt, durch welchen
kaum einige Strahlen der fernen Gestirnwelt hindurchzudringen
verm�gen. So komme auch ich zu dem Satze, dass in den Angelegenheiten
der h�chsten philosophischen Art alle Verheiratheten verd�chtig sind.


437.

Zuletzt. - Es giebt mancherlei Arten von Schierling, und gew�hnlich
findet das Schicksal eine Gelegenheit, dem Freigeiste einen Becher
dieses Giftgetr�nkes an die Lippen zu setzen, - um ihn zu "strafen",
wie dann alle Welt sagt. Was thun dann die Frauen um ihn? Sie werden
schreien und wehklagen und vielleicht die Sonnenuntergangs-Ruhe des
Denkers st�ren: wie sie es im Gef�ngniss von Athen thaten. "O Kriton,
heisse doch jemanden diese Weiber da fortf�hren!" sagte endlich
Sokrates. -




Achtes Hauptst�ck.

Ein Blick auf den Staat.

438.

Um das Wort bitten. - Der demagogische Charakter und die Absicht,
auf die Massen zu wirken, ist gegenw�rtig allen politischen Parteien
gemeinsam: sie alle sind gen�thigt, der genannten Absicht wegen, ihre
Principien zu grossen Alfresco-Dummheiten umzuwandeln und sie so
an die Wand zu malen. Daran ist Nichts mehr zu �ndern, ja es ist
�berfl�ssig, auch nur einen Finger dagegen aufzuheben; denn auf
diesem Gebiete gilt, was Voltaire sagt: quand la populace se m�le de
raisonner, tout est perdu. Seitdem diess geschehen ist, muss man sich
den neuen Bedingungen f�gen, wie man sich f�gt, wenn ein Erdbeben die
alten Gr�nzen und Umrisse der Bodengestalt verr�ckt und den Werth des
Besitzes ver�ndert hat. Ueberdiess: wenn es sich nun einmal bei aller
Politik darum handelt, m�glichst Vielen das Leben ertr�glich zu
machen, so m�gen immerhin diese M�glichst-Vielen auch bestimmen, was
sie unter einem ertr�glichen Leben verstehen; trauen sie sich den
Intellect zu, auch die richtigen Mittel zu diesem Ziele zu finden,
was h�lfe es, daran zu zweifeln? Sie wollen nun einmal ihres Gl�ckes
und Ungl�ckes eigene Schmiede sein; und wenn dieses Gef�hl der
Selbstbestimmung, der Stolz auf die f�nf, sechs Begriffe, welche ihr
Kopf birgt und zu Tage bringt, ihnen in der That das Leben so angenehm
macht, dass sie die fatalen Folgen ihrer Beschr�nktheit gern ertragen:
so ist wenig einzuwenden, vorausgesetzt, dass die Beschr�nktheit nicht
so weit geht, zu verlangen, es solle Alles in diesem Sinne zur Politik
werden, es solle jeder nach solchem Maassstabe leben und wirken.
Zuerst n�mlich muss es Einigen mehr als je, erlaubt sein, sich der
Politik zu enthalten und ein Wenig bei Seite zu treten: dazu treibt
auch sie die Lust an der Selbstbestimmung, und auch ein kleiner Stolz
mag damit verbunden sein, zu schweigen, wenn zu Viele oder �berhaupt
nur Viele reden. Sodann muss man es diesen Wenigen nachsehen, wenn
sie das Gl�ck der Vielen, verstehe man nun darunter V�lker oder
Bev�lkerungsschichten, nicht so wichtig nehmen und sich hie und da
eine ironische Miene zu Schulden kommen lassen; denn ihr Ernst liegt
anderswo, ihr Gl�ck ist ein anderer Begriff, ihr Ziel ist nicht von
jeder plumpen Hand, welche eben nur f�nf Finger hat, zu umspannen.
Endlich kommt - was ihnen gewiss am schwersten zugestanden wird, aber
ebenfalls zugestanden werden muss - von Zeit zu Zeit ein Augenblick,
wo sie aus ihren schweigsamen Vereinsamungen heraustreten und die
Kraft ihrer Lungen wieder einmal versuchen: dann rufen sie n�mlich
einander zu wie Verirrte in einem Walde, um sich einander zu erkennen
zu geben und zu ermuthigen; wobei freilich Mancherlei laut wird, was
den Ohren, f�r welche es nicht bestimmt ist, �bel klingt. - Nun,
bald darauf ist es wieder stille im Walde, so stille, dass man das
Schwirren, Summen und Flattern der zahllosen Insecten, welche in, �ber
und unter ihm leben, wieder deutlich vernimmt. -


439.

Cultur und Kaste. - Eine h�here Cultur kann allein dort entstehen,
wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft giebt: die der
Arbeitenden und die der M�ssigen, zu wahrer Musse Bef�higten; oder
mit st�rkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der
Frei-Arbeit. Der Gesichtspunct der Vertheilung des Gl�cks ist nicht
wesentlich, wenn es sich um die Erzeugung einer h�heren Cultur
handelt; jedenfalls aber ist die Kaste der M�ssigen die
leidensf�higere, leidendere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre
Aufgabe gr�sser. Findet nun gar ein Austausch der beiden Kasten statt,
so, dass die stumpferen, ungeistigeren Familien und Einzelnen aus
der oberen Kaste in die niedere herabgesetzt werden und wiederum die
freieren Menschen aus dieser den Zutritt zur h�heren erlangen: so ist
ein Zustand erreicht, �ber den hinaus man nur noch das offene Meer
unbestimmter W�nsche sieht. - So redet die verklingende Stimme der
alten Zeit zu uns; aber wo sind noch Ohren, sie zu h�ren?


440.

Von Gebl�t. - Das, was M�nner und Frauen von Gebl�t vor Anderen voraus
haben und was ihnen unzweifelhaftes Anrecht auf h�here Sch�tzung
giebt, sind zwei durch Vererbung immer mehr gesteigerte K�nste: die
Kunst, befehlen zu k�nnen, und die Kunst des stolzen Gehorsams. - Nun
entsteht �berall, wo das Befehlen zum Tagesgesch�ft geh�rt (wie in
der grossen Kaufmanns- und Industrie-Welt), etwas Aehnliches wie jene
Geschlechter "von Gebl�t", aber ihnen fehlt die vornehme Haltung im
Gehorsam, welche bei jenen eine Erbschaft feudaler Zust�nde ist und
die in unserem Cultur-Klima nicht mehr wachsen will.


441.

Subordination. - Die Subordination, welche im Milit�r- und
Beamtenstaate so hoch gesch�tzt wird, wird uns bald ebenso unglaublich
werden, wie die geschlossene Taktik der Jesuiten es bereits geworden
ist; und wenn diese Subordination nicht mehr m�glich ist, l�sst sich
eine Menge der erstaunlichsten Wirkungen nicht mehr erreichen, und
die Welt wird �rmer sein. Sie muss schwinden, denn ihr Fundament
schwindet: der Glaube an die unbedingte Autorit�t, an die endg�ltige
Wahrheit; selbst in Milit�rstaaten ist der physische Zwang nicht
ausreichend, sie hervorzubringen, sondern die angeerbte Adoration
vor dem F�rstlichen wie vor etwas Uebermenschlichem. - In freieren
Verh�ltnissen ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, in Folge
gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes.


442.

Volksheere. - Der gr�sste Nachtheil der jetzt so verherrlichten
Volksheere besteht in der Vergeudung von Menschen der h�chsten
Civilisation; nur durch die Gunst aller Verh�ltnisse giebt es deren
�berhaupt, - wie sparsam und �ngstlich sollte man mit ihnen umgehen,
da es grosser Zeitr�ume bedarf, um die zuf�lligen Bedingungen
zur Erzeugung so zart organisirter Gehirne zu schaffen! Aber wie
die Griechen in Griechenblut w�theten, so die Europ�er jetzt
in Europ�erblut: und zwar werden relativ am meisten immer die
H�chstgebildeten zum Opfer gebracht, Die, welche eine reichliche und
gute Nachkommenschaft verb�rgen; Solche n�mlich stehen im Kampfe
voran, als Befehlende, und setzen sich �berdiess, ihres h�heren
Ehrgeizes wegen, den Gefahren am meisten aus. - Der grobe
R�mer-Patriotismus ist jetzt, wo ganz andere und h�here Aufgaben
gestellt sind, als patria und honor, entweder etwas Unehrliches oder
ein Zeichen der Zur�ckgebliebenheit.


443.

Hoffnung als Anmaassung. - Unsere gesellschaftliche Ordnung wird
langsam wegschmelzen, wie es alle fr�heren Ordnungen gethan haben,
sobald die Sonnen neuer Meinungen mit neuer Gluth �ber die Menschen
hinleuchteten. W�nschen kann man diess Wegschmelzen nur, indem man
hofft: und hoffen darf man vern�nftigerweise nur, wenn man sich und
seinesgleichen mehr Kraft in Herz und Kopf zutraut, als den Vertretern
des Bestehenden. Gew�hnlich also wird diese Hoffnung eine Anmaassung,
eine Uebersch�tzung sein.


444.

Krieg. - Zu Ungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Sieger
dumm, den Besiegten boshaft. Zu Gunsten des Krieges: er barbarisirt in
beiden eben genannten Wirkungen und macht dadurch nat�rlicher; er ist
f�r die Cultur Schlaf oder Winterszeit, der Mensch kommt kr�ftiger zum
Guten und B�sen aus ihm heraus.


445.

Im Dienste des F�rsten. - Ein Staatsmann wird, um v�llig r�cksichtslos
handeln zu k�nnen, am besten thun, nicht f�r sich, sondern f�r einen
F�rsten sein Werk auszuf�hren. Von dem Glanze dieser allgemeinen
Uneigenn�tzigkeit wird das Auge des Beschauers geblendet, so dass er
jene T�cken und H�rten, welche das Werk des Staatsmannes mit sich
bringt, nicht sieht.


446.

Eine Frage der Macht, nicht des Rechtes. - F�r Menschen, welche bei
jeder Sache den h�heren Nutzen in's Auge fassen, giebt es bei dem
Socialismus, falls er wirklich die Erhebung der Jahrtausende lang
Gedr�ckten, Niedergehaltenen gegen ihre Unterdr�cker ist, kein Problem
des Rechtes (mit der l�cherlichen, weichlichen Frage: "wie weit soll
man seinen Forderungen nachgeben?"), sondern nur ein Problem der Macht
("wie weit kann man seine Forderungen benutzen?"); also wie bei einer
Naturmacht, zum Beispiel dem Dampfe, welcher entweder von dem Menschen
in seine Dienste, als Maschinengott, gezwungen wird, oder, bei Fehlern
der Maschine, das heisst Fehlern der menschlichen Berechnung im Bau
derselben, sie und den Menschen mit zertr�mmert. Um jene Machtfrage
zu l�sen, muss man wissen, wie stark der Socialismus ist, in welcher
Modification er noch als m�chtiger Hebel innerhalb des jetzigen
politischen Kr�ftespiels benutzt werden kann; unter Umst�nden m�sste
man selbst Alles thun, ihn zu kr�ftigen. Die Menschheit muss bei jeder
grossen Kraft - und sei es die gef�hrlichste - daran denken, aus ihr
ein Werkzeug ihrer Absichten zu machen. - Ein Recht gewinnt sich
der Socialismus erst dann, wenn es zwischen den beiden M�chten, den
Vertretern des Alten und Neuen, zum Kriege gekommen zu sein scheint,
wenn aber dann das kluge Rechnen auf m�glichste Erhaltung und
Zutr�glichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem
Vertrag entstehen l�sst. Ohne Vertrag kein Recht. Bis jetzt giebt es
aber auf dem bezeichneten Gebiete weder Krieg, noch Vertr�ge, also
auch keine Rechte, kein "Sollen".


447.

Benutzung der kleinsten Unredlichkeit. - Die Macht der Presse besteht
darin, dass jeder Einzelne, der ihr dient, sich nur ganz wenig
verpflichtet und verbunden f�hlt. Er sagt f�r gew�hnlich seine
Meinung, aber sagt sie einmal auch nicht, um seiner Partei oder der
Politik seines Landes oder endlich sich selbst zu n�tzen. Solche
kleine Vergehen der Unredlichkeit oder vielleicht nur einer
unredlichen Verschwiegenheit sind von dem Einzelnen nicht schwer zu
tragen, doch sind die Folgen ausserordentlich, weil diese kleinen
Vergehen von Vielen zu gleicher Zeit begangen werden. Jeder von Diesen
sagt sich: "f�r so geringe Dienste lebe ich besser, kann ich mein
Auskommen finden; durch den Mangel solcher kleinen R�cksichten mache
ich mich unm�glich". Weil es beinahe sittlich gleichg�ltig erscheint,
eine Zeile, noch dazu vielleicht ohne Namensunterschrift, mehr zu
schreiben oder nicht zu schreiben, so kann Einer, der Geld und
Einfluss hat, jede Meinung zur �ffentlichen machen. Wer da weiss, dass
die meisten Menschen in Kleinigkeiten schwach sind, und seine eigenen
Zwecke durch sie erreichen will, ist immer ein gef�hrlicher Mensch.


448.

Allzu lauter Ton bei Beschwerden. - Dadurch, dass ein Nothstand
(zum Beispiel die Gebrechen einer Verwaltung, Bestechlichkeit und
Gunstwillk�r in politischen oder gelehrten K�rperschaften) stark
�bertrieben dargestellt wird, verliert zwar die Darstellung bei
den Einsichtigen ihre Wirkung, aber wirkt um so st�rker auf die
Nichteinsichtigen (welche bei einer sorgsamen maassvollen Darlegung
gleichg�ltig geblieben w�ren). Da diese aber bedeutend in der Mehrzahl
sind und st�rkere Willenskr�fte, ungest�mere Lust zum Handeln in sich
beherbergen, so wird jene Uebertreibung zum Anlass von Untersuchungen,
Bestrafungen, Versprechen, Reorganisationen. - Insofern ist es
n�tzlich, Nothst�nde �bertrieben darzustellen.


449.

Die anscheinenden Wettermacher der Politik. - Wie das Volk bei Dem,
welcher sich auf das Wetter versteht und es um einen Tag voraussagt,
im Stillen annimmt, dass er das Wetter mache, so legen selbst
Gebildete und Gelehrte mit einem Aufwand von abergl�ubischem
Glauben grossen Staatsm�nnern alle die wichtigen Ver�nderungen und
Conjuncturen, welche w�hrend ihrer Regierung eintraten, als deren
eigenstes Werk bei, wenn es nur ersichtlich ist, dass jene Etwas davon
eher wussten, als Andere, und ihre Berechnung darnach machten: sie
werden also ebenfalls als Wettermacher genommen - und dieser Glaube
ist nicht das geringste Werkzeug ihrer Macht.


450.

Neuer und alter Begriff der Regierung. - Zwischen Regierung und
Volk so zu scheiden, als ob hier zwei getrennte Machtsph�ren, eine
st�rkere, h�here mit einer schw�cheren, niederen, verhandelten und
sich vereinbarten, ist ein St�ck vererbter politischer Empfindung,
welches der historischen Feststellung der Machtverh�ltnisse in den in
eisten Staaten noch jetzt genau entspricht. Wenn zum Beispiel Bismarck
die constitutionelle Form als einen Compromiss zwischen Regierung
und Volk bezeichnet, so redet er gem�ss einem Princip, welches seine
Vernunft- in der Geschichte hat (ebendaher freilich auch den Beisatz
von Unvernunft, ohne den nichts Menschliches existiren kann). Dagegen
soll man nun lernen - gem�ss einem Princip, welches rein aus dem Kopfe
entsprungen ist und erst Geschichte machen soll -, dass Regierung
Nichts als ein Organ des Volkes sei, nicht ein vorsorgliches,
verehrungsw�rdiges "Oben" im Verh�ltniss zu einem an Bescheidenheit
gew�hnten "Unten". Bevor man diese bis jetzt unhistorische und
willk�rliche, wenn auch logischere Aufstellung des Begriffs Regierung
annimmt, m�ge man doch ja die Folgen erw�gen: denn das Verh�ltniss
zwischen Volk und Regierung ist das st�rkste vorbildliche Verh�ltniss,
nach dessen Muster sich unwillk�rlich der Verkehr zwischen Lehrer und
Sch�ler, Hausherrn und Dienerschaft, Vater und Familie, Heerf�hrer und
Soldat, Meister und Lehrling bildet. Alle diese Verh�ltnisse gestalten
sich jetzt, unter dem Einflusse der herrschenden constitutionellen
Regierungsform, ein Wenig um - sie werden Compromisse. Aber wie m�ssen
sie sich verkehren und verschieben, Namen und Wesen wechseln, wenn
jener allerneueste Begriff �berall sich der K�pfe bemeistert hat! -
wozu es aber wohl ein Jahrhundert noch brauchen d�rfte. Hierbei ist
Nichts mehr zu w�nschen, als Vorsicht und langsame Entwickelung.


451.

Gerechtigkeit als Parteien-Lockruf. - Wohl k�nnen edle (wenn auch
nicht gerade sehr einsichtsvolle) Vertreter der berrschenden Classe
sich geloben: "wir wollen die Menschen als gleich behandeln, ihnen
gleiche Rechte zugestehen"; insofern ist eine socialistische
Denkungsweise, welche auf Gerechtigkeit ruht, m�glich, aber wie gesagt
nur innerhalb der herrschenden Classe, welche in diesem Falle die
Gerechtigkeit mit Opfern und Verleugnungen �bt. Dagegen Gleichheit
der Rechte fordern, wie es die Socialisten der unterworfenen Kaste
thun, ist nimmermehr der Ausfluss der Gerechtigkeit, sondern der
Begehrlichkeit. - Wenn man der Bestie blutige Fleischst�cke aus der
N�he zeigt und wieder wegzieht, bis sie endlich br�llt: meint ihr,
dass diess Gebr�ll Gerechtigkeit bedeute?


452.

Besitz und Gerechtigkeit. - Wenn die Socialisten nachweisen, dass die
Eigenthums-Vertheilung in der gegenw�rtigen Menschheit die Consequenz
zahlloser Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist, und in summa die
Verpflichtung gegen etwas so unrecht Begr�ndetes ablehnen: so sehen
sie nur etwas Einzelnes. Die ganze Vergangenheit der alten Cultur ist
auf Gewalt, Sclaverei, Betrug, Irrthum aufgebaut; wir k�nnen aber uns
selbst, die Erben aller dieser Zust�nde, ja die Concrescenzen aller
jener Vergangenheit, nicht wegdecretiren und d�rfen nicht ein
einzelnes St�ck herausziehen wollen. Die ungerechte Gesinnung steckt
in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als
die Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht, denn irgend
wann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen. Nicht gewaltsame neue
Vertheilungen, sondern allm�hliche Umschaffungen des Sinnes thun noth,
die Gerechtigkeit muss in Allen gr�sser werden, der gewaltth�tige
Instinct schw�cher.


453.

Der Steuermann der Leidenschaften. - Der Staatsmann erzeugt
�ffentliche Leidenschaften, um den Gewinn von der dadurch erweckten
Gegenleidenschaft zu haben. Um ein Beispiel zu nehmen: so weiss ein
deutscher Staatsmann wohl, dass die katholische Kirche niemals mit
Russland gleiche Pl�ne haben wird, ja sich viel lieber mit den T�rken
verb�nden w�rde, als mit ihm; ebenso weiss er, dass Deutschland alle
Gefahr von einem B�ndnisse Frankreichs mit Russland droht. Kann er es
nun dazu bringen, Frankreich zum Herd und Hort der katholischen Kirche
zu machen, so hat er diese Gefahr auf eine lange Zeit beseitigt. Er
hat demnach ein Interesse daran, Hass gegen die Katholiken zu zeigen
und durch Feindseligkeiten aller Art die Bekenner der Autorit�t des
Papstes in eine leidenschaftliche politische Macht zu verwandeln,
welche der deutschen Politik feindlich ist und sich naturgem�ss mit
Frankreich, als dem Widersacher Deutschlands, verschmelzen muss: sein
Ziel ist ebenso nothwendig die Katholisirung Frankreichs, als Mirabeau
in der Dekatholisirung das Heil seines Vaterlandes sah. - Der eine
Staat will also die Verdunkelung von Millionen K�pfen eines anderen
Staates, um seinen Vortheil aus dieser Verdunkelung zu ziehen. Es ist
diess die selbe Gesinnung, welche die republicanische Regierungsform
des nachbarlichen Staates - le d�sordre organis�, wie M�rimee sagt -
aus dem alleinigen Grunde unterst�tzt, weil sie von dieser annimmt,
dass sie das Volk schw�cher, zerrissener und kriegsunf�higer mache.


454.

Die Gef�hrlichen unter den Umsturz-Geistern. - Man theile Die, welche
auf einen Umsturz der Gesellschaft bedacht sind, in Solche ein, welche
f�r sich selbst, und in Solche, welche f�r ihre Kinder und Enkel Etwas
erreichen wollen. Die Letzteren sind die Gef�hrlicheren; denn sie
haben den Glauben und das gute Gewissen der Uneigenn�tzigkeit. Die
Anderen kann man abspeisen: dazu ist die herrschende Gesellschaft
immer noch reich und klug genug. Die Gefahr beginnt, sobald die Ziele
unpers�nlich werden; die Revolution�re aus unpers�nlichem Interesse
d�rfen alle Vertheidiger des Bestehenden als pers�nlich interessirt
ansehen und sich desshalb ihnen �berlegen f�hlen.


455.

Politischer Werth der Vaterschaft. - Wenn der Mensch keine S�hne hat,
so hat er kein volles Recht, �ber die Bed�rfnisse eines einzelnen
Staatswesens mitzureden. Man muss selber mit den Anderen sein Liebstes
daran gewagt haben; das erst bindet an den Staat fest; man muss das
Gl�ck seiner Nachkommen in's Auge fassen, also vor Allem Nachkommen
haben, um an allen Institutionen und deren Ver�nderung rechten,
nat�rlichen Antheil zu nehmen. Die Entwickelung der h�hern Moral h�ngt
daran, dass Einer S�hne hat; diess stimmt ihn unegoistisch, oder
richtiger: es erweitert seinen Egoismus der Zeitdauer nach, und
l�sst ihn Ziele �ber seine individuelle Lebensl�nge hinaus mit Ernst
verfolgen.


456.

Ahnenstolz. - Auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zum Vater
herauf darf man mit Recht stolz sein, - nicht aber auf die Reihe;
denn diese hat jeder. Die Herkunft von guten Ahnen macht den �chten
Geburtsadel aus; eine einzige Unterbrechung in jener Kette, Ein
b�ser Vorfahr also hebt den Geburtsadel auf. Man soll jeden, welcher
von seinem Adel redet, fragen: hast du keinen gewaltth�tigen,
habs�chtigen, ausschweifenden, boshaften, grausamen Menschen unter
deinen Vorfahren? Kann er darauf in gutem Wissen und Gewissen mit Nein
antworten, so bewerbe man sich um seine Freundschaft.


457.

Sclaven und Arbeiter. - Dass wir mehr Werth auf Befriedigung der
Eitelkeit, als auf alles �brige Wohlbefinden (Sicherheit, Unterkommen,
Vergn�gen aller Art) legen, zeigt sich in einem l�cherlichen Grade
daran, dass jedermann (abgesehen von politischen Gr�nden) die
Aufhebung der Sclaverei w�nscht und es auf's Aergste verabscheut,
Menschen in diese Lage zu bringen: w�hrend jeder sich sagen muss,
dass die Sclaven in allen Beziehungen sicherer und gl�cklicher leben,
als der moderne Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig Arbeit im
Verh�ltniss zu der des "Arbeiters" ist. Man protestirt im Namen
der "Menschenw�rde": das ist aber, schlichter ausgedr�ckt, jene
liebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleich-gestelltsein, das
Oeffentlich-niedriger-gesch�tzt-werden, als das h�rteste Loos
empfindet. - Der Cyniker denkt anders dar�ber, weil er die Ehre
verachtet: - und so war Diogenes eine Zeitlang Sclave und Hauslehrer.


458.

Leitende Geister und ihre Werkzeuge. - Wir sehen grosse Staatsm�nner
und �berhaupt alle Die, welche sich vieler Menschen zur Durchf�hrung
ihrer Pl�ne bedienen m�ssen, bald so, bald so verfahren: entweder
w�hlen sie sehr fein und sorgsam die zu ihren Pl�nen passenden
Menschen aus und lassen ihnen dann verh�ltnissm�ssige grosse Freiheit,
weil sie wissen, dass die Natur dieser Ausgew�hlten sie eben dahin
treibt, wohin sie selber Jene haben wollen; oder sie w�hlen schlecht,
ja nehmen was ihnen unter die Hand kommt, formen aber aus jedem
Thone etwas f�r ihre Zwecke Taugliches. Diese letzte Art ist
die gewaltsamere, sie begehrt auch unterw�rfigere Werkzeuge;
ihre Menschenkenntniss ist gew�hnlich viel geringer, ihre
Menschenverachtung gr�sser, als bei den erstgenannten Geistern, aber
die Maschine, welche sie construiren, arbeitet gemeinhin besser, als
die Maschine aus der Werkst�tte jener.


459.

Willk�rliches Recht nothwendig. - Die Juristen streiten, ob das
am vollst�ndigsten durchgedachte Recht oder das am leichtesten
zu verstehende in einem Volke zum Siege kommen solle. Das erste,
dessen h�chstes Muster das r�mische ist, erscheint dem Laien
als unverst�ndlich und desshalb nicht als Ausdruck seiner
Rechtsempfindung. Die Volksrechte, wie zum Beispiel die germanischen,
waren grob, abergl�ubisch, unlogisch, zum Theil albern, aber
sie entsprachen ganz bestimmten vererbten heimischen Sitten und
Empfindungen. - Wo aber Recht nicht mehr, wie bei uns, Herkommen ist,
da kann es nur befohlen, Zwang sein; wir haben Alle kein herk�mmliches
Rechtsgef�hl mehr, desshalb m�ssen wir uns Willk�rsrechte gefallen
lassen, die der Ausdruck der Nothwendigkeit sind, dass es ein Recht
geben m�sse. Das logischste ist dann jedenfalls das annehmbarste, weil
es das unparteilichste ist: zugegeben selbst, dass in jedem Falle
die kleinste Maasseinheit im Verh�ltniss von Vergehen und Strafe
willk�rlich angesetzt ist.


460.

Der grosse Mann der Masse. - Das Recept zu dem, was die Masse einen
grossen Mann nennt, ist leicht gegeben. Unter allen Umst�nden
verschaffe man ihr Etwas, das ihr sehr angenehm ist, oder setze ihr
erst in den Kopf, dass diess und jenes sehr angenehm w�re, und gebe
es ihr dann. Doch um keinen Preis sofort: sondern man erk�mpfe es mit
gr�sster Anstrengung oder scheine es zu erk�mpfen. Die Masse muss den
Eindruck haben, dass eine m�chtige, ja unbezwingliche Willenskraft
da sei; mindestens muss sie da zu sein scheinen. Den starken Willen
bewundert jedermann, weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt,
dass, wenn er ihn h�tte, es f�r ihn und seinen Egoismus keine Gr�nze
mehr g�be. Zeigt sich nun, dass ein solcher starker Wille etwas
der Masse sehr Angenehmes bewirkt, statt auf die W�nsche seiner
Begehrlichkeit zu h�ren, so bewundert man noch einmal und w�nscht sich
selber Gl�ck. Im Uebrigen habe er alle Eigenschaften der Masse: um so
weniger sch�mt sie sich vor ihm, um so mehr ist er popul�r. Also: er
sei gewaltth�tig, neidisch, ausbeuterisch, intrigant, schmeichlerisch,
kriechend, aufgeblasen, je nach Umst�nden alles.


461.

F�rst und Gott. - Die Menschen verkehren mit ihren F�rsten vielfach in
�hnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der F�rst
der Repr�sentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese
fast unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und
ist viel schw�cher geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet
sich an m�chtige Personen, �berhaupt. Der Cultus des Genius' ist ein
Nachklang dieser G�tter-F�rsten-Verehrung. Ueberall, wo man sich
bestrebt, einzelne Menschen in das Uebermenschliche hinaufzuheben,
entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher und
niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind.


462.

Meine Utopie. - In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die
schwere Arbeit und Noth des Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am
wenigsten durch sie leidet, also dem Stumpfesten, und so schrittweise
aufw�rts bis zu Dem, welcher f�r die h�chsten sublimirtesten Gattungen
des Leidens am empfindlichsten ist und desshalb selbst noch bei der
gr�ssten Erleichterung des Lebens leidet.


463.

Ein Wahn in der Lehre vom Umsturz. - Es giebt politische und sociale
Phantasten, welche feurig und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen
auffordern, in dem Glauben, dass dann sofort das stolzeste Tempelhaus
sch�nen Menschenthums gleichsam von selbst sich erheben werde. In
diesen gef�hrlichen Tr�umen klingt noch der Aberglaube Rousseau's
nach, welcher an eine wundergleiche, urspr�ngliche, aber gleichsam
versch�ttete G�te der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen
der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld jener
Versch�ttung beimisst. Leider weiss man aus historischen Erfahrungen,
dass jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die l�ngst
begrabenen Furchtbarkeiten und Maasslosigkeiten fernster Zeitalter
von Neuem zur Auferstehung bringt: dass also ein Umsturz wohl eine
Kraftquelle in einer mattgewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr
aber ein Ordner, Baumeister, K�nstler, Vollender der menschlichen
Natur. - Nicht Voltaire's maassvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen
zugeneigte Natur, sondern Rousseau's leidenschaftliche Thorheiten und
Halbl�gen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen,
gegen den ich rufe: "Ecrasez l'infame!" Durch ihn ist der Geist der
Aufkl�rung und der fortschreitenden Entwickelung auf lange verscheucht
worden - sehen wir zu - ein Jeder bei sich selber - ob es m�glich ist,
ihn wieder zur�ckzurufen!


464.

Maass. - Die volle Entschiedenheit des Denkens und Forschens, also
die Freigeisterei, zur Eigenschaft des Charakters geworden, macht im
Handeln m�ssig: denn sie schw�cht die Begehrlichkeit, zieht viel von
der vorhandenen Energie an sich, zur F�rderung geistiger Zwecke, und
zeigt das Halbn�tzliche oder Unn�tze und Gef�hrliche aller pl�tzlichen
Ver�nderungen.


465.

Auferstehung des Geistes. - Auf dem politischen Krankenbette verj�ngt
ein Volk gew�hnlich sich selbst und findet seinen Geist wieder, den
es im Suchen und Behaupten der Macht allm�hlich verlor. Die Cultur
verdankt das Allerh�chste den politisch geschw�chten Zeiten.


466.

Neue Meinungen im alten Hause. - Dem Umsturz der Meinungen folgt der
Umsturz der Institutionen nicht sofort nach, vielmehr wohnen die neuen
Meinungen lange Zeit im ver�deten und unheimlich gewordenen Hause
ihrer Vorg�ngerinnen und conserviren es selbst, aus Wohnungsnoth.


467.

Schulwesen. - Das Schulwesen wird in grossen Staaten immer h�chstens
mittelm�ssig sein, aus dem selben Grunde, aus dem in grossen K�chen
besten Falls mittelm�ssig gekocht wird.


468.

Unschuldige Corruption. - In allen Instituten, in welche nicht
die scharfe Luft der �ffentlichen Kritik hineinweht, w�chst eine
unschuldige Corruption auf, wie ein Pilz (also zum Beispiel in
gelehrten K�rperschaften und Senaten).


469.

Gelehrte als Politiker. - Gelehrten, welche Politiker werden, wird
gew�hnlich die komische Rolle zugetheilt, das gute Gewissen einer
Politik sein zu m�ssen.


470.

Der Wolf hinter dem Schafe versteckt. - Fast jeder Politiker hat unter
gewissen Umst�nden einmal einen ehrlichen Mann so n�thig, dass er,
gleich einem heisshungrigen Wolfe, in einen Schafstall bricht: nicht
aber um dann den geraubten Widder zu fressen, sondern um sich hinter
seinen wolligen R�cken zu verstecken.


471.

Gl�ckszeiten. - Ein gl�ckliches Zeitalter ist desshalb gar nicht
m�glich, weil die Menschen es nur w�nschen wollen, aber nicht haben
wollen und jeder Einzelne, wenn ihm gute Tage kommen, f�rmlich um
Unruhe und Elend beten lernt. Das Schicksal der Menschen ist auf
gl�ckliche Augenblicke eingerichtet - jedes Leben hat solche -,
aber nicht auf gl�ckliche Zeiten. Trotzdem werden diese als "das
jenseits der Berge" in der Phantasie des Menschen bestehen bleiben,
als Erbst�ck der Urv�ter; denn man hat wohl den Begriff des
Gl�ckszeitalters seit uralten Zeiten her jenem Zustande entnommen, in
dem der Mensch, nach gewaltiger Anstrengung durch Jagd und Krieg, sich
der Ruhe �bergiebt, die Glieder streckt und die Fittige des Schlafes
um sich rauschen h�rt. Es ist ein falscher Schluss, wenn der Mensch
jener alten Gew�hnung gem�ss sich vorstellt, dass er nun auch nach
ganzen Zeitr�umen der Noth und M�hsal eines Zustandes des Gl�cks in
entsprechender Steigerung und Dauer theilhaftig werden k�nne.


472.

Religion und Regierung. - Solange der Staat oder, deutlicher, die
Regierung sich als Vormund zu Gunsten einer unm�ndigen Menge bestellt
weiss und um ihretwillen die Frage erw�gt, ob die Religion zu erhalten
oder zu beseitigen sei: wird sie h�chst wahrscheinlich sich immer f�r
die Erhaltung der Religion entscheiden. Denn die Religion befriedigt
das einzelne Gem�th in Zeiten des Verlustes, der Entbehrung, des
Schreckens, des Misstrauens, also da, wo die Regierung sich ausser
Stande f�hlt, direct Etwas zur Linderung der seelischen Leiden des
Privatmannes zu thun: ja selbst bei allgemeinen, unvermeidlichen und
zun�chst unabwendbaren Uebeln (Hungersn�then, Geldkrisen, Kriegen)
gew�hrt die Religion eine beruhigte, abwartende, vertrauende Haltung
der Menge. Ueberall, wo die nothwendigen oder zuf�lligen M�ngel der
Staatsregierung oder die gef�hrlichen Consequenzen dynastischer
Interessen dem Einsichtigen sich bemerklich machen und ihn
widersp�nstig stimmen, werden die Nicht-Einsichtigen den Finger Gottes
zu sehen meinen und sich in Geduld den Anordnungen von Oben (in
welchem Begriff g�ttliche und menschliche Regierungsweise gew�hnlich
verschmelzen) unterwerfen: so wird der innere b�rgerliche Frieden und
die Continuit�t der Entwickelung gewahrt. Die Macht, welche in der
Einheit der Volksempfindung, in gleichen Meinungen und Zielen f�r
Alle, liegt, wird durch die Religion besch�tzt und besiegelt,
jene seltenen F�lle abgerechnet, wo eine Priesterschaft mit der
Staatsgewalt sich �ber den Preis nicht einigen kann und in Kampf
tritt. F�r gew�hnlich wird der Staat sich die Priester zu gewinnen
wissen, weil er ihrer allerprivatesten, verborgenen Erziehung der
Seelen ben�thigt ist und Diener zu sch�tzen weiss, welche scheinbar
und �usserlich ein ganz anderes Interesse vertreten. Ohne Beih�lfe
der Priester kann auch jetzt noch keine Macht "legitim" werden: wie
Napoleon begriff. - So gehen absolute vormundschaftliche Regierung und
sorgsame Erhaltung der Religion nothwendig mit einander. Dabei ist
vorauszusetzen, dass die regierenden Personen und Classen �ber den
Nutzen, welchen ihnen die Religion gew�hrt, aufgekl�rt werden und
somit bis zu einem Grade sich ihr �berlegen f�hlen, insofern sie
dieselbe als Mittel gebrauchen: wesshalb hier die Freigeisterei ihren
Ursprung hat. - Wie aber, wenn jene ganz verschiedene Auffassung des
Begriffes der Regierung, wie sie in demokratischen Staaten gelehrt
wird, durchzudringen anf�ngt? Wenn man in ihr Nichts als das Werkzeug
des Volkswillen sieht, kein Oben im Vergleich zu einem Unten, sondern
lediglich eine Function des alleinigen Souverains, des Volkes? Hier
kann auch nur die selbe Stellung, welche das Volk zur Religion
einnimmt, von der Regierung eingenommen werden; jede Verbreitung von
Aufkl�rung wird bis in ihre Vertreter hineinklingen m�ssen, eine
Benutzung und Ausbeutung der religi�sen Triebkr�fte und Tr�stungen zu
staatlichen Zwecken wird nicht so leicht m�glich sein (es sei denn,
dass m�chtige Parteif�hrer zeitweilig einen Einfluss �ben, welcher
dem des aufgekl�rten Despotismus �hnlich sieht). Wenn aber der Staat
keinen Nutzen mehr aus der Religion selber ziehen darf oder das Volk
viel zu mannichfach �ber religi�se Dinge denkt, als dass es der
Regierung ein gleichartiges, einheitliches Vorgehen bei religi�sen
Maassregeln gestatten d�rfte, - so wird nothwendig sich der Ausweg
zeigen, die Religion als Privatsache zu behandeln und dem Gewissen
und der Gewohnheit jedes Einzelnen zu �berantworten. Die Folge ist zu
allererst diese, dass das religi�se Empfinden verst�rkt erscheint,
insofern versteckte und unterdr�ckte Regungen desselben, welchen der
Staat unwillk�rlich oder absichtlich keine Lebensluft g�nnte, jetzt
hervorbrechen und bis in's Extreme ausschweifen; sp�ter erweist sich,
dass die Religion von Secten �berwuchert wird und dass eine F�lle
von Drachenz�hnen in dem Augenblicke ges�t worden ist, als man die
Religion zur Privatsache machte. Der Anblick des Streites, die
feindselige Bloslegung aller Schw�chen religi�ser Bekenntnisse l�sst
endlich keinen Ausweg mehr zu, als dass jeder Bessere und Begabtere
die Irreligiosit�t zu seiner Privatsache macht: als welche Gesinnung
nun auch in dem Geiste der regierenden Personen die Ueberhand
bekommt und, fast wider ihren Willen, ihren Maassregeln einen
religionsfeindlichen Charakter giebt. Sobald diess eintritt, wandelt
sich die Stimmung der noch religi�s bewegten Menschen, welche fr�her
den Staat als etwas Halb- oder Ganzheiliges adorirten, in eine
entschieden staatsfeindliche um; sie lauern den Maassregeln der
Regierung auf, suchen zu hemmen, zu kreuzen, zu beunruhigen, so viel
sie k�nnen, und treiben dadurch die Gegenpartei, die irreligi�se,
durch die Hitze ihres Widerspruchs in eine fast fanatische
Begeisterung f�r den Staat hinein; wobei im Stillen noch mitwirkt,
dass in diesen Kreisen die Gem�ther seit der Trennung von der Religion
eine Leere sp�ren und sich vorl�ufig durch die Hingebung an den Staat
einen Ersatz, eine Art von Ausf�llung zu schaffen suchen. Nach diesen,
vielleicht lange dauernden Uebergangsk�mpfen entscheidet es sich
endlich, ob die religi�sen Parteien noch stark genug sind, um einen
alten Zustand heraufzubringen und das Rad zur�ckzudrehen: in welchem
Falle unvermeidlich der aufgekl�rte Despotismus (vielleicht weniger
aufgekl�rt und �ngstlicher, als fr�her) den Staat in die H�nde
bekommt, - oder ob die religionslosen Parteien sich durchsetzen und
die Fortpflanzung ihrer Gegnerschaft, einige Generationen hindurch,
etwa durch Schule und Erziehung, untergraben und endlich unm�glich
machen. Dann aber l�sst auch bei ihnen jene Begeisterung f�r den
Staat nach: immer deutlicher tritt hervor, dass mit jener religi�sen
Adoration, f�r welche er ein Mysterium, eine �berweltliche Stiftung
ist, auch das ehrf�rchtige und piet�tvolle Verh�ltniss zu ihm
ersch�ttert ist. F�rderhin sehen die Einzelnen immer nur die Seite an
ihm, wo er ihnen n�tzlich oder sch�dlich werden kann, und dr�ngen sich
mit allen Mitteln heran, um Einfluss auf ihn zu bekommen. Aber diese
Concurrenz wird bald zu gross, die Menschen und Parteien wechseln zu
schnell, st�rzen sich gegenseitig zu wild vom Berge wieder herab,
nachdem sie kaum oben angelangt sind. Es fehlt allen Maassregeln,
welche von einer Regierung durchgesetzt werden, die B�rgschaft ihrer
Dauer; man scheut vor Unternehmungen zur�ck, welche auf Jahrzehnte,
Jahrhunderte hinaus ein stilles Wachsthum haben m�ssten, um reife
Fr�chte zu zeitigen. Niemand f�hlt eine andere Verpflichtung gegen
ein Gesetz mehr, als die, sich augenblicklich der Gewalt, welche ein
Gesetz einbrachte, zu beugen: sofort geht man aber daran, es durch
eine neue Gewalt, eine neu zu bildende Majorit�t zu unterminiren.
Zuletzt - man kann es mit Sicherheit aussprechen - muss das Misstrauen
gegen alles Regierende, die Einsicht in das Nutzlose und Aufreibende
dieser kurzathmigen K�mpfe die Menschen zu einem ganz neuen
Entschlusse dr�ngen: zur Abschaffung des Staatsbegriffs, zur Aufhebung
des Gegensatzes "privat und �ffentlich". Die Privatgesellschaften
ziehen Schritt vor Schritt die Staatsgesch�fte in sich hinein:
selbst der z�heste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens
�brigbleibt (jene Th�tigkeit zum Beispiel welche die Privaten gegen
die Privaten sicher stellen soll), wird zu allerletzt einmal durch
Privatunternehmer besorgt werden. Die Missachtung, der Verfall und
der Tod des Staates, die Entfesselung der Privatperson (ich h�te mich
zu sagen: des Individuums) ist die Consequenz des demokratischen
Staatsbegriffes; hier liegt seine Mission. Hat er seine Aufgabe
erf�llt - die wie alles Menschliche viel Vernunft und Unvernunft im
Schoosse tr�gt -, sind alle R�ckf�lle der alten Krankheit �berwunden,
so wird ein neues Blatt im Fabelbuche der Menschheit entrollt, auf dem
man allerlei seltsame Historien und vielleicht auch einiges Gute lesen
wird. - Um das Gesagte noch einmal kurz zu sagen: das Interesse der
vormundschaftlichen Regierung und das Interesse der Religion gehen mit
einander Hand in Hand, so dass, wenn letztere abzusterben beginnt,
auch die Grundlage des Staates ersch�ttert wird. Der Glaube an eine
g�ttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der
Existenz des Staates ist religi�sen Ursprungs: schwindet die Religion,
so wird der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren
und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souver�nit�t des Volkes, in
der N�he gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben
auf dem Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen; die moderne
Demokratie ist die historische Form vom Verfall des Staates. - Die
Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall ergiebt, ist aber
nicht in jedem Betracht eine ungl�ckselige: die Klugheit und der
Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten
ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser Kr�fte der Staat nicht mehr
entspricht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine
noch zweckm�ssigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege
�ber den Staat kommen. Wie manche organisirende Gewalt hat
die Menschheit schon absterben sehen, - zum Beispiel die der
Geschlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende lang viel m�chtiger
war, als die Gewalt der Familie, ja l�ngst, bevor diese bestand, schon
waltete und ordnete. Wir selber sehen den bedeutenden Rechts- und
Machtgedanken der Familie, welcher einmal, so weit wie r�misches Wesen
reichte, die Herrschaft besass, immer blasser und ohnm�chtiger werden.
So wird ein sp�teres Geschlecht auch den Staat in einzelnen Strecken
der Erde bedeutungslos werden sehen, - eine Vorstellung, an welche
viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken
k�nnen. An der Verbreitung und Verwirklichung dieser Vorstellung zu
arbeiten, ist freilich ein ander Ding: man muss sehr anmaassend von
seiner Vernunft denken und die Geschichte kaum halb verstehen, um
schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen, - w�hrend noch Niemand die
Samenk�rner aufzeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher
gestreut werden sollen. Vertrauen wir also "der Klugheit und dem
Eigennutz der Menschen", dass jetzt noch der Staat eine gute Weile
bestehen bleibt und zerst�rerische Versuche �bereifriger und
voreiliger Halbwisser abgewiesen werden!


473.

Der Socialismus in Hinsicht auf seine Mittel. - Der Socialismus ist
der phantastische j�ngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den
er beerben will; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstande
reaction�r. Denn er begehrt eine F�lle der Staatsgewalt, wie sie nur
je der Despotismus gehabt hat, ja er �berbietet alles Vergangene
dadurch, dass er die f�rmliche Vernichtung des Individuums anstrebt:
als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und
durch ihn in ein zweckm�ssiges Organ des Gemeinwesens umgebessert
werden soll. Seiner Verwandtschaft wegen erscheint er immer in der
N�he aller excessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische
Socialist Plato am Hofe des sicilischen Tyrannen; er w�nscht (und
bef�rdert unter Umst�nden) den c�sarischen Gewaltstaat dieses
Jahrhunderts, weil er, wie gesagt, sein Erbe werden m�chte. Aber
selbst diese Erbschaft w�rde f�r seine Zwecke nicht ausreichen, er
braucht die allerunterth�nigste Niederwerfung aller B�rger vor dem
unbedingten Staate, wie niemals etwas Gleiches existirt hat; und da er
nicht einmal auf die alte religi�se Piet�t f�r den Staat mehr rechnen
darf, vielmehr an deren Beseitigung unwillk�rlich fortw�hrend arbeiten
muss - n�mlich weil er an der Beseitigung aller bestehenden Staaten
arbeitet -, so kann er sich nur auf kurze Zeiten, durch den �ussersten
Terrorismus, hie und da einmal auf Existenz Hoffnung machen. Desshalb
bereitet er sich im Stillen zu Schreckensherrschaften vor und treibt
den halb gebildeten Massen das Wort "Gerechtigkeit" wie einen Nagel in
den Kopf, um sie ihres Verstandes v�llig zu berauben (nachdem dieser
Verstand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat) und ihnen
f�r das b�se Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu
schaffen. - Der Socialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller
Anh�ufungen von Staatsgewalt recht brutal und eindringlich zu lehren
und insofern vor dem Staate selbst Misstrauen einzufl�ssen. Wenn seine
rauhe Stimme in das Feldgeschrei "so viel Staat wie m�glich" einf�llt,
so wird dieses zun�chst dadurch l�rmender, als je: aber bald dringt
auch das entgegengesetzte mit um so gr�sserer Kraft hervor: "so wenig
Staat wie m�glich".


474.

Die Entwickelung des Geistes, vom Staate gef�rchtet. - Die griechische
Polis war, wie jede organisirende politische Macht, ausschliessend
und misstrauisch gegen das Wachsthum der Bildung, ihr gewaltiger
Grundtrieb zeigte sich fast nur l�hmend und hemmend f�r dieselbe. Sie
wollte keine Geschichte, kein Werden in der Bildung gelten lassen; die
in dem Staatsgesetz festgestellte Erziehung sollte alle Generationen
verpflichten und auf Einer Stufe festhalten. Nicht anders wollte es
sp�ter auch noch Plato f�r seinen idealen Staat. Trotz der Polis
entwickelte sich also die Bildung: indirect freilich und wider Willen
half sie mit, weil die Ehrsucht des Einzelnen in der Polis auf's
H�chste angereizt wurde, so dass er, einmal auf die Bahn geistiger
Ausbildung gerathen, auch in ihr bis in's letzte Extrem fortgieng.
Dagegen soll man sich nicht auf die Verherrlichungsrede des Perikles
berufen: denn sie ist nur ein grosses optimistisches Trugbild �ber den
angeblich nothwendigen Zusammenhang von Polis und athenischer Cultur;
Thukydides l�sst sie, unmittelbar bevor die Nacht �ber Athen kommt
(die Pest und der Abbruch der Tradition), noch einmal wie eine
verkl�rende Abendr�the aufleuchten, bei der man den schlimmen Tag
vergessen soll, der ihr vorangieng.


475.

Der europ�ische Mensch und die Vernichtung der Nationen. - Der Handel
und die Industrie, der B�cher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit
aller h�heren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft,
das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, - diese Umst�nde
bringen nothwendig eine Schw�chung und zuletzt eine Vernichtung der
Nationen, mindestens der europ�ischen, mit sich: so dass aus ihnen
allen, in Folge fortw�hrender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des
europ�ischen Menschen, entstehen muss. Diesem Ziele wirkt jetzt
bewusst oder unbewusst die Abschliessung der Nationen durch Erzeugung
nationaler Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener
Mischung dennoch vorw�rts, trotz jener zeitweiligen Gegenstr�mungen:
dieser k�nstliche Nationalismus ist �brigens so gef�hrlich wie der
k�nstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen
ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen �ber
Viele verh�ngt ist, und braucht List, L�ge und Gewalt, um sich in
Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der V�lker),
wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter
F�rstendynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der
Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man diess einmal
erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europ�er ausgeben
und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei
die Deutschen durch ihre alte bew�hrte Eigenschaft, Dolmetscher und
Vermittler der V�lker zusein, mitzuhelfen verm�gen. - Beil�ufig: das
ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten
vorhanden, insofern hier �berall ihre Thatkr�ftigkeit und h�here
Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht
angeh�uftes Geist- und Willens-Capital, in einem neid- und
hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die
litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen �berhand nimmt -
und zwar je mehr diese sich wieder national geb�rden -, die Juden als
S�ndenb�cke aller m�glichen �ffentlichen und inneren Uebelst�nde zur
Schlachtbank zu f�hren. Sobald es sich nicht mehr um Conservirung
von Nationen, sondern um die Erzeugung einer m�glichst kr�ftigen
europ�ischen Mischrasse handelt, ist der Jude als Ingredienz ebenso
brauchbar und erw�nscht, als irgend ein anderer nationaler Rest.
Unangenehme, ja gef�hrliche Eigenschaften hat jede Nation, jeder
Mensch; es ist grausam, zu verlangen, dass der Jude eine Ausnahme
machen soll. Jene Eigenschaften m�gen sogar bei ihm in besonderem
Maasse gef�hrlich und abschreckend sein; und vielleicht ist
der jugendliche B�rsen-Jude die widerlichste Erfindung des
Menschengeschlechtes �berhaupt. Trotzdem m�chte ich wissen, wie viel
man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, welches,
nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen
V�lkern gehabt hat und dem man den edelsten Menschen (Christus), den
reinsten Weisen (Spinoza), das m�chtigste Buch und das wirkungsvollste
Sittengesetz der Welt verdankt. Ueberdiess: in den dunkelsten Zeiten
des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer
�ber Europa gelagert hatte, waren es j�dische Freidenker, Gelehrte
und Aerzte, welche das Banner der Aufkl�rung und der geistigen
Unabh�ngigkeit unter dem h�rtesten pers�nlichen Zwange festhielten und
Europa gegen Asien vertheidigten; ihren Bem�hungen ist es nicht am
wenigsten zu danken, dass eine nat�rlichere, vernunftgem�ssere und
jedenfalls unmythische Erkl�rung der Welt endlich wieder zum Siege
kommen konnte und dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit
der Aufkl�rung des griechisch-r�mischen Alterthums zusammenkn�pft,
unzerbrochen blieb. Wenn das Christenthum Alles gethan hat, um den
Occident zu orientalisiren, so hat das judenthum wesentlich mit
dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren: was in einem
bestimmten Sinne so viel heisst als Europa's Aufgabe und Geschichte zu
einer Fortsetzung der griechischen zumachen.


476.

Scheinbare Ueberlegenheit des Mittelalters. - Das Mittelalter zeigt
in der Kirche ein Institut mit einem ganz universalen, die gesammte
Menschheit in sich begreifenden Ziele, noch dazu einem solchen,
welches den - vermeintlich - h�chsten Interessen derselben galt:
dagegen gesehen, machen die Ziele der Staaten und Nationen, welche die
neuere Geschichte zeigt, einen beklemmenden Eindruck; sie erscheinen
kleinlich, niedrig, materiell, r�umlich beschr�nkt. Aber dieser
verschiedene Eindruck auf die Phantasie soll unser Urtheil ja nicht
bestimmen; denn jenes universale Institut entsprach erk�nstelten,
auf Fictionen beruhenden Bed�rfnissen, welche es, wo sie noch nicht
vorhanden waren, erst erzeugen musste (Bed�rfniss der Erl�sung); die
neuen Institute helfen wirklichen Nothzust�nden ab; und die Zeit
kommt, wo Institute entstehen, um den gemeinsamen wahren Bed�rfnissen
aller Menschen zu dienen und das phantastische Urbild, die katholische
Kirche, in Schatten und Vergessenheit zu stellen.


477.

Der Krieg unentbehrlich. - Es ist eitel Schw�rmerei und
Sch�nseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar: erst
recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu f�hren.
Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden
V�lkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpers�nliche
Hass, jene M�rder-Kaltbl�tigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame
organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze
Gleichg�ltigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und
das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Ersch�ttern der Seele
ebenso stark und sicher mitgetheilt werden k�nnte, wie diess jeder
grosse Krieg thut: von den hier hervorbrechenden B�chen und Str�men,
welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich w�lzen und
die Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nachher unter
g�nstigen Umst�nden die R�derwerke in den Werkst�tten des Geistes mit
neuer Kraft umgedreht. Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und
Bosheiten durchaus nicht entbehren. - Als die kaiserlich gewordenen
R�mer der Kriege etwas m�de wurden, versuchten sie aus Thierhetzen,
Gladiatorenk�mpfen und Christenverfolgungen sich neue Kraft zu
gewinnen. Die jetzigen Engl�nder, welche im Ganzen auch dem Kriege
abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um
jene entschwindenden Kr�fte neu zu erzeugen: jene gef�hrlichen
Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletterungen, zu
wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst, unternommen, in Wahrheit,
um �bersch�ssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach
Hause zu bringen. Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges
ausfindig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass
eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie
die der jetzigen Europ�er, nicht nur der Kriege, sondern der gr�ssten
und furchtbarsten Kriege - also zeitweiliger R�ckf�lle in die Barbarei
- bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr
Dasein selber einzub�ssen.


478.

Fleiss im S�den und Norden. - Der Fleiss entsteht auf zwei ganz
verschiedene Arten. Die Handwerker im S�den werden fleissig, nicht aus
Erwerbstrieb, sondern aus der best�ndigen Bed�rftigkeit der Anderen.
Weil immer Einer kommt, der ein Pferd beschlagen, einen Wagen
ausbessern lassen will, so ist der Schmied fleissig. K�me Niemand, so
w�rde er auf dem Markte herumlungern. Sich zu ern�hren, das hat in
einem fruchtbaren Lande wenig Noth, dazu brauchte er nur ein sehr
geringes Maass von Arbeit, jedenfalls keinen Fleiss; schliesslich
w�rde er betteln und zufrieden sein. - Der Fleiss englischer Arbeiter
hat dagegen den Erwerbssinn hinter sich: er ist sich seiner selbst und
seiner Ziele bewusst und will mit dem Besitz die Macht, mit der Macht
die gr�sstm�gliche Freiheit und individuelle Vornehmheit.


479.

Reichthum als Ursprung eines Gebl�tsadels. - Der Reichthum erzeugt
nothwendig eine Aristokratie der Rasse, denn er gestattet die
sch�nsten Weiber zu w�hlen, die besten Lehrer zu besolden, er g�nnt
dem Menschen Reinlichkeit, Zeit zu k�rperlichen Uebungen und vor Allem
Abwendung von verdumpfender k�rperlicher Arbeit. Soweit verschafft er
alle Bedingungen, um, in einigen Generationen, die Menschen vornehm
und sch�n sich bewegen, ja selbst handeln zu machen: die gr�ssere
Freiheit des Gem�thes, die Abwesenheit des Erb�rmlich-Kleinen, der
Erniedrigung vor Brodgebern, der Pfennig-Sparsamkeit. - Gerade diese
negativen Eigenschaften sind das reichste Angebinde des Gl�ckes f�r
einen jungen Menschen; ein ganz Armer richtet sich gew�hnlich durch
Vornehmheit der Gesinnung zu Grunde, er kommt nicht vorw�rts und
erwirbt Nichts, seine Rasse ist nicht lebensf�hig. - Dabei ist aber zu
bedenken, dass der Reichthum fast die gleichen Wirkungen aus�bt, wenn
Einer dreihundert Thaler oder dreissigtausend j�hrlich verbrauchen
darf: es giebt nachher keine wesentliche Progression der
beg�nstigenden Umst�nde mehr. Aber weniger zu haben, als Knabe zu
betteln und sich zu erniedrigen, ist furchtbar: obwohl f�r Solche,
welche ihr Gl�ck im Glanze der H�fe, in der Unterordnung unter
M�chtige und Einflussreiche suchen oder welche Kirchenh�upter werden
wollen, es der rechte Ausgangspunct sein mag. (- Es lehrt, geb�ckt
sich in die H�hleng�nge der Gunst einzuschleichen.)


480.

Neid und Tr�gheit in verschiedener Richtung. - Die beiden gegnerischen
Parteien, die socialistische und die nationale - oder wie die Namen
in den verschiedenen L�ndern Europa's lauten m�gen - sind einander
w�rdig: Neid und Faulheit sind die bewegenden M�chte in ihnen beiden.
In jenem Heerlager will man so wenig als m�glich mit den H�nden
arbeiten, in diesem so wenig als m�glich mit dem Kopf; in letzterem
hasst und neidet man die hervorragenden, aus sich wachsenden
Einzelnen, welche sich nicht gutwillig in Reih und Glied zum Zwecke
einer Massenwirkung stellen lassen; in ersterem die bessere,
�usserlich g�nstiger gestellte Kaste der Gesellschaft, deren
eigentliche Aufgabe, die Erzeugung der h�chsten Culturg�ter, das Leben
innerlich um so viel schwerer und schmerzensreicher macht. Gelingt es
freilich, jenen Geist der Massenwirkung zum Geiste der h�heren Classen
der Gesellschaft zu machen, so sind die socialistischen Schaaren
ganz im Rechte, wenn sie auch �usserlich zwischen sich und jenen zu
nivelliren suchen, da sie ja innerlich, in Kopf und Herz, schon mit
einander nivellirt sind. - Lebt als h�here Menschen und thut immerfort
die Thaten der h�heren Cultur, - so gesteht euch Alles, was da lebt,
euer Recht zu, und die Ordnung der Gesellschaft, deren Spitze ihr
seid, ist gegen jeden b�sen Blick und Griff gefeit!


481.

Grosse Politik und ihre Einbussen. - Ebenso wie ein Volk die gr�ssten
Einbussen, welche Krieg und Kriegsbereitschaft mit sich bringen, nicht
durch die Unkosten des Krieges, die Stauungen im Handel und Wandel
erleidet, ebenso nicht durch die Unterhaltung der stehenden Heere - so
gross diese Einbussen auch jetzt sein m�gen, wo acht Staaten Europa's
j�hrlich die Summe von zwei bis drei Milliarden darauf verwenden -,
sondern dadurch, dass Jahr aus Jahr ein die t�chtigsten, kr�ftigsten,
arbeitsamsten M�nner in ausserordentlicher Anzahl ihren eigentlichen
Besch�ftigungen und Berufen entzogen werden, um Soldaten zu sein:
ebenso erleidet ein Volk, welches sich anschickt, grosse Politik zu
treiben und unter den m�chtigsten Staaten sich eine entscheidende
Stimme zu sichern, seine gr�ssten Einbussen nicht darin, worin man
sie gew�hnlich findet. Es ist wahr, dass es von diesem Zeitpuncte ab
fortw�hrend eine Menge der hervorragendsten Talente auf dem "Altar
des Vaterlandes" oder der nationalen Ehrsucht opfert, w�hrend fr�her
diesen Talenten, welche jetzt die Politik verschlingt, andere
Wirkungskreise offen standen. Aber abseits von diesen �ffentlichen
Hekatomben, und im Grunde viel grauenhafter als diese, begiebt
sich ein Schauspiel, welches fortw�hrend in hunderttausend Acten
gleichzeitig sich abspielt: jeder t�chtige, arbeitsame, geistvolle,
strebende Mensch eines solchen nach politischen Ruhmeskr�nzen
l�sternen Volkes wird von dieser L�sternheit beherrscht und geh�rt
seiner eigenen Sache nicht mehr, wie fr�her, v�llig an: die t�glich
neuen Fragen und Sorgen des �ffentlichen Wohles verschlingen eine
t�gliche Abgabe von dem Kopf- und Herz-Capitale jedes B�rgers:
die Summe all dieser Opfer und Einbussen an individueller Energie
und Arbeit ist so ungeheuer, dass das politische Aufbl�hen eines
Volkes eine geistige Verarmung und Ermattung, eine geringere
Leistungsf�higkeit zu Werken, welche grosse Concentration und
Einseitigkeit verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht.
Zuletzt darf man fragen: lohnt sich denn all diese Bl�the und Pracht
des Ganzen (welche ja doch nur als Furcht der anderen Staaten vor
dem neuen Coloss und als dem Auslande abgerungene Beg�nstigung der
nationalen Handels- und Verkehrs-Wohlfahrt zu Tage tritt), wenn
dieser groben und buntschillernden Blume der Nation alle die edleren,
zarteren, geistigeren Pflanzen und Gew�chse, an welchen ihr Boden
bisher so reich war, zum Opfer gebracht werden m�ssen?


482.

Und nochmals gesagt. - Oeffentliche Meinungen - private Faulheiten.




Neuntes Hauptst�ck.

Der Mensch mit sich allein.

483.

Feinde der Wahrheit. - Ueberzeugungen sind gef�hrlichere Feinde der
Wahrheit, als L�gen.


484.

Verkehrte Welt. - Man kritisirt einen Denker sch�rfer, wenn er einen
uns unangenehmen Satz hinstellt; und doch w�re es vem�nftiger, diess
zu thun, wenn sein Satz uns angenehm ist.


485.

Charaktervoll. - Charaktervoll erscheint ein Mensch weit h�ufiger,
weil er immer seinem Temperamente, als weil er immer seinen Principien
folgt.


486.

Das Eine, was Noth thut. - Eins muss man haben: entweder einen von
Natur leichten Sinn oder einen durch Kunst und Wissen erleichterten
Sinn.


487.

Die Leidenschaft f�r Sachen. - Wer seine Leidenschaft auf Sachen
(Wissenschaften, Staatswohl, Culturinteressen, K�nste) richtet,
entzieht seiner Leidenschaft f�r Personen viel Feuer (selbst wenn sie
Vertreter jener Sachen sind, wie Staatsm�nner, Philosophen, K�nstler
Vertreter ihrer Sch�pfungen sind).


488.

Die Ruhe in der That. - Wie ein Wasserfall im Sturz langsamer und
schwebender wird, so pflegt der grosse Mensch der That mit mehr Ruhe
zu handeln, als seine st�rmische Begierde vor der That es erwarten
liess.


489.

Nicht zu tief. - Personen, welche eine Sache in aller Tiefe erfassen,
bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe an's Licht
gebracht: da giebt es immer viel Schlimmes zu sehen.


490.

Wahn der Idealisten. - Alle Idealisten bilden sich ein, die Sachen,
welchen sie dienen, seien wesentlich besser, als die anderen Sachen
in der Welt, und wollen nicht glauben, dass wenn ihre Sache �berhaupt
gedeihen soll, sie genau des selben �bel riechenden D�ngers bedarf,
welchen alle anderen menschlichen Unternehmungen n�thig haben.


491.

Selbstbeobachtung. - Der Mensch ist gegen sich selbst, gegen
Auskundschaftung und Belagerung durch sich selber, sehr gut
vertheidigt, er vermag gew�hnlich nicht mehr von sich, als
seine Aussenwerke wahrzunehmen. Die eigentliche Festung ist ihm
unzug�nglich, selbst unsichtbar, es sei denn, dass Freunde und Feinde
die Verr�ther machen und ihn selber auf geheimem Wege hineinf�hren.


492.

Der richtige Beruf. - M�nner halten selten einen Beruf aus, von dem
sie nicht glauben oder sich einreden, er sei im Grunde wichtiger, als
alle anderen. Ebenso geht es Frauen mit ihren Liebhabern.


493.

Adel der Gesinnung. - Der Adel der Gesinnung besteht zu einem grossen
Teil aus Gutm�thigkeit und Mangel an Misstrauen, und enth�lt also
gerade Das, wor�ber sich die gewinns�chtigen und erfolgreichen
Menschen so gerne mit Ueberlegenheit und Spott ergehen.


494.

Ziel und Wege. - Viele sind hartn�ckig in Bezug auf den einmal
eingeschlagenen Weg, Wenige in Bezug auf das Ziel.


495.

Das Emp�rende an einer individuellen Lebensart. - Alle sehr
individuellen Maassregeln des Lebens bringen die Menschen gegen Den,
der sie ergreift, auf; sie f�hlen sich durch die aussergew�hnliche
Behandlung, welche jener sich angedeihen l�sst, erniedrigt, als
gew�hnliche Wesen.


496.

Vorrecht der Gr�sse. - Es ist das Vorrecht der Gr�sse, mit geringen
Gaben hoch zu begl�cken.


497.

Unwillk�rlich vornehm. - Der Mensch betr�gt sich unwillk�rlich
vornehm, wenn er sich gew�hnt hat, von den Menschen Nichts zu wollen
und ihnen immer zu geben.


498.

Bedingung des Heroenthums. - Wenn Einer zum Helden werden will, so
muss die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm
sein rechter Feind.


499.

Freund. - Mit Freude, nicht Mitleiden, macht den Freund.


500.

Ebbe und Fluth zu benutzen. - Man muss zum Zwecke der Erkenntniss jene
innere Str�mung zu benutzen wissen, welche uns zu einer Sache hinzieht
und wiederum jene, welche uns nach einer Zeit von der Sache fortzieht.


501.

Freude an sich.- "Freude an der Sache" so sagt man: aber in Wahrheit,
ist es Freude an sich vermittelst einer Sache.


502.

Der Bescheidene. - Wer gegen Personen bescheiden ist, zeigt gegen
Sachen (Stadt, Staat, Gesellschaft, Zeit, Menschheit) um so st�rker
seine Anmaassung. Das ist seine Rache.


503.

Neid und Eifersucht. - Neid und Eifersucht sind die Schamtheile der
menschlichen Seele. Die Vergleichung kann vielleicht fortgesetzt
werden.


504.

Der vornehmste Heuchler. - Gar nicht von sich zu reden, ist eine sehr
vornehme Heuchelei.


505.

Verdruss. - Der Verdruss ist eine k�rperliche Krankheit, welche
keineswegs dadurch schon gehoben ist, dass die Veranlassung zum
Verdruss hinterdrein beseitigt wird.


506.

Vertreter der Wahrheit. - Nicht wenn es gef�hrlich ist, die Wahrheit
zu sagen, findet sie am seltensten Vertreter, sondern wenn es
langweilig ist.


507.

Beschwerlicher noch, als Feinde. - Die Personen, von deren
sympathischem Verhalten wir nicht unter allen Umst�nden �berzeugt
sind, w�hrend uns irgend ein Grund (z.B. Dankbarkeit) verpflichtet,
den Anschein der unbedingten Sympathie unsererseits aufrecht zu
erhalten, qu�len unsere Phantasie viel mehr, als unsere Feinde.


508.

Die freie Natur. - Wir sind so gern in der freien Natur, weil diese
keine Meinung �ber uns hat.


509.

Jeder in Einer Sache �berlegen. - In civilisirten Verh�ltnissen f�hlt
sich Jeder jedem Anderen in Einer Sache wenigstens �berlegen: darauf
beruht das allgemeine Wohlwollen, insofern Jeder einer ist, der unter
Umst�nden helfen kann und desshalb sich ohne Scham helfen lassen darf.


510.

Trostgr�nde. - Bei einem Todesfall braucht man zumeist Trostgr�nde,
nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes zu lindern, als um zu
entschuldigen, dass man sich so leicht getr�stet f�hlt.


511.

Die Ueberzeugungstreuen. - Wer viel zu thun hat, beh�lt seine
allgemeinen Ansichten und Standpuncte fast unver�ndert bei. Ebenso
jeder, der im Dienst einer Idee arbeitet: er wird die Idee selber
nie mehr pr�fen, dazu hat er keine Zeit mehr; ja es geht gegen sein
Interesse, sie �berhaupt noch f�r discutirbar zu halten.


512.

Moralit�t und Quantit�t. - Die h�here Moralit�t des einen Menschen, im
Vergleich zu der eines anderen, liegt oft nur darin, dass die Ziele
quantitativ gr�sser sind. Jenen zieht die Besch�ftigung mit dem
Kleinen, im engen Kreise, nieder.


513.

Das Leben als Ertrag des Lebens. - Der Mensch mag sich noch so weit
mit seiner Erkenntniss ausrecken, sich selber noch so objectiv
vorkommen: zuletzt tr�gt er doch Nichts davon, als seine eigene
Biographie.


514.

Die eherne Nothwendigkeit. - Die eherne Nothwendigkeit ist ein Ding,
von dem die Menschen im Verlauf der Geschichte einsehen, dass es weder
ehern noch nothwendig ist.


515.

Aus der Erfahrung. - Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen
ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben.


516.

Wahrheit. - Niemand stirbt jetzt an t�dtlichen Wahrheiten: es giebt zu
viele Gegengifte.


517.

Grundeinsicht. - Es giebt keine pr�stabilirte Harmonie zwischen der
F�rderung der Wahrheit und dem Wohle der Menschheit.


518.

Menschenloos. - Wer tiefer denkt, weiss, dass er immer Unrecht hat, er
mag handeln und urtheilen, wie er will.


519.

Wahrheit als Circe. - Der Irrthum hat aus Thieren Menschen gemacht;
sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Thier
zu machen?


520.

Gefahr unserer Cultur. - Wir geh�ren einer Zeit an, deren Cultur in
Gefahr ist, an den Mitteln der Cultur zu Grunde zu gehen.


521.

Gr�sse heisst: Richtung-geben. - Kein Strom ist durch sich selber
gross und reich: sondern dass er so viele Nebenfl�sse aufnimmt und
fortf�hrt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Gr�ssen des
Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt,
welcher dann so viele Zufl�sse folgen m�ssen; nicht darauf, ob er von
Anbeginn arm oder reich begabt ist.


522.

Schwaches Gewissen. - Menschen, welche von ihrer Bedeutung f�r
die Menschheit sprechen, haben in Bezug auf gemeine b�rgerliche
Rechtlichkeit im Halten von Vertr�gen, Versprechungen, ein schwaches
Gewissen.


523.

Geliebt sein wollen. - Die Forderung, geliebt zu werden, ist die
gr�sste der Anmaassungen.


524.

Menschenverachtung. - Das unzweideutigste Anzeichen von einer
Geringsch�tzung der Menschen ist diess, dass man Jedermann nur als
Mittel zu seinem Zwecke oder gar nicht gelten l�sst.


525.

Anh�nger aus Widerspruch. - Wer die Menschen zur Raserei gegen sich
gebracht hat, hat sich immer auch eine Partei zu seinen Gunsten
erworben.


526.

Erlebnisse vergessen. - Wer viel denkt, und zwar sachlich denkt,
vergisst leicht seine eigenen Erlebnisse, aber nicht so die Gedanken,
welche durch jene hervorgerufen wurden.


527.

Festhalten einer Meinung. - Der Eine h�lt eine Meinung fest, weil er
sich Etwas darauf einbildet, von selbst auf sie gekommen zu sein, der
Andere, weil er sie mit M�he gelernt hat und stolz darauf ist, sie
begriffen zu haben: Beide also aus Eitelkeit.


528.

Das Licht scheuen. - Die gute That scheut ebenso �ngstlich das Licht,
als die b�se That: diese f�rchtet, durch das Bekanntwerden komme der
Schmerz (als Strafe), jene f�rchtet, durch das Bekanntwerden schwinde
die Lust (jene reine Lust an sich selbst n�mlich, welche sofort
aufh�rt, sobald eine Befriedigung der Eitelkeit hinzutritt).


529.

Die L�nge des Tages. - Wenn man viel hineinzustecken hat, so hat ein
Tag hundert Taschen.


530.

Tyrannengenie. - Wenn in der Seele eine unbezwingliche Lust dazu rege
ist, sich tyrannisch durchzusetzen, und das Feuer best�ndig unterh�lt,
so wird selbst eine geringe Begabung (bei Politikern, K�nstlern)
allm�hlich zu einer fast unwiderstehlichen Naturgewalt.


531.

Das Leben des Feindes. - Wer davon lebt, einen Feind zu bek�mpfen, hat
ein Interesse daran, dass er am Leben bleibt.


532.

Wichtiger. - Man nimmt die unerkl�rte dunkle Sache wichtiger, als die
erkl�rte helle.


533.

Absch�tzung erwiesener Dienste. - Dienstleistungen, die uns jemand
erweist, sch�tzen wir nach dem Werthe, den Jener darauf legt, nicht
nach dem, welchen sie f�r uns haben.


534.

Ungl�ck. - Die Auszeichnung, welche im Ungl�ck liegt (als ob es ein
Zeichen von Flachheit, Anspruchslosigkeit, Gew�hnlichkeit sei, sich
gl�cklich zu f�hlen), ist so gross, dass wenn Jemand Einem sagt: "Aber
wie gl�cklich Sie sind!" man gew�hnlich protestirt.


535.

Phantasie der Angst. - Die Phantasie der Angst ist jener b�se �ffische
Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den R�cken springt, wenn
er schon am schwersten zu tragen hat.


536.

Werth abgeschmackter Gegner. - Man bleibt mitunter einer Sache nur
desshalb treu, weil ihre Gegner nicht aufh�ren, abgeschmackt zu sein.


537.

Werth eines Berufes. - Ein Beruf macht gedankenlos; darin liegt
sein gr�sster Segen. Denn er ist eine Schutzwehr, hinter welche
man sich, wenn Bedenken und Sorgen allgemeiner Art Einen anfallen,
erlaubtermaassen zur�ckziehen kann.


538.

Talent. - Das Talent manches Menschen erscheint geringer als es ist,
weil er sich immer zu grosse Aufgaben gestellt hat.


539.

Jugend. - Die Jugend ist unangenehm; denn in ihr ist es nicht m�glich
oder nicht vern�nftig, productiv zu sein, in irgend einem Sinne.


540.

Zugrosse Ziele. - Wer sich �ffentlich grosse Ziele stellt und
hinterdrein im Geheimen einsieht, dass er dazu zu schwach ist, hat
gew�hnlich auch nicht Kraft genug, jene Ziele �ffentlich zu widerrufen
und wird dann unvermeidlich zum Heuchler.


541.

Im Strome. - Starke Wasser reissen viel Gestein und Gestr�pp mit sich
fort, starke Geister viel dumme und verworrene K�pfe.


542.

Gefahren der geistigen Befreiung. - Bei der ernstlich gemeinten
geistigen Befreiung eines Menschen hoffen im Stillen auch seine
Leidenschaften und Begierden ihren Vortheil sich zu ersehen.


543.

Verk�rperung des Geistes. - Wenn Einer viel und klug denkt, so bekommt
nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein K�rper ein kluges Aussehen.


544.

Schlecht sehen und schlecht h�ren. - Wer wenig sieht, sieht immer
weniger; wer schlecht h�rt, h�rt immer Einiges noch dazu.


545.

Selbstgenuss in der Eitelkeit. - Der Eitele will nicht sowohl
hervorragen, als sich hervorragend f�hlen, desshalb verschm�ht er kein
Mittel des Selbstbetruges und der Selbst�berlistung. Nicht die Meinung
der Anderen, sondern seine Meinung von Deren Meinung liegt ihm am
Herzen.


546.

Ausnahmsweise eitel. - Der f�r gew�hnlich Selbstgen�gsame ist
ausnahmsweise eitel und f�r Ruhm- und Lobspr�che empf�nglich, wenn
er k�rperlich krank ist. In dem Maasse, in welchem er sich verliert,
muss er sich aus fremder Meinung, von Aussen her, wieder zu gewinnen
suchen.


547.

Die "Geistreichen". - Der hat keinen Geist, welcher den Geist sucht.


548.

Wink f�r Parteih�upter. - Wenn man die Leute dazu treiben kann, sich
�ffentlich f�r Etwas zu erkl�ren, so hat man sie meistens auch dazu
gebracht, sich innerlich daf�r zu erkl�ren; sie wollen f�rderhin als
consequent erfunden werden.


549.

Verachtung. - Die Verachtung durch Andere ist dem Menschen
empfindlicher, als die durch sich selbst.


550.

Schnur der Dankbarkeit. - Es giebt sclavische Seelen, welche die
Erkenntlichkeit f�r erwiesene Wohlthaten so weit treiben, dass sie
sich mit der Schnur der Dankbarkeit selbst erdrosseln.


551.

Kunstgriff des Propheten. - Um die Handlungsweise gew�hnlicher
Menschen im Voraus zu errathen, muss man annehmen, dass sie immer den
mindesten Aufwand an Geist machen, um sich aus einer unangenehmen Lage
zu befreien.


552.

Das einzige Menschenrecht. - Wer vom Herk�mmlichen abweicht, ist das
Opfer des Aussergew�hnlichen; wer im Herk�mmlichen bleibt, ist der
Sclave desselben. Zu Grunde gerichtet wird man auf jeden Fall.


553.

Unter das Thier hinab. - Wenn der Mensch vor Lachen wiehert,
�bertrifft er alle Thiere durch seine Gemeinheit.


554.

Halbwissen. - Der, welcher eine fremde Sprache wenig spricht, hat mehr
Freude daran, als Der, welcher sie gut spricht. Das Vergn�gen ist bei
den Halbwissenden.


555.

Gef�hrliche H�lfbereitschaft. - Es giebt Leute, welche das Leben den
Menschen erschweren wollen, aus keinem andern Grunde, als um ihnen
hinterdrein ihre Recepte zur Erleichterung des Lebens, zum Beispiel
ihr Christenthum, anzubieten.


556.

Fleiss und Gewissenhaftigkeit. - Fleiss und Gewissenhaftigkeit sind
oftmals dadurch Antagonisten, dass der Fleiss die Fr�chte sauer vom
Baume nehmen will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange h�ngen
l�sst, bis sie herabfallen und sich zerschlagen.


557.

Verd�chtigen. - Menschen, welche man nicht leiden kann, sucht man sich
zu verd�chtigen.


558.

Die Umst�nde fehlen. - Viele Menschen warten ihr Leben lang auf die
Gelegenheit, auf ihre Art gut zu sein.


559.

Mangel an Freunden. - Der Mangel an Freunden l�sst auf Neid oder
Anmaassung schliessen. Mancher verdankt seine Freunde nur dem
gl�cklichen Umstande, dass er keinen Anlass zum Neide hat.


560.

Gefahr in der Vielheit. - Mit einem Talente mehr steht man oft
unsicherer, als mit einem weniger: wie der Tisch besser auf drei, als
auf vier F�ssen steht.


561.

Den Andern zum Vorbild. - Wer ein gutes Beispiel geben will, muss
seiner Tugend einen Gran Narrheit zusetzen: dann ahmt man nach und
erhebt sich zugleich �ber den Nachgeahmten, - was die Menschen lieben.


562.

Zielscheibe sein. - Die b�sen Reden Anderer �ber uns gelten oft nicht
eigentlich uns, sondern sind die Aeusserungen eines Aergers, einer
Verstimmung aus ganz anderen Gr�nden.


563.

Leicht resignirt. - Man leidet wenig an versagten W�nschen, wenn man
seine Phantasie ge�bt hat, die Vergangenheit zu verh�sslichen.


564.

In Gefahr. - Man ist am Meisten in Gefahr, �berfahren zu werden, wenn
man eben einem Wagen ausgewichen ist.


565.

Je nach der Stimme die Rolle. - Wer gezwungen ist, lauter zu reden,
als er gewohnt ist (etwa vor einem Halb-Tauben oder vor einem grossen
Auditorium), �bertreibt gew�hnlich die Dinge, welche er mitzutheilen
hat. - Mancher wird zum Verschw�rer, b�swilligen Nachredner,
Intriguanten, blos weil seine Stimme sich am besten zu einem Gefl�ster
eignet.


566.

Liebe und Hass. - Liebe und Hass sind nicht blind, aber geblendet vom
Feuer, das sie selber mit sich tragen.


567.

Mit Vortheil angefeindet. - Menschen, welche der Welt ihre Verdienste
nicht v�llig deutlich machen k�nnen, suchen sich eine starke
Feindschaft zu erwecken. Sie haben dann den Trost, zu denken, dass
diese zwischen ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe - und
dass mancher Andere das Selbe vermuthe: was sehr vortheilhaft f�r ihre
Geltung ist.


568.

Beichte. - Man vergisst seine Schuld, wenn man sie einem Andern
gebeichtet hat, aber gew�hnlich vergisst der Andere sie nicht.


569.

Selbstgen�gsamkeit. - Das goldene Vliess der Selbstgen�gsamkeit
sch�tzt gegen Pr�gel, aber nicht gegen Nadelstiche.


570.

Schatten in der Flamme. - Die Flamme ist sich selber nicht so hell,
als den Anderen, denen sie leuchtet: so auch der Weise.


571.

Eigene Meinungen. - Die erste Meinung, welche uns einf�llt, wenn wir
pl�tzlich �ber eine Sache befragt werden, ist gew�hnlich nicht unsere
eigene, sondern nur die landl�ufige, unserer Kaste, Stellung, Abkunft
zugeh�rige; die eigenen Meinungen schwimmen selten oben auf.


572.

Herkunft des Muthes. - Der gew�hnliche Mensch ist muthig und
unverwundbar wie ein Held, wenn er die Gefahr nicht sieht, f�r sie
keine Augen hat. Umgekehrt: der Held hat die einzig verwundbare Stelle
auf dem R�cken, also dort, wo er keine Augen hat.


573.

Gefahr im Arzte. - Man muss f�r seinen Arzt geboren sein, sonst geht
man an seinem Arzt zu Grunde.


574.

Wunderliche Eitelkeit. - Wer dreimal mit Dreistigkeit das Wetter
prophezeit hat und Erfolg hatte, der glaubt im Grunde seiner Seele ein
Wenig an seine Prophetengabe. Wir lassen das Wunderliche, Irrationelle
gelten, wenn es unserer Selbstsch�tzung schmeichelt.


575.

Beruf. - Ein Beruf ist das R�ckgrat des Lebens.


576.

Gefahr pers�nlichen Einflusses. - Wer f�hlt, dass er auf einen Anderen
einen grossen innerlichen Einfluss aus�bt, muss ihm ganz freie
Z�gel lassen, ja gelegentliches Widerstreben gern sehen und selbst
herbeif�hren: sonst wird er unvermeidlich sich einen Feind machen.


577.

Den Erben gelten lassen. - Wer etwas Grosses in selbstloser Gesinnung
begr�ndet hat, sorgt daf�r, sich Erben zu erziehen. Es ist das Zeichen
einer tyrannischen und unedlen Natur, in allen m�glichen Erben seines
Werkes seine Gegner zu sehen und gegen sie im Stande der Nothwehr zu
leben.


578.

Halbwissen. - Das Halbwissen ist siegreicher, als das Ganzwissen: es
kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung
fasslicher und �berzeugender.


579.

Nicht geeignet zum Parteimann. - Wer viel denkt, eignet sich nicht zum
Parteimann: er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch.


580.

Schlechtes Ged�chtniss. - Der Vortheil des schlechten Ged�chtnisses
ist, dass man die selben guten Dinge mehrere Male zum Ersten Male
geniesst.


581.

Sich Schmerzen machen. - R�cksichtslosigkeit des Denkens ist oft
das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Bet�ubung
begehrt.


582.

M�rtyrer. - Der J�nger eines M�rtyrers leidet mehr, als der M�rtyrer.


583.

R�ckst�ndige Eitelkeit. - Die Eitelkeit mancher Menschen, die es
nicht n�thig h�tten, eitel zu sein, ist die �briggebliebene und gross
gewachsene Gewohnheit aus der Zeit her, wo sie noch kein Recht hatten,
an sich zu glauben und diesen Glauben erst von Andern in kleiner M�nze
einbettelten.


584.

Punctum saliens der Leidenschaft. - Wer im Begriff ist, in Zorn oder
in einen heftigen Liebesaffect zu gerathen, erreicht einen Punct, wo
die Seele voll ist wie ein Gef�ss: aber doch muss ein Wassertropfen
noch hinzukommen, der gute Wille zur Leidenschaft (den man gew�hnlich
auch den b�sen nennt). Es ist nur dieses P�nctchen n�thig, dann l�uft
das Gef�ss �ber.


585.

Gedanke des Unmuthes. - Es ist mit den Menschen wie mit den
Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgegl�ht haben
und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie n�tzlich. So lange
sie dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber
unn�tz und gar zu h�ufig unbequem. - Die Menschheit verwendet
schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen
Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das
heisst die Menschheit) nur dazu n�tzen, sie zu unterhalten? Maschinen,
die sich selbst Zweck sind, - ist das die umana commedia?


586.

Vom Stundenzeiger des Lebens. - Das Leben besteht aus seltenen
einzelnen Momenten von h�chster Bedeutsamkeit und unz�hlig vielen
Intervallen, in denen uns besten Falls die Schattenbilder jener
Momente umschweben. Die Liebe, der Fr�hling, jede sch�ne Melodie, das
Gebirge, der Mond, das Meer - Alles redet nur einmal ganz zum Herzen:
wenn es �berhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben
jene Momente gar nicht und sind selber Intervalle und Pausen in der
Symphonie des wirklichen Lebens.


587.

Angreifen oder eingreifen. - Wir machen h�ufig den Fehler, eine
Richtung oder Partei oder Zeit lebhaft anzufeinden, weil wir zuf�llig
nur ihre ver�usserlichte Seite, ihre Verk�mmerung oder die ihnen
nothwendig anhaftenden "Fehler ihrer Tugenden" zu sehen bekommen, -
vielleicht weil wir selbst an diesen vornehmlich theilgenommen haben.
Dann wenden wir ihnen den R�cken und suchen eine entgegengesetzte
Richtung; aber das Bessere w�re, die starken guten Seiten aufzusuchen
oder an sich selber auszubilden. Freilich geh�rt ein kr�ftigerer Blick
und besserer Wille dazu, das Werdende und Unvollkommene zu f�rdern,
als es in seiner Unvollkommenheit zu durchschauen und zu verleugnen.


588.

Bescheidenheit. - Es giebt wahre Bescheidenheit (das heisst die
Erkenntniss, dass wir nicht unsere eigenen Werke sind); und recht
wohl geziemt sie dem grossen Geiste, weil gerade er den Gedanken der
v�lligen Unverantwortlichkeit (auch f�r das Gute, was er schafft)
fassen kann. Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht,
insofern er seine Kraft f�hlt, sondern weil er seine Kraft dadurch
erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt
und zusieht, wie weit sie es aushalten. Gew�hnlich beweist diess sogar
den Mangel an sicherem Gef�hl der Kraft und macht somit die Menschen
an seiner Gr�sse zweifeln. Insofern ist Unbescheidenheit vom
Gesichtspuncte der Klugheit aus sehr zu widerrathen.


589.

Des Tages erster Gedanke. - Das beste Mittel, jeden Tag gut zu
beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens
einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen k�nne. Wenn diess als
ein Ersatz f�r die religi�se Gew�hnung des Gebetes gelten d�rfte, so
h�tten die Mitmenschen einen Vortheil bei dieser Aenderung.


590.

Anmaassung als letztes Trostmittel. - Wenn man ein Missgeschick,
seinen intellectuellen Mangel, seine Krankheit sich so zurecht legt,
dass man hierin sein vorgezeichnetes Schicksal, seine Pr�fung oder
die geheimnissvolle Strafe f�r fr�her Begangenes sieht, so macht man
sich sein eigenes Wesen dadurch interessant und erhebt sich in der
Vorstellung �ber seine Mitmenschen. Der stolze S�nder ist eine
bekannte Figur in allen kirchlichen Secten.


591.

Vegetation des Gl�ckes. - Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf
seinem vulcanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen G�rten des
Gl�ckes angelegt; ob man das Leben mit dem Blicke Dessen betrachtet,
der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder Dessen, der sich ergiebt
und resignirt, oder Dessen, der an der �berwundenen Schwierigkeit sich
freut, - �berall wird er etwas Gl�ck neben dem Unheil aufgesprosst
finden - und zwar um so mehr Gl�ck, je vulcanischer der Boden war nur
w�re es l�cherlich, zu sagen, dass mit diesem Gl�ck das Leiden selbst
gerechtfertigt sei.


592.

Die Strasse der Vorfahren. - Es ist vern�nftig, wenn jemand das
Talent, auf welches sein Vater oder Grossvater M�he verwendet hat, an
sich selbst weiter ausbildet und nicht zu etwas ganz Neuem umschl�gt;
er nimmt sich sonst die M�glichkeit, zum Vollkommenen in irgend einem
Handwerk zu gelangen. Desshalb sagt das Spr�chwort: "Welche Strasse
sollst du reiten? - die deiner Vorfahren."


593.

Eitelkeit und Ehrgeiz als Erzieher. - So lange Einer noch nicht zum
Werkzeug des allgemeinen menschlichen Nutzens geworden ist, mag ihn
der Ehrgeiz peinigen; ist jenes Ziel aber erreicht, arbeitet er mit
Nothwendigkeit wie eine Maschine zum Besten Aller, so mag dann die
Eitelkeit kommen; sie wird ihn im Kleinen vermenschlichen, geselliger,
ertr�glicher, nachsichtiger machen, dann, wenn der Ehrgeiz die grobe
Arbeit (ihn n�tzlich zu machen) an ihm vollendet hat.


594.

Philosophische Neulinge. - Hat man die Weisheit eines Philosophen eben
eingenommen, so geht man durch die Strassen mit dem Gef�hle, als sei
man umgeschaffen und ein grosser Mann geworden; denn man findet lauter
Solche, welche diese Weisheit nicht kennen, hat also �ber Alles eine
neue unbekannte Entscheidung vorzutragen: weil man ein Gesetzbuch
anerkennt, meint man jetzt auch sich als Richter geb�rden zu m�ssen.


595.

Durch Missfallen gefallen. - Die Menschen, welche lieber auffallen
und dabei missfallen wollen, begehren das Selbe wie Die, welche nicht
auffallen und gefallen wollen, nur in einem viel h�heren Grade und
indirect, vermittelst einer Stufe, durch welche sie sich scheinbar
von ihrem Ziele entfernen. Sie wollen Einfluss und Macht, und zeigen
desshalb ihre Ueberlegenheit, selbst so, dass sie unangenehm empfunden
wird; denn sie wissen, dass Der, welcher endlich zur Macht gelangt
ist, fast in Allem was er thut und sagt, gef�llt, und dass selbst, wo
er missf�llt, er doch noch zu gefallen scheint. - Auch der Freigeist,
und ebenso der Gl�ubige, wollen Macht, um durch sie einmal zu
gefallen; wenn ihnen ihrer Lehre wegen ein �beles Schicksal,
Verfolgung, Kerker, Hinrichtung, droht, so freuen sie sich des
Gedankens, dass ihre Lehre auf diese Weise der Menschheit eingeritzt
und eingebrannt wird; sie nehmen es hin als ein schmerzhaftes, aber
kr�ftiges, wenngleich sp�t wirkendes Mittel, um doch noch zur Macht zu
gelangen.


596.

Casus belli und Aehnliches - Der F�rst, welcher zu dem gefassten
Entschlusse, Krieg mit dem Nachbar zu f�hren, einen casus belli
ausfindig macht, gleicht dem Vater, der seinem Kinde eine Mutter
unterschiebt, welche f�rderhin als solche gelten soll. Und sind nicht
fast alle �ffentlich bekannt gemachten Motive unserer Handlungen
solche untergeschobene M�tter?


597.

Leidenschaft und Recht. - Niemand spricht leidenschaftlicher von
seinem Rechte, als Der, welcher im Grunde seiner Seele einen Zweifel
an seinem Rechte hat. Indem er die Leidenschaft auf seine Seite zieht,
will er den Verstand und dessen Zweifel bet�uben: so gewinnt er das
gute Gewissen und mit ihm den Erfolg bei den Mitmenschen.


598.

Kunstgriff des Entsagenden. - Wer gegen die Ehe protestirt nach
Art der katholischen Priester wird diese nach ihrer niedrigsten,
gemeinsten Auffassung zu verstehen suchen. Ebenso wer die Ehre bei den
Zeitgenossen von sich abweist, wird deren Begriff niedrig fassen; so
erleichtert er sich die Entbehrung und den Kampf dagegen. Uebrigens
wird Der, welcher sich im Ganzen viel versagt, sich im Kleinen
leicht Indulgenz geben. Es w�re m�glich, dass Der, welcher �ber den
Beifall der Zeitgenossen erhaben ist, doch die Befriedigung kleiner
Eitelkeiten sich nicht versagen will.


599.

Lebensalter der Anmaassung. - Zwischen dem sechsundzwanzigsten und
dreissigsten Jahre liegt bei begabten Menschen die eigentliche Periode
der Anmaassung; es ist die Zeit der ersten Reife, mit einem starken
Rest von S�uerlichkeit. Man fordert auf Grund dessen, was man in sich
f�hlt, von Mensen, welche Nichts oder wenig davon sehen, Ehre und
Dem�thigung, und r�cht sich, weil diese zun�chst ausbleiben, durch
jenen Blick, jene Geb�rde der Anmaassung, jenen Ton der Stimme, die
ein feines Ohr und Auge an allen Productionen jenes Alters, seien es
Gedichte, Philosophien, oder Bilder und Musik, wiedererkennt. Aeltere
erfahrene M�nner l�cheln dazu und mit R�hrung gedenken sie dieses
sch�nen Lebensalters, in dem man b�se �ber das Geschick ist, so viel
zu sein und so wenig zu scheinen. Sp�ter scheint man wirklich mehr, -
aber man hat den guten Glauben verloren, viel zu sein: man bleibe denn
zeitlebens ein unverbesserlicher Narr der Eitelkeit.


600.

Tr�gerisch und doch haltbar. - Wie man, um an einem Abgrund
vorbeizugehen oder einen tiefen Bach auf einem Balken zu
�berschreiten, eines Gel�nders bedarf, nicht um sich daran
festzuhalten, - denn es w�rde sofort mit Einem zusammenbrechen,
sondern um die Vorstellung der Sicherheit f�r das Auge zu erwecken, -
so bedarf man als J�ngling solcher Personen, welche uns unbewusst den
Dienst jenes Gel�nders erweisen; es ist wahr, sie w�rden uns nicht
helfen, wenn wir uns wirklich, in grosser Gefahr, auf sie st�tzen
wollten, aber sie geben die beruhigende Empfindung des Schutzes in
der N�he (zum Beispiel V�ter, Lehrer, Freunde, wie sie, alle drei,
gew�hnlich sind).


601.

Lieben lernen. - Man muss lieben lernen, g�tig sein lernen, und diess
von Jugend auf; wenn Erziehung und Zufall uns keine Gelegenheit zur
Uebung dieser Empfindungen geben, so wird unsere Seele trocken und
selbst zu einem Verst�ndnisse jener zarten Erfindungen liebevoller
Menschen ungeeignet. Ebenso muss der Hass gelernt und gen�hrt werden,
wenn Einer ein t�chtiger Hasser werden will: sonst wird auch der Keim
dazu allm�hlich absterben.


602.

Die Ruine als Schmuck. - Solche, die viele geistige Wandlungen
durchmachen, behalten einige Ansichten und Gewohnheiten fr�herer
Zust�nde bei, welche dann wie ein St�ck unerkl�rlichen Alterthums und
grauen Mauerwerks in ihr neues Denken und Handeln hineinragen: oft zur
Zierde der ganzen Gegend.


603.

Liebe und Ehre. - Die Liebe begehrt, die Furcht meidet. Daran liegt
es, dass man nicht zugleich von derselben Person wenigstens in dem
selben Zeitraume, geliebt und geehrt werden kann. Denn der Ehrende
erkennt die Macht an, das heisst er f�rchtet sie: sein Zustand
ist Ehrfurcht. Die Liebe aber erkennt keine Macht an, Nichts was
trennt, abhebt, �ber- und unterordnet. Weil sie nicht ehrt, so sind
ehrs�chtige Menschen insgeheim oder �ffentlich gegen das Geliebtwerden
widersp�nstig.


604.

Vorurtheil f�r die kalten Menschen. - Menschen, welche rasch Feuer
fangen, werden schnell kalt und sind daher im Ganzen unzuverl�ssig.
Desshalb giebt es f�r alle Die, welche immer kalt sind oder sich so
stellen, das g�nstige Vorurtheil, dass es besonders vertrauenswerthe
zuverl�ssige Menschen seien: man verwechselt sie mit Denen, welche
langsam Feuer fangen und es lange festhalten.


605.

Das Gef�hrliche an freien Meinungen. - Das leichte Befassen mit freien
Meinungen giebt einen Reiz, wie eine Art jucken; giebt man ihm mehr
nach, so f�ngt man an, die Stellen zu reiben; bis zuletzt eine offene
schmerzende Wunde entsteht, das heisst: bis die freie Meinung uns in
unserer Lebensstellung, unsern menschlichen Beziehungen zu st�ren, zu
qu�len beginnt.


606.

Begierde nach tiefem Schmerz. - Die Leidenschaft l�sst, wenn sie
vor�ber ist, eine dunkele Sehnsucht nach sich selber zur�ck und wirft
im Verschwinden noch einen verf�hrerischen Blick zu. Es muss doch eine
Art von Lust gew�hrt haben, mit ihrer Geissel geschlagen worden zu
sein. Die m�ssigeren Empfindungen erscheinen dagegen schaal; man will,
wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte
Lust.


607.

Unmuth �ber andere und die Welt. - Wenn wir, wie so h�ufig, unsern
Unmuth an Anderen auslassen, w�hrend wir ihn eigentlich �ber uns
empfinden, erstreben wir im Grunde eine Umnebelung und T�uschung
unseres Urtheils: wir wollen diesen Unmuth a posteriori motiviren
durch die Versehen, M�ngel der Anderen und uns selber so aus den Augen
verlieren. - Die religi�s strengen Menschen, welche gegen sich selber
unerbittliche Richter sind, haben zugleich am meisten Uebles der
Menschheit �berhaupt nachgesagt: ein Heiliger, welcher sich die S�nden
und den Anderen die Tugenden vorbeh�lt, hat nie gelebt: ebensowenig
wie jener, welcher nach Buddha's Vorschrift sein Gutes vor den Leuten
verbirgt und ihnen sein B�ses allein sehen l�sst.


608.

Ursache und Wirkung verwechselt. - Wir suchen unbewusst die Grunds�tze
und Lehrmeinungen, welche unserem Temperamente angemessen sind, so
dass es zuletzt so aussieht, als ob die Grunds�tze und Lehrmeinungen
unseren Charakter geschaffen, ihm Halt und Sicherheit gegeben h�tten:
w�hrend es gerade umgekehrt zugegangen ist. Unser Denken und Urtheilen
soll nachtr�glich, so scheint es, zur Ursache unseres Wesens gemacht
werden: aber thats�chlich ist unser Wesen die Ursache, dass wir so
und so denken und urtheilen. - Und was bestimmt uns zu dieser fast
unbewussten Kom�die? Die Tr�gheit und Bequemlichkeit und nicht am
wenigsten der Wunsch der Eitelkeit, durch und durch als consistent,
in Wesen und Denken einartig erfunden zu werden: denn diess erwirbt
Achtung, giebt Vertrauen und Macht.


609.

Lebensalter und Wahrheit. - junge Leute lieben das Interessante und
Absonderliche, gleichg�ltig wie wahr oder falsch es ist. Reifere
Geister lieben Das an der Wahrheit, was an ihr interessant und
absonderlich ist. Ausgereifte K�pfe endlich lieben die Wahrheit auch
in Dem, wo sie schlicht und einf�ltig erscheint und dem gew�hnlichen
Menschen Langeweile macht, weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit
das H�chste an Geist, was sie besitzt, mit der Miene der Einfalt zu
sagen pflegt.


610.

Die Menschen als schlechte Dichter. - So wie schlechte Dichter im
zweiten Theil des Verses zum Reime den Gedanken suchen, so pflegen die
Menschen in der zweiten H�lfte des Lebens, �ngstlicher geworden, die
Handlungen, Stellungen, Verh�ltnisse zu suchen, welche zu denen ihres
fr�heren Lebens passen, so dass �usserlich Alles wohl zusammenklingt:
aber ihr Leben ist nicht mehr von einem starken Gedanken beherrscht
und immer wieder neu bestimmt, sondern an die Stelle desselben tritt
die Absicht, einen Reim zu finden.


611.

Langeweile und Spiel. - Das Bed�rfniss zwingt uns zur Arbeit, mit
deren Ertrage das Bed�rfniss gestillt wird; das immer neue Erwachen
der Bed�rfnisse gew�hnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber,
in welchen die Bed�rfnisse gestillt sind und gleichsam schlafen,
�berf�llt uns die Langeweile. Was ist diese? Es ist die Gew�hnung
an Arbeit �berhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes
Bed�rfniss geltend macht; sie wird um so st�rker sein, je st�rker
Jemand gew�hnt ist zu arbeiten, vielleicht sogar je st�rker Jemand an
Bed�rfnissen gelitten hat. Um der Langeweile zu entgehen, arbeitet der
Mensch entweder �ber das Maass seiner sonstigen Bed�rfnisse hinaus
oder er erfindet das Spiel, das heisst die Arbeit, welche kein anderes
Bed�rfniss stillen soll, als das nach Arbeit �berhaupt. Wer des
Spieles �berdr�ssig geworden ist und durch neue Bed�rfnisse keinen
Grund zur Arbeit hat, den �berf�llt mitunter das Verlangen nach einem
dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verh�lt, wie Schweben zum
Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit:
es ist die Vision der K�nstler und Philosophen von dem Gl�ck.


612.

Lehre aus Bildern. - Betrachtet man eine Reihe Bilder von sich selber,
von den Zeiten der letzten Kindheit bis zu der der Mannesreife, so
findet man mit einer angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde
�hnlicher sieht, als der Mann dem J�nglinge: dass also, wahrscheinlich
diesem Vorgange entsprechend, inzwischen eine zeitweilige Alienation
vom Grundcharakter eingetreten ist, �ber welche die gesammelte,
geballte Kraft des Mannes wieder Herr wurde. Dieser Wahrnehmung
entspricht die andere, dass alle die starken Einwirkungen von
Leidenschaften, Lehrern, politischen Ereignissen, welche in dem
J�nglingsalter uns herumziehen, sp�ter wieder auf ein festes Maass
zur�ckgef�hrt erscheinen: gewiss, sie leben und wirken in uns fort,
aber das Grundempfinden und Grundmeinen hat doch die Uebermacht und
benutzt sie wohl als Kraftquellen, nicht aber mehr als Regulatoren,
wie diess wohl in den zwanziger Jahren geschieht. So erscheint auch
das Denken und Empfinden des Mannes dem seines kindlichen Lebensalters
wieder gem�sser, - und diese innere Thatsache spricht sich in der
erw�hnten �usseren aus.


613.

Stimmklang der Lebensalter. - Der Ton, indem J�nglinge reden, loben,
tadeln, dichten, missf�llt dem Aelter gewordenen, weil er zu laut ist
und zwar zugleich dumpf und undeutlich wie der Ton in einem Gew�lbe,
der durch die Leerheit eine solche Schallkraft bekommt; denn das
Meiste, was J�nglinge denken, ist nicht aus der F�lle ihrer eigenen
Natur herausgestr�mt, sondern ist Anklang, Nachklang von dem, was in
ihrer N�he gedacht, geredet, gelobt, getadelt worden ist. Weil aber
die Empfindungen (der Neigung und Abneigung) viel st�rker, als die
Gr�nde f�r jene, in ihnen nachklingen, so entsteht, wenn sie ihre
Empfindung wieder laut werden lassen, jener dumpfe, hallende Ton,
welcher f�r die Abwesenheit oder die Sp�rlichkeit von Gr�nden das
Kennzeichen abgiebt. Der Ton des reiferen Alters ist streng, kurz
abgebrochen, m�ssig laut, aber, wie alles deutlich Articulirte, sehr
weit tragend. Das Alter endlich bringt h�ufig eine gewisse Milde und
Nachsicht in den Klang und verzuckert ihn gleichsam: in manchen F�llen
freilich vers�uert sie ihn auch.


614.

Zur�ckgebliebene und vorwegnehmende Menschen. - Der unangenehme
Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles gl�ckliche Gelingen
der Mitbewerbenden und N�chsten mit Neid f�hlt, gegen abweichende
Meinungen gewaltth�tig und aufbrausend ist, zeigt, dass er einer
fr�heren Stufe der Cultur zugeh�rt, also ein Ueberbleibsel ist: denn
die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und
zutreffende f�r die Zust�nde eines Faustrecht-Zeitalters; es ist ein
zur�ckgebliebener Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an
Mitfreude ist, �berall Freunde gewinnt, alles Wachsende und Werdende
liebevoll empfindet, alle Ehren und Erfolge Anderer mitgeniesst und
kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt,
sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist, - das ist ein
vorwegnehmender Mensch, welcher einer h�heren Cultur der Menschen
entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo
die rohen Fundamente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren,
der andere lebt auf deren h�chsten Stockwerken, m�glichst entfernt von
dem wilden Thier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der
Cultur, eingeschlossen w�thet und heult.


615.

Trost f�r Hypochonder. - Wenn ein grosser Denker zeitweilig
hypochondrischen Selbstqu�lereien unterworfen ist, so mag er sich
zum Troste sagen: "es ist deine eigene grosse Kraft, von der dieser
Parasit sich n�hrt und w�chst; w�re sie geringer, so w�rdest du
weniger zu leiden haben." Ebenso mag der Staatsmann sprechen, wenn
Eifersucht und Rachegef�hl, �berhaupt die Stimmung des bellum omnium
contra omnes, zu der er als Vertreter einer Nation nothwendig
eine starke Begabung haben muss, sich gelegentlich auch in seine
pers�nlichen Beziehungen eindr�ngt und ihm das Leben schwer macht.


616.

Der Gegenwart entfremdet. - Es hat grosse Vortheile, seiner Zeit sich
einmal in st�rkerem Maasse zu entfremden und gleichsam von ihrem Ufer
zur�ck in den Ocean der vergangenen Weltbetrachtungen getrieben zu
werden. Von dort aus nach der K�ste zu blickend, �berschaut man wohl
zum ersten Male ihre gesammte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr
wieder n�hert, den Vortheil, sie besser im Ganzen zu verstehen, als
Die, welche sie nie verlassen haben.


617.

Auf pers�nlichen M�ngeln s�en und ernten. - Menschen wie Rousseau
verstehen es, ihre Schw�chen, L�cken, Laster gleichsam als D�nger
ihres Talentes zu benutzen. Wenn jener die Verdorbenheit und Entartung
der Gesellschaft als leidige Folge der Cultur beklagt, so liegt hier
eine pers�nliche Erfahrung zu Grunde; deren Bitterkeit giebt ihm die
Sch�rfe seiner allgemeinen Verurtheilung und vergiftet die Pfeile, mit
denen er schiesst; er entlastet sich zun�chst als ein Individuum und
denkt ein Heilmittel zu suchen, das direct der Gesellschaft, aber
indirect und vermittelst jener, auch ihm zu Nutze ist.


618.

Philosophisch gesinnt sein. - Gew�hnlich strebt man darnach, f�r alle
Lebenslagen und Ereignisse eine Haltung des Gem�thes, eine Gattung
von Ansichten zu erwerben, - das nennt man vornehmlich philosophisch
gesinnt sein. Aber f�r die Bereicherung der Erkenntniss mag es h�heren
Werth haben, nicht in dieser Weise sich zu uniformiren, sondern auf
die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu h�ren; diese bringen
ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden Antheil
am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres,
best�ndiges, Eines Individuum behandelt.


619.

Im Feuer der Verachtung. - Es ist ein neuer Schritt zum
Selbst�ndigwerden, wenn man erst Ansichten zu �ussern wagt, die als
schm�hlich f�r Den gelten, welcher sie hegt; da pflegen auch die
Freunde und Bekannten �ngstlich zu werden. Auch durch dieses Feuer
muss die begabte Natur hindurch; sie geh�rt sich hinterdrein noch
vielmehr selber an.


620.

Aufopferung. - Die grosse Aufopferung wird, im Falle der Wahl, einer
kleinen Aufopferung vorgezogen: weil wir f�r die grosse uns durch
Selbstbewunderung entsch�digen, was uns bei der kleinen nicht m�glich
ist.


621.

Liebe als Kunstgriff. - Wer etwas Neues wirklich kennen lernen will
(sei es ein Mensch, ein Ereigniss, ein Buch), der thut gut, dieses
Neue mit aller m�glichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran
feindlich, anst�ssig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja
es zu vergessen: so dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den
gr�ssten Vorsprung giebt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit
klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit
diesem Verfahren dringt man n�hmlich der neuen Sache bis an ihr Herz,
bis an ihren bewegenden Punct: und diess heisst eben sie kennen
lernen. Ist man soweit, so macht der Verstand hinterdrein seine
Restrictionen; jene Uebersch�tzung, jenes zeitweilige Aush�ngen des
kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache
herauszulocken.


622.

Zu gut und zu schlecht von der Welt denken. - Ob man zu gut oder zu
schlecht von den Dingen denkt, man hat immer den Vortheil dabei, eine
h�here Lust einzuernten: denn bei einer vorgefassten zu guten Meinung
legen wir gew�hnlich mehr S�ssigkeit in die Dinge (Erlebnisse) hinein,
als sie eigentlich enthalten. Eine vorgefasste zu schlechte Meinung
verursacht eine angenehme Entt�uschung: das Angenehme, das an sich
in den Dingen lag, bekommt einen Zuwachs durch das Angenehme der
Ueberraschung. - Ein finsteres Temperament wird �brigens in beiden
F�llen die umgekehrte Erfahrung machen.


623.

Tiefe Menschen. - Diejenigen, welche ihre St�rke in der Vertiefung der
Eindr�cke haben - man nennt sie gew�hnlich tiefe Menschen - sind bei
allem Pl�tzlichen verh�ltnissm�ssig gefasst und entschlossen: denn im
ersten Augenblick war der Eindruck noch flach, er wird dann erst tief.
Lange vorhergesehene, erwartete Dinge oder Personen regen aber solche
Naturen am meisten auf und machen sie fast unf�hig, bei der endlichen
Ankunft derselben noch Gegenw�rtigkeit des Geistes zu haben.


624.

Verkehr mit dem h�heren Selbst. - Ein jeder hat seinen guten Tag,
wo er sein h�heres Selbst findet; und die wahre Humanit�t verlangt,
jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der
Unfreiheit und Knechtung zu sch�tzen. Man soll zum Beispiel einen
Maler nach seiner h�chsten Vision, die er zu sehen und darzustellen
vermochte, taxiren und verehren. Aber die Menschen selber verkehren
sehr verschieden mit diesem ihrem h�heren Selbst und sind h�ufig ihre
eigenen Schauspieler, insofern sie Das, was sie in jenen Augenblicken
sind, sp�ter immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth
vor ihrem Ideale und m�chten es verleugnen: sie f�rchten ihr h�heres
Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine
geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird
desswegen h�ufig eine Gabe der G�tter genannt, w�hrend eigentlich
alles Andere Gabe der G�tter (des Zufalls) ist: jenes aber ist der
Mensch selber.


625.

Einsame Menschen. - Manche Menschen sind so sehr an das Alleinsein mit
sich selber gew�hnt, dass sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen,
sondern in einer ruhigen, freudigen Stimmung, unter guten Gespr�chen
mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben fortspinnen. Bringt
man sie aber dazu, sich mit Anderen zu vergleichen, so neigen sie zu
einer gr�belnden Untersch�tzung ihrer selbst: so dass sie gezwungen
werden m�ssen, eine gute, gerechte Meinung �ber sich erst von Anderen
wieder zu lernen: und auch von dieser erlernten Meinung werden sie
immer wieder Etwas abziehen und abhandeln wollen. - Man muss also
gewissen Menschen ihr Alleinsein g�nnen und nicht so albern sein, wie
es h�ufig geschieht, sie desswegen zu bedauern.


626.

Ohne Melodie. - Es giebt Menschen, denen ein st�tiges Beruhen in sich
selbst und ein harmonisches Sich-zurecht-legen aller ihrer F�higkeiten
so zu eigen ist, dass ihnen jede zielesetzende Th�tigkeit widerstrebt.
Sie gleichen einer Musik, welche aus lauter langgezogenen harmonischen
Accorden besteht, ohne dass je auch nur der Ansatz zu einer
gegliederten bewegten Melodie sich zeigte. Alle Bewegung von Aussen
her dient nur, dem Kahne sofort wieder sein neues Gleichgewicht auf
dem See harmonischen Wohlklangs zu geben. Moderne Menschen werden
gew�hnlich auf's Aeusserste ungeduldig, wenn sie solchen Naturen
begegnen, aus denen Nichts wird, ohne dass man ihnen sagen d�rfte,
dass sie Nichts sind. Aber in einzelnen Stimmungen erregt ihr Anblick
jene ungew�hnliche Frage: wozu �berhaupt Melodie? Warum gen�gt es uns
nicht, wenn das Leben sich ruhevoll in einem tiefen See spiegelt? -
Das Mittelalter war reicher an solchen Naturen als unsere Zeit. Wie
selten trifft man noch auf einen, der so recht friedlich und froh mit
sich auch im Gedr�nge fortleben kann, zu sich redend wie Goethe: "das
Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse,
und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen k�nnen."


627.

Leben und Erleben. - Sieht man zu, wie Einzelne mit ihren Erlebnissen
- ihren unbedeutenden allt�glichen Erlebnissen - umzugehen wissen, so
dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht
tr�gt; w�hrend Andere - und wie Viele! - durch den Wogenschlag
der aufregendsten Schicksale, der mannigfaltigsten Zeit- und
Volksstr�mungen hindurchgetrieben werden und doch immer leicht,
immer obenauf, wie Kork, bleiben: so ist man endlich versucht, die
Menschheit in eine Minorit�t (Minimalit�t) Solcher einzutheilen,
welche aus Wenigem Viel zu machen verstehen: und in eine Majorit�t
Derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf
jene umgekehrten Hexenmeister, welche, anstatt die Welt aus Nichts,
aus der Welt ein Nichts schaffen.


628.

Ernst im Spiele. - In Genua h�rte ich zur Zeit der Abendd�mmerung von
einem Thurme her ein langes Glockenspiel: das wollte nicht enden und
klang, wie uners�ttlich an sich selber, �ber das Ger�usch der Gassen
in den Abendhimmel und die Meerluft hinaus, so schauerlich, so
kindisch zugleich, so wehmuthsvoll. Da gedachte ich der Worte Plato's
und f�hlte sie auf einmal im Herzen: alles Menschliche insgesammt ist
des grossen Ernstes nicht werth; trotzdem--


629.

Von der Ueberzeugung und der Gerechtigkeit. - Das, was der Mensch in
der Leidenschaft sagt, verspricht, beschliesst, nachher in K�lte und
N�chternheit zu vertreten - diese Forderung geh�rt zu den schwersten
Lasten, welche die Menschheit dr�cken. Die Folgen des Zornes, der
aufflammenden Rache, der begeisterten Hingebung in alle Zukunft hin
anerkennen zu m�ssen - das kann zu einer um so gr�sseren Erbitterung
gegen diese Empfindungen reizen, je mehr gerade mit ihnen allerw�rts
und namentlich von den K�nstlern ein G�tzendienst getrieben wird.
Diese z�chten die Sch�tzung der Leidenschaften gross und haben
es immer gethan; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren
Genugthuungen der Leidenschaft, welche Einer an sich selber nimmt,
jene Racheausbr�che mit Tod, Verst�mmelung, freiwilliger Verbannung
im Gefolge, und jene Resignation des zerbrochnen Herzens. Jedenfalls:
halten sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist, als ob
sie sagen wollten: ihr habt ohne Leidenschaften gar Nichts erlebt. -
Weil man Treue geschworen, vielleicht gar einem rein fingirten Wesen,
wie einem Gotte, weil man sein Herz hingegeben hat, einem F�rsten,
einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden, einem K�nstler,
einem Denker, im Zustande eines verblendeten Wahnes, welcher
Entz�ckung �ber uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes
Opfers w�rdig erscheinen liess - ist man nun unentrinnbar fest
gebunden? Ja haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? War es
nicht ein hypothetisches Versprechen, unter der freilich nicht laut
gewordenen Voraussetzung, dass jene Wesen, denen wir uns weihten
wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vorstellung
erschienen? Sind wir verpflichtet, unsern Irrth�mern treu zu sein,
selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserem
h�heren Selbst Schaden stiften? - Nein, es giebt kein Gesetz, keine
Verpflichtung der Art, wir m�ssen Verr�ther werden, Untreue �ben,
unsere Ideale immer wieder preisgeben. Aus einer Periode des Lebens
in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verrathes
zu machen und auch daran wieder zu leiden. W�re es n�thig, dass wir
uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer
Empfindung h�ten m�ssten? W�rde dann die Welt nicht zu �de, zu
gespenstisch f�r uns werden? Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese
Schmerzen bei einem Wechsel der Ueberzeugung nothwendig sind oder ob
sie nicht von einer irrth�mlichen Meinung und Sch�tzung abh�ngen.
Warum bewundert man Den, welcher seiner Ueberzeugung treu bleibt, und
verachtet Den, welcher sie wechselt? Ich f�rchte, die Antwort muss
sein: weil Jedermann voraussetzt, dass nur Motive gemeineren Vortheils
oder pers�nlicher Angst einen solchen Wechsel veranlassen. Das heisst:
man glaubt im Grunde, dass Niemand seine Meinungen ver�ndert, so lange
sie ihm vortheilhaft sind, oder wenigstens so lange sie ihm keinen
Schaden bringen. Steht es aber so, so liegt darin ein schlimmes
Zeugniss �ber die intellectuelle Bedeutung aller Ueberzeugungen.
Pr�fen wir einmal, wie Ueberzeugungen entstehen, und sehen wir zu,
ob sie nicht bei Weitem �bersch�tzt werden: dabei wird sich ergeben,
dass auch der Wechsel von Ueberzeugungen unter allen Umst�nden nach
falschem Maasse bemessen wird und dass wir bisher zu viel an diesem
Wechsel zu leiden pflegten.


630.

Ueberzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss
im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also
voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene
vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen;
endlich, dass jeder, der Ueberzeugungen habe, sich dieser vollkommenen
Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der
Mensch der Ueberzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen
Denkens ist; er steht im Alter der theoretischen Unschuld vor uns
und ist ein Kind, wie erwachsen er auch sonst sein m�ge. Ganze
Jahrtausende aber haben in jenen kindlichen Voraussetzungen gelebt
und aus ihnen sind die m�chtigsten Kraftquellen der Menschheit
herausgestr�mt. jene zahllosen Menschen, welche sich f�r ihre
Ueberzeugungen opferten, meinten es f�r die unbedingte Wahrheit zu
thun. Sie alle hatten Unrecht darin: wahrscheinlich hat noch nie ein
Mensch sich f�r die Wahrheit geopfert; mindestens wird der dogmatische
Ausdruck seines Glaubens unwissenschaftlich oder halbwissenschaftlich
gewesen sein. Aber eigentlich wollte man Recht behalten, weil man
meinte, Recht haben zu m�ssen. Seinen Glauben sich entreissen lassen,
das bedeutete vielleicht seine ewige Seligkeit in Frage stellen. Bei
einer Angelegenheit von dieser �ussersten Wichtigkeit war der "Wille"
gar zu h�rbar der Souffleur des Intellects. Die Voraussetzung jedes
Gl�ubigen jeder Richtung war, nicht widerlegt werden zu k�nnen;
erwiesen sich die Gegengr�nde als sehr stark, so blieb ihm immer
noch �brig, die Vernunft �berhaupt zu verl�stern und vielleicht gar
das "credo quia absurdum est" als Fahne des �ussersten Fanatismus
aufzupflanzen. Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die
Geschichte so gewaltth�tig gemacht hat, sondern der Kampf des Glaubens
an die Meinungen, das heisst der Ueberzeugungen. Wenn doch alle Die,
welche so gross von ihrer Ueberzeugung dachten, Opfer aller Art ihr
brachten und Ehre, Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur
die H�lfte ihrer Kraft der Untersuchung gewidmet h�tten, mit welchem
Rechte sie an dieser oder jener Ueberzeugung hiengen, auf welchem Wege
sie zu ihr gekommen seien: wie friedfertig s�he die Geschichte der
Menschheit aus! Wieviel mehr des Erkannten w�rde es geben! Alle die
grausamen Scenen bei der Verfolgung der Ketzer jeder Art w�ren uns
aus zwei Gr�nden erspart geblieben: einmal weil die Inquisitoren vor
Allem in sich selbst inquirirt h�tten und �ber die Anmaassung, die
unbedingte Wahrheit zu vertheidigen, hinausgekommen w�ren; sodann
weil die Ketzer selber so schlecht begr�ndeten S�tzen, wie die S�tze
aller religi�sen Sectirer und "Rechtgl�ubigen" sind, keine weitere
Theilnahme geschenkt haben w�rden, nachdem sie dieselben untersucht
h�tten.


631.

Aus den Zeiten her, in welchen Menschen daran gew�hnt waren, an
den Besitz der unbedingten Wahrheit zu glauben, stammt ein tiefes
Missbehagen an allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu
irgendwelchen Fragen der Erkenntniss; man zieht meistens vor, sich
einer Ueberzeugung, welche Personen von Autorit�t haben (V�ter,
Freunde, Lehrer, F�rsten), auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, und hat,
wenn man diess nicht thut, eine Art von Gewissensbissen. Dieser Hang
ist ganz begreiflich und seine Folgen geben kein Recht zu heftigen
Vorw�rfen gegen die Entwickelung der menschlichen Vernunft. Allm�hlich
muss aber der wissenschaftliche Geist im Menschen jene Tugend der
vorsichtigen Enthaltung zeitigen, jene weise M�ssigung, welche im
Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist, als im Gebiet des
theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel Goethe im Antonio
dargestellt hat, als einen Gegenstand der Erbitterung f�r alle
Tasso's, das heisst f�r die unwissenschaftlichen und zugleich
thatlosen Naturen. Der Mensch der Ueberzeugung hat in sich ein Recht,
jenen Menschen des vorsichtigen Denkens, den theoretischen Antonio,
nicht zu begreifen; der wissenschaftliche Mensch hinwiederum hat kein
Recht, jenen desshalb zu tadeln, er �bersieht ihn und weiss ausserdem,
im bestimmten Falle, dass jener sich an ihn noch anklammern wird, so
wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut.


632.

Wer nicht durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist,
sondern in dem Glauben h�ngen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst
verfieng, ist unter allen Umst�nden eben wegen dieser Unwandelbarkeit
ein Vertreter zur�ckgebliebener Culturen; er ist gem�ss diesem Mangel
an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt) hart, unverst�ndig,
unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verd�chtiger, ein Unbedenklicher,
der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar
nicht begreifen kann, dass es andere Meinungen geben m�sse; er ist, in
solchem Betracht, vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und
schlaff gewordenen Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er
kr�ftig anreizt, ihm Widerpart zu halten: denn dabei wird das zartere
Gebilde der neuen Cultur, welche zum Kampf mit ihm gezwungen ist,
selber stark.


633.

Wir sind im Wesentlichen noch dieselben Menschen, wie die des
Zeitalters der Reformation: wie sollte es auch anders sein? Aber dass
wir uns einige Mittel nicht mehr erlauben, um mit ihnen unsrer Meinung
zum Siege zu verhelfen, das hebt uns gegen jene Zeit ab und beweist,
dass wir einer h�hern Cultur angeh�ren. Wer jetzt noch, in der
Art der Reformations-Menschen, Meinungen mit Verd�chtigungen, mit
Wuthausbr�chen bek�mpft und niederwirft, verr�th deutlich, dass er
seine Gegner verbrannt haben w�rde, falls er in anderen Zeiten gelebt
h�tte, und dass er zu allen Mitteln der Inquisition seine Zuflucht
genommen haben w�rde, wenn er als Gegner der Reformation gelebt h�tte.
Diese Inquisition war damals vern�nftig, denn sie bedeutete nichts
Anderes, als den allgemeinen Belagerungszustand, welcher �ber den
ganzen Bereich der Kirche verh�ngt werden musste, und der, wie jeder
Belagerungszustand, zu den �ussersten Mitteln berechtigte, unter der
Voraussetzung n�mlich (welche wir jetzt nicht mehr mit jenen Menschen
theilen), dass man die Wahrheit, in der Kirche, habe, und um jeden
Preis mit jedem Opfer zum Heile der Menschheit bewahren m�sse. Jetzt
aber giebt man Niemandem so leicht mehr zu, dass er die Wahrheit
habe: die strengen Methoden der Forschung haben genug Misstrauen und
Vorsicht verbreitet, so dass Jeder, welcher gewaltth�tig in Wort
und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind unserer jetzigen Cultur,
mindestens als ein zur�ckgebliebener empfunden wird. In der That:
das Pathos, dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im
Verh�ltniss zu jenem freilich milderen und klanglosen Pathos des
Wahrheit-Suchens, welches nicht m�de wird, umzulernen und neu zu
pr�fen.


634.

Uebrigens ist das methodische Suchen der Wahrheit selber das Resultat
jener Zeiten, in denen die Ueberzeugungen mit einander in Fehde lagen.
Wenn nicht dem Einzelnen an seiner "Wahrheit", das heisst an seinem
Rechtbehalten gelegen h�tte, so gebe es �berhaupt keine Methode der
Forschung; so aber, bei dem ewigen Kampfe der Anspr�che verschiedener
Einzelner auf unbedingte Wahrheit, gieng man Schritt vor Schritt
weiter, um unumst�ssliche Prinzipien zu finden, nach denen das Recht
der Anspr�che gepr�ft und der Streit geschlichtet werden k�nne.
Zuerst entschied man nach Autorit�ten, sp�ter, kritisirte man sich
gegenseitig die Wege und Mittel, mit denen die angebliche Wahrheit
gefunden worden war; dazwischen gab es eine Periode, wo man die
Consequenzen des gegnerischen Satzes zog und vielleicht sie als
sch�dlich und ungl�cklich machend erfand: woraus dann sich f�r
Jedermanns Urtheil ergeben sollte, dass die Ueberzeugung des Gegners
einen Irrthum enthalte. Der pers�nliche Kampf der Denker hat
schliesslich die Methoden so versch�rft, dass wirklich Wahrheiten
entdeckt werden konnten und dass die Irrg�nge fr�herer Methoden vor
Jedermanns Blicken blosgelegt sind.


635.

Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso
wichtiges Ergebniss der Forschung als irgend ein sonstiges Resultat:
denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche
Geist, und alle Resultate der Wissenschaft k�nnten, wenn jene Methoden
verloren giengen, ein erneutes Ueberhandnehmen des Aberglaubens und
des Unsinns nicht verhindern. Es m�gen geistreiche Leute von den
Ergebnissen der Wissenschaft lernen so viel sie wollen: man merkt es
immer noch ihrem Gespr�che und namentlich den Hypothesen in demselben
an, dass ihnen der wissenschaftliche Geist fehlt: sie haben nicht
jenes instinctive Misstrauen gegen die Abwege des Denkens, welches in
der Seele jedes wissenschaftlichen Menschen in Folge langer Uebung
seine Wurzeln eingeschlagen hat. Ihnen gen�gt es, �ber eine Sache
�berhaupt irgendeine Hypothese zu finden, dann sind sie Feuer und
Flamme f�r dieselbe und meinen, damit sei es gethan. Eine Meinung
haben heisst bei ihnen schon: daf�r sich fanatisiren und sie als
Ueberzeugung f�rderhin sich an's Herz legen. Sie erhitzen sich bei
einer unerkl�rten Sache f�r den ersten Einfall ihres Kopfes, der einer
Erkl�rung derselben �hnlich sieht: woraus sich, namentlich auf dem
Gebiete der Politik, fortw�hrend die schlimmsten Folgen ergeben. -
Desshalb sollte jetzt Jedermann mindestens eine Wissenschaft von Grund
aus kennen gelernt haben: dann weiss er doch, was Methode heisst und
wie n�thig die �usserste Besonnenheit ist. Namentlich ist den Frauen
dieser Rath zu geben; als welche jetzt rettungslos die Opfer aller
Hypothesen sind, zumal wenn diese den Eindruck des Geistreichen,
Hinreissenden, Belebenden, Kr�ftigenden machen. Ja bei genauerem
Zusehen bemerkt man, dass der allergr�sste Theil aller Gebildeten noch
jetzt von einem Denker Ueberzeugungen und Nichts als Ueberzeugungen
begehrt, und dass allein eine geringe Minderheit Gewissheit will. Jene
wollen stark fortgerissen werden, um dadurch selber einen Kraftzuwachs
zu erlangen; diese Wenigen haben jenes sachliche Interesse, welches
von pers�nlichen Vortheilen, auch von dem des erw�hnten Kraftzuwachses
absieht. Auf jene bei Weitem �berwiegende Classe wird �berall dort
gerechnet, wo der Denker sich als Genie benimmt und bezeichnet,
also wie ein h�heres Wesen drein schaut, welchem Autorit�t zukommt.
Insofern das Genie jener Art die Glut der Ueberzeugungen unterh�lt
und Misstrauen gegen den vorsichtigen und bescheidenen Sinn der
Wissenschaft weckt, ist es ein Feind der Wahrheit und wenn es sich
auch noch so sehr als deren Freier glauben sollte.


636.

Es giebt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialit�t, die
der Gerechtigkeit; und ich kann mich durchaus nicht entschliessen,
dieselbe niedriger zu sch�tzen, als irgend eine philosophische,
politische oder k�nstlerische Genialit�t. Ihre Art ist es, mit
herzlichem Unwillen Allem aus dem Wege zu gehen, was das Urtheil �ber
die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine Gegnerin der
Ueberzeugungen, denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes,
Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben - und dazu muss sie es rein
erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht
um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer
Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen "Ueberzeugung" (wie M�nner
sie nennen: - bei Weibern heisst sie "Glaube") geben was der
Ueberzeugung ist - um der Wahrheit willen.


637.

Aus den Leidenschaften wachsen die Meinungen; die Tr�gheit des Geistes
l�sst diese zu Ueberzeugungen erstarren. - Wer sich aber freien,
rastlos lebendigen Geistes f�hlt, kann durch best�ndigen Wechsel
diese Erstarrung verhindern; und ist er gar insgesammt ein denkender
Schneeballen, so wird er �berhaupt nicht Meinungen, sondern nur
Gewissheiten und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten in seinem
Kopfe haben. - Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom
Feuer durchgl�ht, bald vom Geiste durchk�ltet sind, wollen vor der
Gerechtigkeit knieen, als der einzigen G�ttin, welche wir �ber uns
anerkennen. Das Feuer in uns macht uns f�r gew�hnlich ungerecht und,
im Sinne jener G�ttin, unrein; nie d�rfen wir in diesem Zustande ihre
Hand fassen, nie liegt dann das ernste L�cheln ihres Wohlgefallens auf
uns. Wir verehren sie als die verh�llte Isis unsers Lebens; besch�mt
bringen wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn das Feuer
uns brennt und verzehren will. Der Geist ist es, der uns rettet, dass
wir nicht ganz vergl�hen und verkohlen; er reisst uns hier und da fort
von dem Opferaltare der Gerechtigkeit oder h�llt uns in ein Gespinnst
aus Asbest. Vom Feuer erl�st, schreiten wir dann, durch den Geist
getrieben von Meinung zu Meinung, durch den Wechsel der Parteien, als
edle Verr�ther aller Dinge, die �berhaupt verrathen werden k�nnen -
und dennoch ohne ein Gef�hl von Schuld.


638.

Der Wanderer. - Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft
gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders f�hlen, denn als
Wanderer, - wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele:
denn dieses giebt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen
daf�r offen haben, was Alles in der Welt eigentlich vorgeht; desshalb
darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anh�ngen; es muss
in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel
und der Verg�nglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen
b�se N�chte kommen, wo er m�de ist und das Thor der Stadt, welche ihm
Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch dazu,
wie im Orient, die W�ste bis an das Thor reicht, dass die Raubthiere
bald ferner bald n�her her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt,
dass R�uber ihm seine Zugthiere wegf�hren. Dann sinkt f�r ihn wohl die
schreckliche Nacht wie eine zweite W�ste auf die W�ste, und sein Herz
wird des Wanderns m�de. Geht ihm dann die Morgensonne auf, gl�hend wie
eine Gottheit des Zornes, �ffnet sich die Stadt, so sieht er in den
Gesichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr W�ste, Schmutz,
Trug, Unsicherheit, als vor den Thoren - und der Tag ist fast
schlimmer, als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen;
aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden
und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschw�rme im Nebel
des Gebirges nahe an sich vor�bertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn
er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter B�umen sich
ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und
helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien
Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche,
gleich ihm, in ihrer bald fr�hlichen bald nachdenklichen Weise,
Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Fr�he,
sinnen sie dar�ber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zw�lften
Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verkl�rt-heiteres
Gesicht haben k�nne: - sie suchen die Philosophie des Vormittages.



Unter Freunden.

Ein Nachspiel.

1.

    Sch�n ist's, mit einander schweigen,
    Sch�ner, mit einander lachen, -
    Unter seidenem Himmels-Tuche
    Hingelehnt zu Moos und Buche
    Lieblich laut mit Freunden lachen
    Und sich weisse Z�hne zeigen.
    Macht' ich's gut, so woll'n wir schweigen;
    Macht' ich's schlimm -, so woll'n wir lachen
    Und es immer schlimmer machen, Schlimmer machen,
    schlimmer lachen, Bis wir in die Grube steigen.
    Freunde! ja! So soll's geschehn? -
    Amen! Und auf Wiedersehn!


2.

    Kein Entschuld'gen! Kein Verzeihen!
    G�nnt ihr Frohen, Herzens-Freien
    Diesem unvern�nft'gen Buche
    Ohr und Herz und Unterkunft!
    Glaubt mir, Freunde, nicht zum Fluche
    Ward mir meine Unvernunft!
    Was ich finde, was ich suche -
    Stand das je in einem Buche?
    Ehrt in mir die Narren-Zunft!
    Lernt aus diesem Narrenbuche,
    Wie Vernunft kommt - "zur Vernunft"!
    Also, Freunde, soll's geschehn? -
    Amen! Und auf Wiedersehn!




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projected audience is one hundred million readers.  If the value
per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2
million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text
files per month:  1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+
We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002
If they reach just 1-2% of the world's population then the total
will reach over half a trillion eBooks given away by year's end.

The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks!
This is ten thousand titles each to one hundred million readers,
which is only about 4% of the present number of computer users.

Here is the briefest record of our progress (* means estimated):

eBooks Year Month

    1  1971 July
   10  1991 January
  100  1994 January
 1000  1997 August
 1500  1998 October
 2000  1999 December
 2500  2000 December
 3000  2001 November
 4000  2001 October/November
 6000  2002 December*
 9000  2003 November*
10000  2004 January*


The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created
to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium.

We need your donations more than ever!

As of February, 2002, contributions are being solicited from people
and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut,
Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois,
Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts,
Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New
Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio,
Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South
Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West
Virginia, Wisconsin, and Wyoming.

We have filed in all 50 states now, but these are the only ones
that have responded.

As the requirements for other states are met, additions to this list
will be made and fund raising will begin in the additional states.
Please feel free to ask to check the status of your state.

In answer to various questions we have received on this:

We are constantly working on finishing the paperwork to legally
request donations in all 50 states.  If your state is not listed and
you would like to know if we have added it since the list you have,
just ask.

While we cannot solicit donations from people in states where we are
not yet registered, we know of no prohibition against accepting
donations from donors in these states who approach us with an offer to
donate.

International donations are accepted, but we don't know ANYTHING about
how to make them tax-deductible, or even if they CAN be made
deductible, and don't have the staff to handle it even if there are
ways.

Donations by check or money order may be sent to:

Project Gutenberg Literary Archive Foundation
PMB 113
1739 University Ave.
Oxford, MS 38655-4109

Contact us if you want to arrange for a wire transfer or payment
method other than by check or money order.

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been approved by
the US Internal Revenue Service as a 501(c)(3) organization with EIN
[Employee Identification Number] 64-622154.  Donations are
tax-deductible to the maximum extent permitted by law.  As fund-raising
requirements for other states are met, additions to this list will be
made and fund-raising will begin in the additional states.

We need your donations more than ever!

You can get up to date donation information online at:

http://www.gutenberg.net/donation.html


***

If you can't reach Project Gutenberg,
you can always email directly to:

Michael S. Hart <hart@pobox.com>

Prof. Hart will answer or forward your message.

We would prefer to send you information by email.


**The Legal Small Print**


(Three Pages)

***START**THE SMALL PRINT!**FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS**START***
Why is this "Small Print!" statement here? You know: lawyers.
They tell us you might sue us if there is something wrong with
your copy of this eBook, even if you got it for free from
someone other than us, and even if what's wrong is not our
fault. So, among other things, this "Small Print!" statement
disclaims most of our liability to you. It also tells you how
you may distribute copies of this eBook if you want to.

*BEFORE!* YOU USE OR READ THIS EBOOK
By using or reading any part of this PROJECT GUTENBERG-tm
eBook, you indicate that you understand, agree to and accept
this "Small Print!" statement. If you do not, you can receive
a refund of the money (if any) you paid for this eBook by
sending a request within 30 days of receiving it to the person
you got it from. If you received this eBook on a physical
medium (such as a disk), you must return it with your request.

ABOUT PROJECT GUTENBERG-TM EBOOKS
This PROJECT GUTENBERG-tm eBook, like most PROJECT GUTENBERG-tm eBooks,
is a "public domain" work distributed by Professor Michael S. Hart
through the Project Gutenberg Association (the "Project").
Among other things, this means that no one owns a United States copyright
on or for this work, so the Project (and you!) can copy and
distribute it in the United States without permission and
without paying copyright royalties. Special rules, set forth
below, apply if you wish to copy and distribute this eBook
under the "PROJECT GUTENBERG" trademark.

Please do not use the "PROJECT GUTENBERG" trademark to market
any commercial products without permission.

To create these eBooks, the Project expends considerable
efforts to identify, transcribe and proofread public domain
works. Despite these efforts, the Project's eBooks and any
medium they may be on may contain "Defects". Among other
things, Defects may take the form of incomplete, inaccurate or
corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged
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codes that damage or cannot be read by your equipment.

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UNDER STRICT LIABILITY, OR FOR BREACH OF WARRANTY OR CONTRACT,
INCLUDING BUT NOT LIMITED TO INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE
OR INCIDENTAL DAMAGES, EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE
POSSIBILITY OF SUCH DAMAGES.

If you discover a Defect in this eBook within 90 days of
receiving it, you can receive a refund of the money (if any)
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time to the person you received it from. If you received it
on a physical medium, you must return it with your note, and
such person may choose to alternatively give you a replacement
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receive it electronically.

THIS EBOOK IS OTHERWISE PROVIDED TO YOU "AS-IS". NO OTHER
WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, ARE MADE TO YOU AS
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the exclusion or limitation of consequential damages, so the
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texts harmless, from all liability, cost and expense, including
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disk, book or any other medium if you either delete this
"Small Print!" and all other references to Project Gutenberg,
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[1]  Only give exact copies of it.  Among other things, this
     requires that you do not remove, alter or modify the
     eBook or this "small print!" statement.  You may however,
     if you wish, distribute this eBook in machine readable
     binary, compressed, mark-up, or proprietary form,
     including any form resulting from conversion by word
     processing or hypertext software, but only so long as
     *EITHER*:

     [*]  The eBook, when displayed, is clearly readable, and
          does *not* contain characters other than those
          intended by the author of the work, although tilde
          (~), asterisk (*) and underline (_) characters may
          be used to convey punctuation intended by the
          author, and additional characters may be used to
          indicate hypertext links; OR

     [*]  The eBook may be readily converted by the reader at
          no expense into plain ASCII, EBCDIC or equivalent
          form by the program that displays the eBook (as is
          the case, for instance, with most word processors);
          OR

     [*]  You provide, or agree to also provide on request at
          no additional cost, fee or expense, a copy of the
          eBook in its original plain ASCII form (or in EBCDIC
          or other equivalent proprietary form).

[2]  Honor the eBook refund and replacement provisions of this
     "Small Print!" statement.

[3]  Pay a trademark license fee to the Foundation of 20% of the
     gross profits you derive calculated using the method you
     already use to calculate your applicable taxes.  If you
     don't derive profits, no royalty is due.  Royalties are
     payable to "Project Gutenberg Literary Archive Foundation"
     the 60 days following each date you prepare (or were
     legally required to prepare) your annual (or equivalent
     periodic) tax return.  Please contact us beforehand to
     let us know your plans and to work out the details.

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public domain and licensed works that can be freely distributed
in machine readable form.

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If you are interested in contributing scanning equipment or
software or other items, please contact Michael Hart at:
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when distributed free of all fees.  Copyright (C) 2001, 2002 by
Michael S. Hart.  Project Gutenberg is a TradeMark and may not be
used in any sales of Project Gutenberg eBooks or other materials be
they hardware or software or any other related product without
express permission.]

*END THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS*Ver.02/11/02*END*